06.04.2018: Syrien ist zum Knotenpunkt des globalen Kriegs um die Herausbildung einer multipolaren Weltordnung geworden. In der türkischen Hauptstadt Ankara sind die Staatschefs Russlands, Irans und der Türkei bei einem Dreiergipfel zusammengekommen, um über die Situation in Syrien zu beraten. Alle drei Staaten sind Garantiemächte im sogenannten Astana-Prozess. Bei dem Dreiertreffen sollen die neue Verfassung für Syrien, die sogenannten Deeskalationszonen und die humanitäre Lage Thema gewesen sein. Vertreter*innen aus Syrien – weder von Regierungs- noch von oppositioneller Seite - waren zu dem Treffen nicht eingeladen.
Das Treffen am Mittwoch (4.3.) in Ankara fand vor dem Hintergrund sich festigender wirtschaftlicher und militärischer Beziehung zwischen Russland und der Türkei, wachsender Spannungen zwischen der Türke und den USA, der Besetzung eines Teils von Syrien durch die Türkei und verbündete Dschihadisten, des Abzugs der islamistischen Milizen aus Ost-Ghouta, des von US-Präsident Donald Trump angekündigten und vom Pentagon dementierten Rückzugs der USA aus Syrien, und der Ankündigung Frankreichs, Spezialeinheiten in Manbij zu stationieren, statt.
Atom, Raketen und Pipelines
Russlands Präsident Wladimir Putin traf einen Tag vor dem Dreiergipfel in Ankara ein. Nach Angaben des Kreml hat er sich mit dem türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdoğan über den weiteren Kurs in Syrien und das gemeinsame Vorgehen im Kampf gegen den Terrorismus beraten.
Ein weiteres Thema der Gespräche war das in der Türkei geplante Atomkraftwerk Akkuyu. Putin nahm per Videoschaltung an der Grundsteinlegung des Atomkraftwerks teil. Am Bau des mit 20 Mrd. USD geplanten Kraftwerkes ist der russische Konzern Rosatom beteiligt. Erdoğan sagte: "Wenn Akkuyu NPP 2023 in Betrieb geht, dann tritt die Türkei der Länderfamilie mit Atomkrafttechnik bei."
Nicht gesagt wird, ob die Türkei damit auch in den Club der atomwaffenbesitzenden Länder eintreten will. Auf jeden Fall eröffnet sich die Türkei mit dem AKW den Weg zu einer eigenen Atombombe – in einer Region, in der Israel bereits im Besitz der Atomwaffe ist und Saudi-Arabien angekündigt hat, eigene Atomwaffen zu entwickeln, wenn die Gefahr einer iranischen Atombombe bestehe.
"Wir haben das Lieferdatum der S-400 Systeme geändert", teilte die russische Nachrichtenagentur TASS zeitgleich mit dem Gipfeltreffen mit. Ursprünglich war die Lieferung des russischen Luftabwehrsystems erst für das Jahr 2020 vorgesehen, jetzt soll bereits im Juli 2019 mit dem Aufbau begonnen werden.
Wie TASS weiter mitteilt, haben Erdoğan und Putin am Tag zuvor auch über "die Möglichkeit der Erweiterung der militärischen Kooperation" gesprochen. Fortschrittliche Technologie werde die türkische Verteidigungsindustrie anschieben, äußerte Erdoğans Chefberater Ilnur Cevik.
Mit Putin war auch der russische Generalstabschef Valery Gerasimov in Ankara eingetroffen. In der offiziellen Mitteilung heißt es, dass er sich mit dem Chef des türkischen Generalstabs, Hulusi Akar, über regionale Probleme und die Kooperation im Kampf gegen "terroristische" Organisationen" beraten habe. Für die Türkei, die eng mit al-Kaida-Terroristen und umbenannten IS-Gruppen kooperiert, sind die kurdischen YPG/YPS die "terroristischen" Organisationen.
Ebenfalls am Tag vor dem Gipfeltreffen wurde zwischen türkischer und russischer Seite die Landstrecke der »Turkish Stream Gas Pipeline« diskutiert, teilte der russische Energieminister Alexander Novak mit. Die Meeresstrecke sei im Bau; im Januar (!) habe Gazprom von der türkischen Regierung die Genehmigung für die zweite Strecke erhalten, jetzt gehe es um die Details der Planung. Gazprom schätzt die Kosten des Pipelinebaus auf sieben Milliarden Euro. (http://tass.com/economy/997466)
Russland und Türkei: "natürliche Verbündete"
Die Türkei und Russland seien "natürliche Verbündete", wenn die Landkarte im Mittleren Osten neu gezeichnet wird, kommentierte Erdoğans Chefberater Ilnur Cevik. Während Wladimir Putin Russland wieder zu einer globalen Macht gemacht habe, habe sich die Türkei zu einem "einflussreichen Spieler" in der Region entwickelt, sagte Cevik.
Trio Infernale
Am Tag darauf (4.4.) diskutierten Erdoğan und Putin dann mit Irans Staatsoberhaupt Hassan Rouhani, wie es für Syrien weitergeht. Bei diesem Dreiergipfel, dem zweiten innerhalb von sechs Monaten, trifft die Türkei, einer der stärksten Gegner von Syriens Präsident Bashar al-Assad, mit dessen zwei stärksten Unterstützern zusammen – Iran und Russland.
"Das Bild der Einheit, das die Staatsführer an den Tag legen, täuscht über die Differenzen hinweg, die sie in ihren jeweiligen Prioritäten in Syrien haben", stellt Amberin Zaman in der Zeitung »al Monitor« fest. Für die Türkei gehe es vor allem um die Vernichtung der kurdische PYD bzw. YPG und die Installation seines Verbündeten »Freie Syrische Armee« im Norden des Landes; für den Iran um die Sicherung des Regimes von Syriens Präsident Bashar al-Assad; und für Russland um die Festigung seiner Position im östlichen Mittelmeer durch einen Mix von diplomatischem Geschick und militärischen Muskeln, analysiert Zaman. (Al Monitor: Erdogan, Putin, Rouhani tout alliance, eye US for next move)
"Die Türkei möchte den Iran zur Seite schieben und Assad ablösen; Russland möchte engere Beziehungen mit der Türkei, braucht aber auch Syrien für seine Mittelmeerbasis Tartus; der Iran will die Versorgungslinien zur Hiszbollah im Libanon beibehalten und die Türkei von einem Einmarsch in den Irak abhalten." Mike Eckel in Radio Farda, nach The Region |
Gemeinsam ist ihnen, dass alle drei Länder mittels Stellvertretern dauerhaft in verschiedenen Teilen Syriens präsent bleiben wollen, und diese für ihre jeweiligen Interessen ausnutzen.
In der Gemeinsamen Erklärung drücken die drei Regierungschefs ihre "Zufriedenheit mit den Ergebnissen des ersten Jahres nach dem Astana-Treffen im Januar 2017" aus. Nach ihrer Auffassung habe dieses "die Gewalt überall in Syrien vermindert und zu Frieden und Stabilität in Syrien beigetragen". Sie beteuern ihre "aktive Kooperation für das Zu-Stande-Bringen einer anhaltenden Waffenruhe zwischen den Konfliktparteien und die Förderung des politischen Prozesses".
mehr zum Thema: UN-Sicherheitsrat beschließt Waffenruhe. Der Krieg geht weiter Türkei mit deutschen Panzern in Afrin Stadt Gemeinsame Erklärung von Putin, Erdoğan und Rohani |
Die drei Regierungschefs "begrüßen die Resolution 2401 des UN-Sicherheitsrates" [1] und fordern die Konfliktparteien auf, diese Resolution zu erfüllen. Sie führen die entsprechenden Regionen wie Ost-Ghouta, Idlib, Nord-Hama oder Raqqa auf. Auffallend ist, dass in der Aufzählung der Gebiete, für die der Waffenstillstand gelten soll, Afrin nicht erwähnt wird. Dies war auch bei der gemeinsamen Erklärung der Außenminister der drei Länder am 16. März, zwei Tage vor der Eroberung durch die türkische Armee und ihre Verbündeten, der Fall.
Geradezu kurios ist, dass die drei Regierungschefs "ihre starke und kontinuierliche Verpflichtung für die Souveränität, Unabhängigkeit, Einheit, territoriale Integrität und nicht-religiösen Charakter Syriens" betonen. Denn zur gleichen Zeit errichten türkisches Militär und ihre dschihadistischen Verbündeten ein Kalifat in Afrin und vertreiben Kurd*innen und Ezid*innen.
Just am Tage des Gipfeltreffens wurde mitgeteilt, dass das syrische Afrin der türkischen Provinz Hatay angeschlossen wird. Ein Gouverneur werde von der türkischen Regierung eingesetzt werden. (Ahval: Afrin will be a part of Antakya in Turkey)
Bereits jetzt ist ein bedeutender Teil Syriens von Jarablus bis Afrin von der Türkei besetzt, und Erdoğan hat angekündigt, den gesamten Grenzstreifen bis zur irakischen Grenze erobern zu wollen – und darüber hinaus. Seit etwa drei Wochen greift die türkische Luftwaffe sogar zunehmend zivile Wohngegenden im Irak/Südkurdistan an.
"Die Türkei muss ihre Truppen aus Afrin abziehen. Ich hoffe darauf, dass der türkische Staat in dieser Hinsicht unter Druck gesetzt wird. Die Aktivitäten Ankaras in Afrin verstoßen gegen die Resolution des UN-Sicherheitsrates und die Grundsätze der Bewegung der Blockfreien Staaten." Baschar al-Dschafari, ständiger Vertreter Syriens bei den Vereinten Nationen |
Türkei im Expansionsrausch
Trotzdem sprach Erdoğan bei der gemeinsamen Pressekonferenz von der "territorialen Integrität" Syriens. Die Türkei stehe gegen Versuche, die "Souveränität und territoriale Integrität Syriens zu unterlaufen", sagte er. Allerdings hänge die Erwirkung der territorialen Integrität Syriens davon ab, alle Terrororganisationen mit derselben Distanz zu behandeln. "Es ist wichtig, alle terroristischen Organisationen ohne Ausnahme auszuschließen. … Wir sind bereit, mit unseren russischen und iranischen Freunden daran zu arbeiten, Tel Rifat [2] lebensfähig zu machen. Wir wiederholen, dass wir nicht aufhören werden, bis alle von der PYD/YPG kontrollierten Gebiete, einschließlich Minbic [3], sicher sind."
Türkei im Expansionsrausch Die Türkei hat 81 Provinzen. Auf dem Transparent werden Kirkuk (Irak), Mosul (Irak) und Afrin(Syrien) als neue Provinzen der Türkei proklamiert, Foto am 10.3.2018 |
Die Türkei baue eine "große Einflusszone innerhalb Syriens auf", schreibt Michael Young vom Carnegie Middle East Center in der Zeitung »The National« aus den Vereinigten Arabischen Emiraten.
Aus türkischer Perspektive würde eine solche Zone drei Hauptzielen dienen, schreibt Young weiter. Sie würde die Belastung der Türkei mit Flüchtlingen reduzieren, denn auf diesem Territorium könnten vile Flüchtlinge angesiedelt werden. Erdoğan sagte auf der Pressekonferenz: "Wir beheimaten 3,5 Millionen Syrer. Mehrere Hunderttausend syrische Geschwister warten derzeit darauf, im Anschluss an die Säuberung von Sprengstoff in die Region Afrin zurückzukehren."
Zweitens, so Young, würde eine solche Zone der Türkei erlauben, lokale militärische Kräfte aufzustellen, die der Türkei im Kampf gegen die Kurd*innen helfen könnten, und sie würde drittens der Türkei einen Hebel zur Destabilisierung des Assad-Regimes geben und vielleicht eine für die Türkei vorteilhafte Nachkriegsregelung erzwingen. (The National: Ankara is laying the groundwork for a large zone of influence inside Syria with far-reaching implications)
An die USA gewandt, wies Erdoğan den Vorwurf zurück, dass der Angriff auf Afrin den Kampf gegen den IS schwäche. "Unser Kampf gegen die PYD/YPG beeinträchtigt nicht den Kampf gegen den IS, ganz im Gegenteil. Er vervollständigt ihn. Jeder Ansatz, der den Fakt leugnet, dass IS und PYD für die gleichen Ziele arbeiten, kann nicht dazu beitragen, in Syrien einen nachhaltigen Frieden zu etablieren", sagte er.
Iran: Afrin an syrische Regierung übergeben
Irans Präsident Rouhani kritisierte in seiner Rede die USA, weil diese "terroristische Organisationen wie den IS lange Zeit in unserer Region als ihr Werkzeug gehalten haben". Und weiter: “Die illegale Anwesenheit und Einmischung der USA in Syrien führt zu wachsenden Spannungen und zur Desintegration des Landes." Jedoch hätten die Bevölkerungen Syriens und des Irak die "große Verschwörung" der USA durchkreuzt. Rouhani forderte den Abzug der USA aus der Region.
Die Probleme Syriens können nicht auf militärischem Weg gelöst werden, so Rouhani weiter. "Wir alle müssen uns daran beteiligen, damit der Krieg in Syrien beendet werden kann. Einzig ein friedlicher Lösungsweg muss eingeschlagen werden. Wir müssen den Menschen helfen, in ihre Häuser zurückzukehren." Rouhani sagte, dass die Zukunft Syriens von Syrern selbst und nicht von ausländischen Regierungen bestimmt werden müsse. Die Zukunft des Landes könne nur vom syrischen Volk im Rahmen freier Wahlen bestimmt werden, so der iranische Präsident.
Rouhani erklärte, Ankaras Rückzug aus der Provinz Afrin wäre "eine konstruktive Entwicklung". Das iranische Staatsfernsehen berichtete, dass Rouhani auch zu Erdoğan und Putin gesagt habe, dass die von der türkischen Armee besetzte Region Afrin an die syrische Regierung übergeben werden müsse. "Was immer auch die Absichten sind, der Einmarsch der Türkei in Syrien, sowohl in Afrin, Tel Rifaat oder jedem anderen Teil Syriens muss so schnell wie möglich beendet werden", zitiert CNBC eine hohen iranischen Regierungsbeamten.
Auch Putin pochte auf die territoriale Integrität Syriens. "Russland, die Türkei und Iran haben in Zusammenarbeit dem Terrorismus einen erheblichen Schlag versetzt. Einige versuchen, religiös motivierte und ethnische Konflikte in Syrien zu schüren. Russland, die Türkei und Iran bekräftigen ihr Engagement für die territoriale Integrität Syriens", so der russische Staatschef.
Putin bekräftigte, dass es aus Sicht der drei Regierungen "keine Alternative zum Syrischen National Dialogkongress" (Syrian National Dialogue Congress) gebe. Der National Dialog fand Ende Januar nach dem Beginn der türkischen Invasion in Afrin im russischen Sotschi statt und endete mit einem Fiasko. Die Vertretung der Demokratischen Föderation Nordsyrien/Rojava hatte die Beteiligung wegen des türkischen Angriffs abgelehnt. Klar ist, dass Verhandlungen auf dieser Basis und ohne Vertreter*innen der Demokratischen Föderation Nordsyrien auch künftig keine Lösung bringen werden.
USA bleiben. Vorerst
Einige Tage vor dem Dreiergipfel in Ankara hatte US-Präsident Donald Trump Spekulationen über einen kompletten Truppenabzug aus Syrien ausgelöst. Ohne Rücksprache mit Außen- oder Verteidigungsministerium hatte er angekündigt, dass die US-Soldat*innen "zurück in unser Land kommen, wo sie auch hingehören". Außerdem fror er 200 Mio. USD ein, die für den Wiederaufbau in dem von den Syrisch Demokratischen Kräften (SDF) kontrollierten Teil Syriens vorgesehen waren.
Doch kurz nach dem Treffen von Rouhani, Putin und Erdoğan gab das Weiße Haus bekannt, dass der US-amerikanische Einsatz gegen den IS im Osten Syriens weitergeht. Die USA und ihre Partner würden sich weiter engagieren, "um die kleine IS-Präsenz in Syrien zu eliminieren, die unsere Kräfte noch nicht ausgelöscht haben", so die Mitteilung aus Washington.
Frankreich tritt an die Seite der Kurd*innen
In der Zwischenzeit hatte Frankreichs Präsident Emmanuel Macron seine Unterstützung für die kurdisch geführten SDF erklärt. Am Donnerstag, 29. März, hat er im Elyseé-Palast eine Delegation hochrangiger kurdischer, arabischer und assyrischer Politiker sowie Vertreter der "Syrisch Demokratischen Kräfte" (SDF), denen auch die kurdischen Selbstverteidigungseinheiten YPG/YPJ angehören, empfangen.
An der Delegation nahmen u.a. Asya Abdullah, die Ko-Vorsitzende der "Bewegung für eine Demokratische Gesellschaft" TEV-DEM, verschiedene Ratsvorsitzende aus den Kantonen Afrin und Cizire, die YPJ-Sprecherin Nesrin Abdullah, Dr. Xalid Îsa von der Vertretung der Selbstverwaltung Nordsyrien und Rêdur Xelil, SDF-Verantwortlicher für auswärtige Angelegenheiten, teil.
In dem Gespräch sagte Macron militärische Unterstützung für die Verteidigung zu. Dies gälte für Minbic und auch für die anderen Regionen. Frankreich werde "sehr schnell" Truppen nach Minbic in Nordsyrien schicken, um den Vormarsch der türkischen Truppen zu blockieren, berichteten französische Medien. Es wurde auch über humanitäre und medizinische Hilfe für die geflüchteten Menschen aus Afrin gesprochen.
Für die "Demokratische Föderation Nordsyrien" ist dies ein politischer Durchbruch auf der internationalen Bühne. In dem einstündigen Gespräch im Elysee-Palast sei hervorgehoben worden, "dass die Probleme, die in Syrien bestehen, nur mit ... der Administration wie der Föderation Nordsyriens gelöst werden können", berichtet die Nachrichtenagentur ANF. (Rêdur Xelil: "Worüber haben Macron und die Vertreter Nordsyriens gesprochen?")
"Frankreich beginnt durch die Erklärung von Trump zu realisieren, dass die USA dabei sind, die Region zu verlassen. Emmauel Macron versteht das und entschied, ein deutliches Signal an die Kurd*innen in Syrien zu schicken, dass Frankreich zu ihnen steht. Wenn wir die Kurd*innen sitzen lassen, dann verlieren wir jede Chance für eine Alternative für den Wiederaufbau Syriens", kommentierte der französische Journalist Olivier Piot in France 24.
Für Guney Yildiz vom European Council on Foreign Relations liegt der Grund für die Entscheidung Macrons in der Angst vor einem Wiedererstarken des IS, falls sich die USA aus Syrien zurückziehen. Dies würde Frankreichs nationale Sicherheit direkt betreffen. Frankreich war Ziel mehrerer schwerer Terroranschläge des IS.
"Was in Syrien passiert, insbesondere in Nordsyrien, ist eine Angelegenheit der nationalen Sicherheit für Frankreich. ... Ich hatte die letzten Monate Kontakte mit Beamten des französischen Außenministeriums. Sie sagten, dass die meisten Terroranschläge in Frankreich in Al-bab, Raqqa oder Manbic geplant worden waren. Dies sind die Gebiete, über die wir jetzt sprechen", sagte Yildiz gegenüber dem arabischen TV-Sender Al-Jazeera.
Frankreich verfolgt mit seinem Engagement mehrere Ziele:
- Frankreich will mit am Tisch sitzen, wenn es um die Nachkriegsordnung in Syrien geht.
- Frankreich will das Vakuum füllen, das entstehen würde, wenn sich die USA aus Syrien zurückziehen.
- Frankreich könnte verstärktes Ziel von Terroranschlägen des IS werden, wenn die IS-Gebiete von der Türkei kontrolliert werden.
- Und nicht zuletzt mag eine Rolle spielen, dass die Ölquellen, an denen der französische Öl-Multi Total als Partner der staatlichen Ölgesellschaft Syriens beteiligt war, zwischenzeitlich unter Kontrolle der SDF stehen.
Eine reaktionäre Allianz gegen das basisdemokratische Experiment in Nordsyrien
So unterschiedlich die Interessen Russlands, der Türkei und des Iran sein mögen, so einigt sie eine Herausforderung: die kurdische Frage.
"Die Türkei will nicht, dass die Kurd*innen in Syrien politische Macht aufbauen und sieht diese Entwicklung als Bedrohung für ihre territoriale Integrität. Der Iran hat schon lange ein argwöhnisches Auge auf die eigene kurdische Bevölkerung, die schon ebenso lange für Selbstbestimmung kämpft wie die kurdische Bevölkerung in der Türkei. Außerdem stehen die kurdisch kontrollierten Gebiete dem Traum des Iran von territorialem Einfluss in Syrien im Wege. Und Syrien hat einfach Angst, dass die Kurd*innen ihren eigenen Staat erklären könnten, auch wenn die Kurd*innen ständig betonen, dass sie innerhalb der syrischen Grenzen bleiben wollen." (The Region: Iran, Russia and Turkey set to benefit if the US is out of the picture in Syria)
Tomasz Konicz schreibt:
"Rojava, das basisdemokratische Experiment in Nordsyrien, jagt den Regimes der Region eine Heidenangst ein - und schweißt sie zu einer reaktionären Allianz zusammen. Es geht sowohl den schiitischen Islamisten in Teheran wie ihren sunnitischen Konkurrenten in Ankara darum, das basisdemokratische Experiment in Nordsyrien mit aller Macht auszulöschen. Dies ist der einzige gemeinsame Nenner, der die unheilige Allianz der Regimes der Region befeuert.
Allein der Versuch, in dem krisenbedingt zunehmenden Chaos und Staatszerfall eine emanzipatorische Gesellschaftsalternative zu formen, muss von allen Machtstrukturen in der Region - von den korrupten staatlichen Regimes, über die islamistische Rackets bis zu den gewöhnlichen Warlords und Raubmilizen - als eine offene Kriegserklärung betrachtet werden.
Doch der Anlauf, neue, netzwerkartige und poststaatliche Formen der gesamtgesellschaftlichen Organisation zu erschließen, kann potenziell auf den gesamten Nahen Osten ausstrahlen. Also auf eine Region, in die Krise bereits zu offenen Staatszerfall führt. Er bedroht alle - ohnehin krisenbedingt labilen - staatlichen Machtvertikalen. Deswegen ist ja auch der kurdische Klanführer Barzani ein erklärter Feind Rojavas. Da ist kein Platz mehr für machtgeile Egomanen wie Assad, Erdogan, für dschihadistischen Tugendterror oder das iranische Mullah-Regime.
Die Staatsmonster der Region, die sich noch vor Monaten bis aufs Blut bekämpften und Syrien in ein gigantisches Schlachthaus verwandelten, werden von dem blanken Machtinstinkt zur Kooperation getrieben. Die antikurdische Allianz formt sich somit gerade deswegen aus, weil Rojava erste Erfolge verzeichnen kann - und dies nicht nur militärisch im Kampf gegen die poststaatliche Barbarei des IS.
Gerade die bescheidenen Erfolge der Selbstverwaltung in den nördlichen Teilen der poststaatlichen Bürgerkriegsregion lassen diese zu einer Alternative auch in den arabischen Siedlungsräumen avancieren, die sich unter der Kontrolle der SDF befinden.
Das nun geschmiedete reaktionäre Bündnis der alten, morschen Staatsapparate gegen die in Umrissen sich abzeichnenden neuen Formen poststaatlicher gesellschaftlicher Organisation erinnern an die "Heilige Allianz" von 1815, die nach den napoleonischen Kriegen von den spätfeudalen Regimes Europas geschmiedet wurde, um weitere Revolutionäre Anläufe im Keim ersticken zu können.
Doch bedeutet dies noch lange nicht, dass sich im Nahen Osten zwangsläufig die Emanzipation durchsetzen muss. Die geopolitische Lage Rojavas ist inzwischen äußerst prekär. Die bisherigen bescheidenen Erfolge bei der Etablierung von Basisdemokratie und Selbstverwaltung in Nordsyrien konnten nur dank einer günstigen geopolitischen Konstellation errungen werden. …"
(Tomasz Konicz: "Teheran-Ankara-Damaskus: Unheilige Allianz", 20. August 2016, heise)
Über die Ursachen und Folgen des Falls der nordsyrischen Stadt Afrin an das Erdogan-Regime schreibt Tomasz Konicz:
"… Während jene islamistischen Mordmilizen, die das türkische Regime bei seinem völkerrechtswidrigen Angriffskrieg als Kanonenfutter nutzte, niemals zögerten, eine Stadt zum Kampffeld und die Zivilbevölkerung zu Geiseln zu machen, entschieden sich die kurdischen Volksverteidigungskräfte für die Evakuierung der Zivilbevölkerung Afrins. Während der Islamismus den Tod sucht, versucht die kurdische Linke, Leben zu retten.
Damit stehen die Kurden Syriens ziemlich allein da in dem geschundenen Bürgerkriegsland, das zum Kampffeld von Monstern wurde, die nun ihre große Zeit gekommen sehen. Eine unheilige regionale Allianz autoritärer Regime sieht in Rojava eine politische Bedrohung entstehen, die ihre theokratischen Regime und Kleptokratien destabilisieren könnte.
Rojava steht folglich nicht nur das faschistische Regime der Türkei feindlich gegenüber, das europäischen Nationalismus und Chauvinismus mit sunnitischen Islamismus amalgamiert und auf den Trümmern Syriens und des Irak sein Neo-Ottomanisches Imperium errichten will.
Was wäre das Monster Erdogan ohne Wladimir Putin, in dessen syrischer Einflusssphäre Afrin liegt (Afrin: Erdogans Werk und Putins Beitrag)? Die Annäherung zwischen Ankara und Moskau, die mit Waffen- und Energiedeals einhergeht, findet auf Grundlage der ethnischen Säuberungen und der Massaker in Afrin statt.
Wladimir Putin hat Erdogan in einem klassisch imperialistischen Deal die Kurden Afrins und weite Teile Idlibs zum Fraß vorgeworfen, um die Türkei aus dem westlichen Bündnissystem zu lösen. Putin benutzt Syrien als Verhandlungsmasse, er verscherbelt Teile des Landes an die Türkei, um geopolitische Ziele zu erreichen.
Das Aufkommen dieser monströsen, unverhüllten Gewaltpolitik nach innen wie außen (Trump etwa hat längst dem Lippenbekenntnis zu Freedom and Democracy eine Absage erteilen lassen), die kaum noch ideologisch kaschiert wird, hat seine Ursache einerseits in dem Zerfall der US-Hegemonie, der andere Staatsmonster dazu animiert, die USA imitieren zu wollen und die Rolle einer regionalen oder gleich globalen Hegemonialmacht rücksichtslos anzustreben (Alte neue Weltordnung Andrerseits ist es - ähnlich den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts - die tiefe sozioökonomische Krise, die die Staatsmonster dazu verleitet, die zunehmenden inneren Widersprüche durch äußere Expansion zu überbrücken.
Die zunehmenden sozioökonomischen Widersprüche der alten, im Sterben liegenden Welt treiben die Staaten, die noch nicht zerfallen sind, in Konflikt - und sie lassen Krisenideologien wie den Faschismus und Islamismus aufkommen. Die krisengeschüttelte kapitalistische Welt befindet sich am Rande eines Großkriegs. Die Parallelen zu der Vorkriegszeit in den 30er Jahren des 20. Jahrhunderts mit dem Aufstieg des Faschismus und ihrer monströsen Geopolitik - vom Münchener Abkommen bis zum Erwürgen der spanischen Republik - sind evident.
Die imperialen Machtblöcke bemühen sich, auch offen faschistoide Regime wie das türkische bei dem eskalierenden geopolitischen Kräftemessen zu instrumentalisieren - bis diese Dynamik ihrer Kontrolle entgleitet. Ähnliches - mit umgekehrten geopolitischen Vorzeichen - spielte sich in der Ukraine ab, als der Westen sich faschistischer Kräfte bei seinem Staatsstreich in Kiew bediente.
Für den türkischen Islamo-Faschismus, der nun Blut geleckt hat, ist Afrin jedenfalls nur der Anfang: Nicht nur Zypern, Griechenland, der Irak, selbst Bulgarien wird schon bedroht. Ein Eindämmen des in Weltkriegsfantasien schwelgenden türkischen Regimes, dem sein neo-ottomanischer Fiebertraum bitterernst ist, würde folglich nur dann möglich sein, wenn die konkurrierenden geopolitischen Machtblöcke dieses als eine größere Gefahr erkennen würden als die jeweilige Gegenseite. …"
(Tomasz Konicz: "Die Zeit der Monster", 19. März 2018, heise)
Anmerkungen
[1] Nach dem Angriff der Türkei auf Afrin am 18.Januar und den Bombardement von Ost-Ghouta durch die russische und syrische Luftwaffe hat der UN-Sicherheitsrat am 25. Januar 2018 zu einer 30-tägigen Waffenruhe in ganz Syrien aufgerufen. Diese Resolution wurde von allen Seiten ignoriert.
[2] Tel Rifaat grenzt südöstlich an Afrin und liegt 30 km nördlich von Aleppo. In Tel Rifaat sind Zehntausende, die vor der türkischen Armee und den Dschihadisten aus Afrin geflohen sind. Tel Rifaat wird von der kurdischen YPG kontrolliert. Außerdem sind dort Einheiten der syrischen Regierungsarmee; auf dem dortigen russischen Militärflughafen sind zudem russische Soldaten stationiert.
[3] Minbic / Manbij liegt an der von Aleppo nach Nordosten führenden Straße 30 Kilometer vor der Brücke über den Euphrat. Die Stadt wurde am 15. August 2016 von der YPG gemeinsam mit dem Militärrat von Minbic und anderen Einheiten der Syrisch Demokratischen Kräfte vom IS befreit. Danach wurde die Verteidigung von Minbic dem Militärrat von Minbic übergeben, die YPG zog ab. In Minbic sind US-amerikanische Einheiten stationiert. Erdoğan drohr seit längerem mit einem Angriff auf Minbic.
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