19.11.2022: Zwanzig Jahre nach dem ersten Europäischen Sozialforum in Florenz trafen sich Vertreter:innen von 155 italienischen und europäischen Organisationen und Teilnehmer:innen aus dem globalen Süden wieder in Florenz ++ Organisationskomitee: "Die Überwindung der starken geografischen und thematischen Zersplitterung, die für die Mobilisierungen der letzten Jahre kennzeichnend war, ist heute notwendiger denn je" ++ die Ablehnung von Kriegen eint wieder europäische Bewegungen ++ Schlussfolgerungen des Organisationskomitees: "Mit 2022Firenze beginnt eine neue Phase der Bewegungen."
Vor zwanzig Jahren, vom 6. bis zum 10. November 2002, fand in Florenz das erste Europäische Sozialforum unter dem Motto "Ein anderes Europa ist möglich" statt.
Ein Jahr nach der großen staatlichen Gewalt in Genua anlässlich der Proteste gegen das G8-Treffen in Genua, bei denen Carlo Giuliani von einem Polizisten erschossen und hunderte Personen durch Spezialeinheiten der Carabinieri verletzt, gefoltert und misshandelt wurden, trafen sich 50.000 Teilnehmer:innen zum größtes europäischen Treffen der sozialen Bewegungen in der Hauptstadt der Toskana, wo sie von einer offenen, unterstützenden, engagierten und mutigen Stadt empfangen wurden.
Die Abschlussdemonstration, mit 500.000 (Poilzeiangaben) und 1.000.000 (Schätzung der Organisatoren) Teilnehmer:innen, stand im Zeichen des heraufziehenden Krieges der USA gegen den Irak.
Firenze2022
In einem für die europäische Geschichte tragischen Moment haben sich 20 Jahre später - vom 10. bis 13. November - wieder Organisationen und soziale Netzwerke aus ganz Europa in Florenz getroffen.
Heute geht es nicht darum, die Vergangenheit zu feiern, sondern eine Erinnerung wachzuhalten, die uns helfen kann, in die Zukunft zu gehen.
Es sollte ein Schritt vorwärts sein im Prozess des Wiederaufbaus eines Netzwerks der Kommunikation, der Zusammenarbeit und der möglichen Konvergenz, das in der Lage ist, die dramatischen Zeiten zu bewältigen, in denen wir leben: Krieg, ökologische und klimatische Krise, exponentielle Zunahme der sozialen und geschlechtsspezifischen Ungleichheiten, demokratische Krise.
"Die Überwindung der starken geografischen und thematischen Zersplitterung, die für die Mobilisierungen der letzten Jahre kennzeichnend war, ist heute notwendiger denn je", erklärte das Vorbereitungskomitee, "und der Vorbereitungsprozess, der uns zur Veranstaltung 'Florenz 2022' führen wird, kann ein wesentlicher Teil dieser Wiedervereinigung werden."
Ablehnung von Kriegen eint wieder europäische Bewegungen
Die Ablehnung von Kriegen, vom russisch-ukrainischen bis hin zu den "vergessenen" Konflikten auf dem afrikanischen Kontinent, ist der rote Faden, der die sozialen Bewegungen des Kontinents, die sich in Florenz versammelt haben, erneut verbindet, und zwar nicht so sehr, um an die Erfahrungen des ersten Sozialforums vor zwanzig Jahren zu erinnern, sondern vielmehr, um einige Hauptthemen hervorzuheben, zu denen neue Informations- und Protestkampagnen gestartet werden können. "Die großen Herausforderungen von heute sind neben den Kriegen der klimatische und ökologische Zusammenbruch des Planeten, die exponentielle Zunahme der Ungleichheiten und die faktische Entleerung der Demokratie durch ein immer weiter um sich greifendes a-demokratisches Machtsystem", fasste Tommaso Fattori, Gründungsmitglied des Italienischen Forums der Bewegung für das Recht auf Wasser und einer der Organisatoren des Europäischen Sozialforums, zusammen,
Die ersten beiden Tage des Forums waren selbstorganisierten und selbstfinanzierten Aktivitäten gewidmet, auch mit dem Ziel, so viele Aktivist:innen wie möglich aus ganz Europa einzubeziehen und sie zu ermutigen, nach Florenz zu kommen. 42 thematische Veranstaltungen wurden von den verschiedenen europäischen Netzwerken und Verbänden zu den unterschiedlichsten Themen organisiert: Energiekrise und Lebenshaltungskosten, Ernährungssouveränität, Arbeit, ökologischer Wandel, Frieden, Frauen- und Geschlechterrechte, Feminismus, Wasser und Gemeingüter, Gesundheit und Gesundheitsfürsorge sowie das Recht auf Wohnen.
Am 12. und 13. November fand eine große europäische Versammlung zu drei großen Themen statt:
1) Wohin entwickelt sich Europa und welche Rolle spielt es in einer Welt im Wandel?
2) Von Ressentiments und Einsamkeit zu kollektiver Hoffnung: Wie lässt sich der Konsens der Rechten in der Gesellschaft überwinden?
3) Es reicht nicht aus, im Recht zu sein: Wie kann man in einer Zeit der entleerten Demokratie wirksam werden?
Die Teilnehmer:innen der Versammlung diskutierten, wohin sich Europa entwickelt und welche Rolle Europa in dieser turbulenten Phase spielt, in der ein Krieg auf dem europäischen Kontinent die Gefahr einer Eskalation bis hin zum Atomkrieg in sich trägt. Die Aktivist:innen prangerten an, dass nationale und supranationale Institutionen die Aufrüstung "bis zum Endsieg" vorantreiben, anstatt den Forderungen breiter Bevölkerungsschichten nach Aufnahme echter Verhandlungen zur Beendigung der täglichen Bombardierungen mit Toten und Verletzten und der Verwüstung ganzer Landstriche Gehör zu schenken.
"In den wichtigsten europäischen Städten demonstrieren, wie wir es in Rom getan haben"
"Das Europäische Parlament", erinnert Gianfranco Pagliarulo, Präsident der anti-faschistischen Organisation Associazione Nazionale Partigiani d'Italia, in seiner Rede, "hat grünes Licht für eine Entschließung gegeben, die genau von einem 'Endsieg' spricht und sich der Entscheidung der EU-Kommission beugt, weitere Rüstungslieferungen massiv zu finanzieren. Die Worte 'Frieden' und 'Verhandlungen' kommen in der Entschließung nicht vor, wodurch der Vertrag von Lissabon und seine Grundsätze, die damals feierlich verkündet wurden, faktisch zunichte gemacht werden."
Die Proteste von Millionen von Menschen auf der ganzen Welt gegen den Irak-Krieg, die die New York Times zu der Feststellung veranlassten, dass eine neue Supermacht entstanden sei, haben die damaligen Machthaber nicht im Geringsten bewegt. Eine tiefe Wunde, wie das Publikum feststellte, die sich auch negativ auf die weitere Entwicklung der sozialen Bewegungen auswirkte. Und die heute die gleichen Fragen aufwirft wie damals: "Warum sind wir nicht in der Lage, die politische Agenda der Mitgliedstaaten und der EU zu beeinflussen?" - fragt sich Fattori - "warum sind wir nicht in der Lage, diese Masse von Menschen anzusprechen, zu erreichen, die wie wir unter den Krisen unserer Zeit leiden, aber in einer wütenden Einsamkeit gefangen bleiben, einem Nährboden für die Rechte?"
Genau auf diese Fragen versuchte die Versammlung zu antworten, indem sie zu neuen Mobilisierungen zurückkehrt: "Nach der großen italienischen Demonstration am 5. November in Rom", so Giulio Marcon im Namen des Netzwerks Sbilanciamoci, "muss es unser Ziel, unser Traum sein, ein neues Datum festzulegen, um in den wichtigsten europäischen Städten zu demonstrieren, wie wir es in Rom getan haben".
Schlusserklärung des Organisationskomitees:
"Mit 2022Firenze beginnt eine neue Phase der Bewegungen."
2022Firenze schließt mit der Eröffnung einer neuen Saison der Konvergenz zwischen den sozialen Akteuren und Bewegungen des Kontinents: "Nach zu vielen Jahren thematischer und geografischer Zersplitterung, die jeden geschwächt hat, der für soziale und ökologische Gerechtigkeit kämpft, egal in welchem Land und auf welchem Breitengrad, beginnt ein gemeinsamer Weg", so das Komitee.
Der Weg sieht die Schaffung eines stabilen Beziehungsgeflechts zwischen allen Organisationen und Bewegungen vor, mit regelmäßigen Treffen und zwei Zielen: "Das erste besteht darin, in den kommenden Monaten alle kleinen und großen Subjekte einzubeziehen, die bereit sind, sich zu vereinen und zu koordinieren, um gemeinsam die großen Probleme unserer Zeit anzugehen. Das zweite Ziel ist der Aufbau globaler zivilgesellschaftlicher Mobilisierungen, beginnend mit einer Alternativgipfel bei der nächsten UN-Klimakonferenz, die Bewegungen aller Generationen zusammenbringt."
An dem kontinentalen Treffen, das anlässlich des 20-jährigen Bestehens des Europäischen Sozialforums in Florenz stattfand und in 45 Treffen unterteilt war, nahmen insgesamt über 700 Delegierte teil, die 155 italienische und europäische Organisationen vertraten. Nicht weniger als 25 Länder waren anwesend, von Dänemark bis Griechenland, von Portugal bis Osteuropa, mit Stimmen aus dem Iran, Irak, Libyen, Brasilien und einer Online-Verbindung mit der Asambleas de la Tierra por la Justicia Climática in Lateinamerika und den Aktivist:innen, die anlässlich der COP27 in Scharm el Scheikh in Ägypten anwesend waren.
In der Plenarversammlung, die von mehr als 2.000 Personen online verfolgt wurde, ergriffen mehr als 100 Vertreter:innen von Organisationen und Bewegungen aus allen Generationen und geografischen Gebieten das Wort. Sie repräsentierten Fridays For Future und die Frauenbewegung, die Friedensbewegung und die antirassistische Bewegung, die Bauernbewegungen und die Gemeingüter sowie Organisationen aus den Bereichen Soziales, Kultur, internationale Zusammenarbeit, ethisches Finanzwesen, Sozial- und Solidarwirtschaft und verschiedene Gewerkschaften und Organisationen der europäischen Linken. Darunter die Organisatoren der großen Friedensdemonstration am 5. November in Rom und die Organisatoren von Arbeiter:innen- und Umweltprotesten, weltbekannte Intellektuelle wie der Nobelpreisträger für Physik Giorgio Parisi und viele Aktivist:innen, die heute an vorderster Front stehen, von Nordeuropa mit der Polin Marta Lempart, die für das Recht auf Abtreibung und die Lgbtqi+-Gemeinschaft kämpft, bis in den Süden mit der Libyerin Souad Wheidi, die die in libyschen Konzentrationslagern gefolterten Migranten verteidigt.
"Mit 2022Firenze beginnt eine neue Phase der Bewegungen. Es liegt an jedem einzelnen von uns, sie fruchtbar zu machen. Der Planet bittet uns darum, die Würde der Frauen und Männer, die ihn bewohnen, bittet uns darum", so die Schlussfolgerung des Komitees.
(siehe https://2022firenze.eu/2022firenzechiude/)
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