23.6.2015: Auf ihrem bisherigen Höhepunkt am 21. Juni hinterließ die Kunstintervention für eine andere Flüchtlingspolitik „Die Toten kommen“ im dafür verantwortlichen Zentrum Europas ein symbolisches Bestattungsfeld zwischen dem Bundeskanzleramt und Bundestags-Parlamentsgebäude. Das initiierende „Zentrum für politische Schönheit“ (ZPS) teilte online mit, für den „Marsch der Entschlossenen“ zu ihrem Friedhofsprojekt „Den unbekannten Einwanderern“ hätten sich auf Facebook mehr als 8000 Menschen angekündigt.
Seriöse Beobachter stellten fest, zum Zeitpunkt, da die Spitze des langen Zugs für ein Ende des Sterbens im Mittelmeer, für das Ende der Anti-Flüchtlingspolitik der EU das genehmigte Ziel in Nähe des Kanzleramts erreichte, hätten die Menschen am Schluß des auseinandergezogenen Marschs durch die Innenstadt gerade erst Unter den Linden loslaufen können. Die in der Presse veröffentlichte Polizeiangabe von 5000 Beteiligten war wegen der unübersichtlichen Baustellenverhältnisse am Sammlungspunkt schwer zu überprüfen. In offensichtlichem Widerspruch dazu stehen jedenfalls Bemerkungen von Führern der zunächst passiven Polizeihundertschaften nach dem Fallen von benachbarten Absperrzäunen, mit dem massenhaften Hereinströmen auf die Wiese vor dem ehemaligen Reichstagsgebäude sei direktes Eingreifen unmöglich.
Gleich zu Beginn dieses selbständigen Akts zivilen Ungehorsams von jungen und älteren Menschen, Familienvätern mit Kindern, deutschen und nichtdeutschen Aktivisten aus Flüchtlingshilfe und Antifa hatten die Organisatoren ihre Veranstaltung vor einer „Informationstafel Hier baut die EU“ für beendet erklärt. „Sie wollten nur nach Europa gelangen – in ein neues Leben“, heißt es darauf bezogen auf die Tatsache, dass seit dem Jahr 2000 insgesamt mehr als 25 000 Flüchtlinge bei der Überquerung des Mittelmeers gestorben sind. Das sind jedes Jahr mehr als 1700 Menschen oder fünf am Tag. „In Italien und Griechenland stehen aufgrund der Vielzahl der Opfer des Europäischen Abwehrkrieges keine ausreichenden Bestattungsplätze zur Verfügung. Direkt vor den politischen Entscheidungsträgern ist aber noch Platz. Deshalb werden die Opfer der Grenzabschottung jetzt nach einer festen Quote auf alle verantwortlichen Mitgliedstaaten verteilt.“
Menschenwürde eingefordert
Für beteiligungswillige Bürger an speziellen Bustouren hatten die ZPS-Initiatoren schon im vergangenen Herbst symbolisch die neuen EU-Stacheldraht-Grenzen aufgebrochen, die in Bulgarien, Griechenland oder Spanien schon Abertausende Flüchtlinge das Leben gekostet haben. Wir sind Künstler, verstehen die Sache als konservativen Aufbruch mit humanistischen Werten, um die europäische und weltweite Völkerverständigung voranzubringen, hieß zum öffentlichkeitswirksamen Konzept einer würdigen Bestattung für Menschen, die an dieser militärisch abgeschirmten Politik von FRONTEX und NATO elend zugrunde gehen.
„Über Jahrzehnte hinweg wurden alle Opfer der Grenzabschottung unbekannt begraben, keine DNA-Proben, keine Hoffnung für Hinterbliebene, je Sicherheit zu erhalten, was mit ihren Angehörigen passiert ist. In Italien werden die Heimatländer und Angehörigen weder ermittelt, noch verständigt. Zwar wurde ein Sonderbeauftragter für verschwundene Personen vom Innenministerium installiert, allerdings kümmert der sich hauptsächlich um italienische Vermisste. Auf Sizilien werden Leichen in Müllsäcke gepackt und in eine Kühlkammer im Krankenhaus von Augusta übereinander geworfen. Gegen jede Form des Anstands. Es sind Bilder, die Sie nie sehen sollten. Die schwarze Lache am Boden ist das ausgetretene Blut von 17 Menschen.“
„Blut, Blut, Blut an euren Händen“
Diesmal stellte ZPS drei selbstgezimmerte Holzsärge zur Verfügung, die eigens von einem Gerichtsmediziner als „leer“, also clean, eingestuft wurden, und statt des nicht genehmigten großen Baggers einen winzig kleinen. Die Grabungswilligen fanden eigene improvisatorische Mittel, um den grünen „Platz der Republik“ binnen anderthalb Stunden in ein Feld von mehr als 100 symbolisch markierten Gräbern mit Blumen und Lichtern zu verwandeln. Dabei ist es der dann doch noch provozierenden und zuletzt brutal eingreifenden Polizei zu verdanken, dass die Aktion der Massen in direkt politischem Protest mündete. „Blut, Blut, Blut an euren Händen“, Refugees welcome, Stop Frontex wurden skandiert. Das erinnerte an die Auseinandersetzungen um den langen Hungerstreik der Flüchtlinge auf dem Platz vor dem Brandenburger Tor oder um die Räumung der Asylunterkunft Gerhart-Hauptmann-Schule.
Einzelne Polizisten aus den vier Hundertschaften zum „Schutz der Wiese“ zertrampelten Markierungen würdigen Gedenkens. Kerzenanzünden wurde nicht nur untersagt, sondern demonstrativ mit dem Zerstückeln des corpus delictus geahndet. Die Räumungsbilanz gegen Sitz- und Liegeblockaden: 90 Festnahmen insgesamt, in einzelnen Fällen mit erheblichen Verletzungen. Gründe: Verstoß gegen Auflagen, Landfriedensbruch, Hausfriedensbruch, Widerstand, Sachbeschädigung. Rund 150 eingeleitete Ermittlungsverfahren. Platzverweise gegen Journalisten, die womöglich knochenbrechendes Verfrachten von Protestierenden in Polizeiwannen dokumentierten und zur Fortsetzung ihrer Arbeit am Wiederbetreten des Geländes gehindert wurden.
Mittlerweile ist das Gräberfeld umzäunt und vor Zugriffen abgeschirmt. „Jetzt im wahrsten Sinne des Wortes wieder Gras über die symbolischen Gräber wachsen zu lassen, ist angesichts des andauernden Massensterbens an Europas Grenzen die falsche Reaktion“, erklärte Innenpolitikerin Ulla Jelpke aus der Linksfraktion im Bundestag. „Dass sich einige Politiker und Behördenvertreter offenbar mehr um das Wohl des Rasens vor dem Reichstag sorgen als um das Leben von Flüchtlingen, ist ebenso bezeichnend wie erschütternd.“ Und: „Ein Militäreinsatz gegen Schleuser im Mittelmeer wird keine Menschenleben retten, sondern die Notlage der Flüchtlinge weiter verschärfen.“
Text und Fotos: Hilmar Franz, Julia Franz
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