25.08.2010: Unter starkem Polizeischutz haben heute Mittag die Abbrucharbeiten am denkmalgeschützten Nordflügel des Stuttgarter Hauptbahnhofs begonnen. Eine Beweissicherungs- und Festnahmeeinheit (BFE) sicherte den Bauzaun weiträumig ab und drängte die zahlreichen Demonstranten zurück. Es kam bereits zu ersten Blockaden der umliegenden Strassen. Der Abrissbagger war bereits vor einer Woche auf das Gelände gebracht worden. Dabei ging die Polizei mit brutaler Gewalt gegen anwesende Blockierer vor. Ein 19-jähriger Stuttgart-21-Gegner, der bei der Räumung einer Sitzblockade von Polizeibeamten am Kopf verletzt wurde, hat deshalb Strafanzeige gestellt.
Für den Abend hatten die „Parkschützer“ zur Großdemo am Bahnhof aufgerufen entsprechend ihrer Planung für den Tag X. Wieder kamen über 6000. Einige Demonstranten konnten auf dem Seitenflügel des Bahnhofs ein Transparent entrollen. Im Bahnhof wurden zeitweise die Gleise besetzt, der TGV in Richtung Paris wurde an der Ausfahrt gehindert.
Zur gleichen Zeit wollte Oberbürgermeister Schuster vor geladenen Gästen das Stuttgarter Weindorf eröffnen. Die Veranstalter ließen unter Polizeischutz die Tore schließen, Schuster musste das Weindorf über den Hintereingang betreten, seine Eröffnungsrede wurde durch der „Schwabenstreich“ von über 300 Demonstranten übertönt.
Mit dem Beginn der Abrissarbeiten hat nun der Wahlkampf in Baden-Württemberg voll begonnen. Ministerpräsident Mappus will nach dem Rücktritt von Roland Koch in Hessen die Galionsfigur der Rechtskonservativen in der CDU werden und sich deshalb als Hardliner profilieren. Die personifizierte Arroganz der Macht, wie es auch Koch in Hessen bei den Auseinandersetzungen um die neue Startbahn des Frankfurter Flughafens vorexerziert hat.
Mappus sucht die Konfrontation und ist deshalb auch nicht auf das Verhandlungsangebot der Grünen eingegangen. Vor einer Woche noch hatte der Tübinger Oberbürgermeister Boris Palmer den Vorschlag eines Moratoriums gemacht, verbunden mit einer Friedenspflicht für die Gegner von Stuttgart 21. Auf der letzten Montagsdemo klang Palmer dann auch schon anders: „Es ist möglich, Stuttgart 21 zu stoppen, wenn der Protest nicht nachlässt“. Ein schneller Lernerfolg, auch Ergebnis der immer stärker werdenden Bewegung von unten.
Am Montag war es die Jugendoffensive gegen Stuttgart 21, die mit ihrer Aktion „So blutet die Jugend aus“ deutlich machte, dass die Milliarden für Stuttgart 21 woanders fehlen, so z.B. bei der Bildung. Jugendliche legten sich demonstrativ auf die Strasse, Politiker trampelten auf den am Boden liegenden (kunst)blutenden Jugendliche rum. Schon am Montagmorgen hatten sich Aktivisten von Robin Wood mit einem Protesttransparent vom Stuttgarter Rathaus abgeseilt.
Über Hintergründe der miserablen Arbeitsbedingungen auf der Stuttgart-21-Baustelle hat ver.di-Sekretär Bernd Wuttig auf der Montags-Kundgebung berichtet. Wuttig ist für die Beschäftigten im Sicherheits- und Bewachungsgewerbe zuständig. Der DGB hatte auf der Landesdelegiertenkonferenz vom Januar 2010 einen Beschluss verabschiedet, mit dem sich der DGB gegen „Stuttgart 21? festgelegt hat.
Die Befürworter von Stuttgart 21 versuchen mit dem Abriss Fakten zu schaffen und starten zeitgleich eine neue Kommunikationsoffensive. Jetzt schicken sie den ehemaligen Oberbürgermeister Manfred Rommel ins Rennen. Der Alt-OB, der von 1974 bis 1996 an der Spitze des Rathauses stand, hat über das Kommunikationsbüro der Projektträger einen Brief verbreiten lassen, in dem er für das Projekt wirbt.
Der Architekt Christoph Ingenhoven, der vor 13 Jahren den Architektenwettbewerb gewonnen hatte, hat am Dienstag einen geringfügig modifizierten Entwurf vorgelegt, Zugeständnisse an die kritischen Gutachten, die jahrelang verheimlicht wurden. Sein damaliger Kollege Frei Otto, der vor 13 Jahren zusammen mit Ingenhoven die für den neuen Tiefbahnhof charakteristischen Lichtaugen entworfen hatte, hat zwischenzeitlich kritisch hinterfragt, ob der Entwurf von damals noch heute seine Berechtigung hat. Sorge bereitet Frei Otto vor allem das Grundwasser, das beim Bahnhofsbau zum Problem werden könnte, der Gipskeuper sei als Baugrund unzuverlässig. Christoph Ingenhoven tat dies damit ab, dass sein älterer Kollegen für solchen Einschätzungen nicht qualifiziert genug sei.
In einem Bericht im neuen Stern fordert Frei erneut den sofortigen Stopp des umstrittenen Bahn-Projektes und warnt eindringlich vor den Gefahren für "Leib und Leben". Er beruft sich dabei auf ein ebenfalls geheim gehaltenes geologisches Gutachten für die Deutsche Bahn von 2003. Der Tübinger Geologe Dr. Jakob Sierich, ein Spezialist für Anhydrid- und gipsführende Erdschichten, hat für den Stern das Gutachten des Ingenieursbüros Smoltczyk & Partner analysiert. Sein Befund: "Bei Stuttgart 21 geht es nicht um mögliche Risse in Häusern, es geht um mögliche Krater, in denen Häuser verschwinden können. Es geht um Menschenleben."
Ingenhoven und Rommel betonen immer wieder den endgültigen und unumkehrbaren Abschluss des demokratischen Willensbildungsprozesses. Aber gerade Bahnchef Grube macht nun vor, wie scheinbar unumkehrbare Beschlüsse umzukehren sind. Die Atomindustrie hat den Ausstieg aus dem Austieg aus der Kernenergie erzwungen und in dem auch von Grube unterschriebene Brief an Bundeskanzlerin Merkel soll nun eine Brennelementesteuer verhindern werden. Es ist eben eine Frage der Macht.
Und deshalb heisst es in dem Lied, das bei der Lichterdkette im Schlosspark gesungen wurde:
Freunde, dieser Stadt zu Ehren
Holt den Kehrwisch aus dem Schrank!
„Unumkehrbar“ umzukehren
Und die Zukunft sagt uns Dank!
Keine Angst vor Zwang und Zahlen,
Wir sind das Volk, wir sind das Geld.
Seht, wie unsre Augen strahlen:
So verändern wir die Welt
Die nächste Großkundgebung in Stuttgart ist am Freitag
mami
{morfeo 95}