Analysen

03.07.2015:Die SYRIZA-Regierung hat sich von ihren ursprünglichen Standpunkten wegbewegt und ist den internationalen Gläubigern weit entgegengekommen. Zähneknirschend haben Tsipras und Varoufakis z.B. Mehrwertsteuererhöhungen und Rente mit 67 zugestimmt, um einen Kompromiss hinzubekommen. Entsprechend waren die Vorschläge beider Seiten über Reformen und Sparmaßnahmen am Ende sehr nah beieinander. Warum also haben sie sich trotzdem nicht geeinigt? Thomas Sablowski analysiert den Verhandlungsverlauf und die unterschiedlichen Interessen. Er entwickelt, dass völlig unterschiedliche Grundvorstellungen aufeinanderprallen. Außerdem beschäftigt er sich mit der Frage, wie es in der Eurozone und EU weitergehen kann. Thomas Sablowski:

Über das Scheitern der Verhandlungen mit Griechenland

Angela Merkels Behauptung, die Gläubiger hätten Griechenland zuletzt ein «außergewöhnlich großzügiges Angebot» gemacht, ist ein schlechter Witz. Die Position der Gläubiger ist im Wesentlichen seit dem ersten Tag der Verhandlungen mit der neuen griechischen Regierung unverändert. Die Regierungen der Euro-Gruppe und die Troika von Internationalem Währungsfonds, Europäischer Zentralbank und Europäischer Kommission beharren bis heute auf einer Fortsetzung der Austeritätspolitik in Griechenland, insbesondere auf weiteren gravierenden Mehrwertsteuererhöhungen und Rentenkürzungen, die zu einer weiteren Verarmung der breiten Masse der griechischen Bevölkerung führen würden.

Das letzte «Angebot» der Gläubiger bestand darin, im Gegenzug über das Auslaufen des jetzigen «Programms» hinaus für fünf Monate Kredite in Höhe von 15,5 Mrd. Euro zu gewähren. Dabei handelte es sich jedoch de facto nicht um die Zusage neuer Kredite, sondern bloß um eine Umwidmung bereits früher zugesagter Gelder. Neben der seit langem anstehenden Auszahlung der letzten Tranche aus dem zweiten «Programm» und der schon früher in Aussicht gestellten Rückzahlung von Zinsgewinnen der EZB aus ihren Krediten an Griechenland ging es insbesondere um eine Umwidmung der bisher für die Refinanzierung der griechischen Banken vorgesehenen Gelder des Finanzstabilisierungsfonds für Griechenland (TXS), die nun für die Refinanzierung des griechischen Staates verwendet werden sollten. Dieses Geld hätte dann den griechischen Banken gefehlt, die mit enormen Liquiditätsproblemen zu kämpfen haben. Der seit 2007 bestehende Teufelskreis von Bankenkrisen und staatlichen Finanzkrisen wäre damit nicht durchbrochen worden, sondern das Problem wäre ein weiteres Mal nur verschoben worden. Die 15,5 Mrd. Euro hätten gerade einmal ausgereicht, um die in den nächsten Monaten anstehenden Zins- und Tilgungszahlungen auf die griechische Staatsschuld zu begleichen.

Wie in den letzten fünf Jahren hätten die Gläubiger also das Geld, das sie mit der einen Hand in den griechischen Staatssäckel gesteckt hätten, mit der anderen Hand gleich wieder herausgezogen, bereichert um Ansprüche auf neue Zinszahlungen. Die griechische Regierung hätte fast keinen Spielraum für eigene Maßnahmen zur Überwindung der humanitären Krise und der Massenarbeitslosigkeit gehabt. Außerdem gab es keinerlei konkrete Zusagen, wie mit dem griechischen Schuldenberg in Zukunft verfahren werden soll. Das Problem wäre einfach vertagt worden, das klägliche Schauspiel der Verhandlungen hätte noch vor Jahresende fortgesetzt werden müssen.

Die auch von SPD-Politikern und vielen deutschen Journalisten verbreitete Behauptung, die Gläubiger seien der griechischen Regierung weit entgegengekommen, ist also schlicht falsch. Wahr ist dagegen, dass die griechische Regierung den Gläubigern weit entgegengekommen ist, und zwar fast bis zur Selbstverleugnung. Bereits mit der Vereinbarung vom 20. Februar zwischen der Eurogruppe und der griechischen Regierung hatte sich letztere bereit erklärt, einen Großteil der Forderungen der Gläubiger umzusetzen und auf einseitige, unabgesprochene Maßnahmen zu verzichten, soweit diese haushaltswirksam sind. Dies stand im Widerspruch zum Wahlprogramm von Syriza, in dem bestimmte Maßnahmen zur Bekämpfung der humanitären Krise und der Massenarbeitslosigkeit für unverhandelbar erklärt worden waren. Die griechische Regierung hat zwar nach dem 20. Februar ein Gesetz verabschiedet, mit dem für Hunderttausende von Menschen der Zugang zu Lebensmitteln, zu Medikamenten, zu den Krankenhäusern und zur Stromversorgung wiederhergestellt werden sollte. Dafür wurden aber nur 200 Mio. Euro vorgesehen, während das von Syriza ursprünglich geplante Sofortprogramm ein Volumen von 3 Mrd. Euro haben sollte.

Wie gering der Betrag ist, den die griechische Regierung für diese absolut notwendigen sozialen Maßnahmen ausgegeben hat, wird deutlich, wenn man bedenkt, dass die Regierung alleine im April und Mai Zins- und Tilgungszahlungen von fast 7 Mrd. Euro geleistet hat. Die von den Vorgängerregierungen eingegangenen Zahlungsverpflichtungen für die Monate April bis August beliefen sich auf mehr als 22 Mrd. Euro. Insofern ist auch das oftmals zu hörende Argument absurd, eine Umschuldung oder eine Schuldenstreichung sei nicht notwendig, weil die Zahlung von Zinsen bzw. die Rückzahlung der Schulden Griechenlands aufgrund früherer Abkommen mit den Gläubigern ohnehin schon weit in die Zukunft verschoben worden sei. Tatsache ist, dass der Schuldendienst nach wie vor eine enorme Belastung für den griechischen Staatshaushalt darstellt, gerade angesichts der sozialen und ökonomischen Aufgaben, die der Staat in der gegenwärtigen Krise eigentlich übernehmen müsste.

Syriza hat die Notwendigkeit der Haushaltskonsolidierung nie in Frage gestellt, sondern lediglich darauf bestanden, die Art und Weise, wie dieses Ziel erreicht werden soll, selbst zu mitzubestimmen und einen anderen Weg zu beschreiten als den der perspektivlosen Kürzungs- und Verarmungspolitik. Die sozialen Lasten sollten zwischen den Klassen und Schichten der griechischen Gesellschaft gerechter verteilt werden; die Lohnabhängigen und die kleinen Selbständigen sollten nach jahrelangen Einkommensverlusten nunmehr geschont und die Kapitaleigner zur Kasse gebeten werden. Aus der Orientierung an den Interessen der beherrschten Klassen ergaben sich notwendigerweise «rote Linien», die Syriza nicht überschreiten wollte: Keine Erhöhung der Mehrwertsteuer, unter der die Armen stets besonders zu leiden haben und die zu einer regressiven Umverteilung von unten nach oben führt, keine weitere Kürzung der Renten, keine weiteren Entlassungen im öffentlichen Dienst, keine weiteren Lohnsenkungen, stattdessen Wiederherstellung des Tarifverhandlungssystems, Anhebung des Mindestlohns.

Unter dem Druck der Gläubiger hat die griechische Regierung am 22. Juni schließlich sogar Vorschläge vorgelegt, die eine weitere Annäherung an die Forderungen der Gläubiger und eine teilweise Überschreitung der «roten Linien» bedeuten: Die Regierung hat sich unter anderem zu einer differenzierten Anhebung der Mehrwertsteuer, zu einer schrittweisen Einschränkung der Frühverrentungen und zu einer differenzierten Einschränkung der Zusatzrenten bereiterklärt. Die Umsetzung dieser Maßnahmen hätte zu einer Zerreißprobe für Syriza geführt. Denn im Grunde wäre die Austeritätspolitik damit in einer sozial abgemilderten Form fortgeführt worden.

Doch selbst die Vorschläge vom 22. Juni wurden von den Gläubigern abgelehnt. Sie forderten unter anderem abermals umfassendere Mehrwertsteueranhebungen sowie Rentenkürzungen und wiesen die Pläne der griechischen Regierung zur Anhebung der Kapitalertragssteuern zurück. Der Verhandlungsverlauf zeigt, dass es in dieser Auseinandersetzung nicht um die Haushaltskonsolidierung oder den Schuldendienst als solches geht. Gestritten wird vielmehr um den Klassencharakter der europäischen Krisenpolitik: Die griechische Regierung vertritt die Interessen der Arbeiterklasse und des Kleinbürgertums; die anderen Regierungen der Eurogruppe und die Troika vertreten die Interessen der Kapitalisten. Aus der Sicht der Herrschenden stellt Syriza mit einer auch nur im Geringsten von den Vorgaben der Troika und der Eurogruppe abweichenden Wirtschaftspolitik bereits die Systemfrage, wie einzelne ihrer Vertreter in Interviews immer wieder deutlich gemacht haben. Demnach darf es einfach nicht sein, dass eine linke Regierung sich behaupten und einen Politikwechsel durchsetzen kann. Dies könnte in der Tat einen Bruch mit dem Neoliberalismus in ganz Europa einleiten und die jahrzehntelange Umverteilung zu Ungunsten der Lohnabhängigen, die jahrzehntelange Verschiebung der gesellschaftlichen Kräfteverhältnisse zugunsten der herrschenden Klassen beenden.

Die griechische Regierung hatte darauf gesetzt, dass die anderen Regierungen der Eurogruppe und die Troika helfen würden, einen griechischen Staatsbankrott zu verhindern, weil dieser mit unkalkulierbaren (geo-)politischen Folgen verbunden ist. Ein Ausscheiden Griechenlands aus der Europäischen Währungsunion könnte schließlich zu deren Zerfall und zu enormen ökonomischen und politischen Verwerfungen führen. Außerdem würde Südosteuropa destabilisiert und der Schulterschluss des «Westens» gegenüber Russland und China unterminiert. Tatsächlich haben auch Vertreter der herrschenden Klassen immer wieder auf diese drohenden Gefahren hingewiesen, wenn es nicht zu einer Einigung kommen sollte. Nicht zuletzt die US-amerikanische Regierung hat aus diesen Gründen mehrfach auf eine Einigung gedrängt. Allerdings hat sich dieses Kalkül der griechischen Regierung als falsch erwiesen. Angesichts der Widersprüchlichkeit der politischen Interessen der Bourgeoisie sieht es nun so aus, als hätten ihr unmittelbares, ökonomisch-korporatives Klasseninteresse und der bornierte Hass auf den Nonkonformismus der Linken, angefangen beim Kleidungsstil ihrer Repräsentanten, gesiegt. Auch dies offenbart einmal mehr die Hegemoniekrise der herrschenden Klassen. Ihre Politik ist letztlich selbstzerstörerisch.

Die Herrschenden haben ihrerseits versucht, die griechische Regierung mit der Drohung eines Rauswurfs Griechenlands aus der Währungsunion zu erpressen. Dabei konnten sie sich auf Meinungsumfragen stützen, wonach eine Mehrheit der Griechen zwar die Austeritätspolitik ablehnt, aber gleichzeitig eine Mehrheit auch in der Eurozone bleiben möchte. Auch die Mehrheit der Führungsgremien von Syriza hat sich immer wieder für einen Verbleib Griechenlands in der Eurozone ausgesprochen. Und fast hätte diese Erpressung durch die Herrschenden auch funktioniert, wie die Vorschläge der griechischen Regierung vom 22. Juni zeigen. Aber durch deren Ablehnung haben die anderen Regierungen der Eurogruppe und die Troika ihr Blatt überreizt. Hätten sie die Vorschläge der griechischen Regierung angenommen, so hätte dies möglicherweise zur Spaltung von Syriza, zu Neuwahlen und zu einer weiter rechts stehenden Regierung geführt. Durch ihre Starrköpfigkeit haben sie Syriza einen Ausweg aus diesem Dilemma eröffnet, mit dem sie nicht mehr gerechnet haben: Das griechische Volk soll entscheiden, ob es sich den Forderungen der Eurogruppe und der Troika unterordnet oder nicht. Spätestens nach dem ergebnislosen Gipfeltreffen der Regierungschefs am 25. Juni, als Angela Merkel sich aus den Verhandlungen wieder zurückzog und die Verhandlungsführung erneut an Schäuble übergab, musste für die griechische Regierung klar sein, dass von der deutschen Regierung, die hier eine Schlüsselposition hatte, keinerlei Zugeständnisse mehr zu erwarten waren.

Die harte Haltung der deutschen Regierung zeigt, dass die deutsche Bourgeoisie in der EU dominant, aber nicht hegemonial ist. Im Gegensatz zu den USA, die seit Jahrzehnten den consumer of last resort für die Weltwirtschaft spielen, ist die deutsche Bourgeoisie nicht bereit, auch nur innerhalb Europas als Regionalmacht eine ähnliche hegemoniale Rolle zu übernehmen. Sie hält nicht nur für Deutschland an ihrer merkantilistischen Wirtschaftspolitik fest und feiert die immer größeren deutschen Exportüberschüsse als großen Erfolg, obwohl diese die ganze Weltwirtschaft, aber vor allem die EU destabilisieren. Sie versucht auch noch, allen anderen EU-Ländern ebenfalls die deutsche Entwicklungsweise aufzuzwingen und verkennt dabei vollkommen, dass dies angesichts der internationalen Arbeitsteilung, der unterschiedlichen Produktionsstrukturen und der insgesamt verschiedenen gesellschaftlichen Voraussetzungen auf Dauer nicht gelingen kann.

Es spricht wenig dafür, dass sich der deutsche Kurs ändern wird. Die deutsche Bourgeoisie hat die EU schon immer nicht nur als Binnenmarkt, sondern vor allem als Sprungbrett für ihre globale Expansion betrachtet. Das deutsche Kapital profitiert in einzigartiger Weise von dem Wachstum in den USA, in China und in anderen aufstrebenden Ländern der (Semi-)Peripherie. Der europäische Binnenmarkt verliert dabei für das deutsche Kapital relativ an Bedeutung. Dieser Trend hat sich durch die globale Finanz- und Wirtschaftskrise und die ihr folgende Eurokrise noch einmal beschleunigt. Angesichts dessen verwundert es kaum noch, dass Gabriel mit Schäuble und Merkel in der Griechenlandfrage an einem Strang zieht und dass die bürgerlichen Medien den Eindruck vermitteln, sie seien weitgehend gleichgeschaltet.

Die Bundesregierung ist die Hauptverantwortliche für das Desaster der Austeritätspolitik in Europa. Sie war schon im Herbst 2009 die erste Regierung, die, als die Talsohle der Rezession in Deutschland erreicht war, einen Übergang zur Austeritätspolitik einleitete und im Kreise der G 20 einforderte. Und sie ist bis heute die hartnäckigste Verteidigerin dieser aus makroökonomischer und gesamtgesellschaftlicher Perspektive zerstörerischen Politik. Aber diese Politik ist aus der Perspektive des Kapitals nicht nur irrational, denn sie senkt die Löhne und erhöht auf diese Weise die Profitabilität des Kapitals. Die Kapitalisten, die der Konkurrenz unterliegen, denken und handeln in erster Linie betriebswirtschaftlich, und daran orientiert sich auch das makroökonomische und politische Denken des Mainstreams der Repräsentanten der Bourgeoisie. Und deswegen wird der deutsche Kurs auch im Rest Europas unterstützt. Es ist bezeichnend, wie wenig etwa die Regierungen in Frankreich und Italien, in Ländern, die selbst krisengeschüttelt sind, der Bundesregierung entgegenzusetzen hatten. Man hätte erwarten können, dass Frankreichs Präsident Hollande den Wahlsieg von Syriza in Griechenland als Chance nutzt, um Frankreich wie so oft in der Vergangenheit als Fürsprecher Südeuropas in Stellung zu bringen und das politische Gewicht des Landes gegenüber Deutschland wieder zu erhöhen. Dass dies praktisch nicht geschehen ist, zeigt nicht nur, wie weit sich die Balance in der deutsch-französischen Achse verschoben hat, sondern auch, wo die primären Interessen der französischen Bourgeoisie liegen. Das Verhalten von Hollande und von Renzi macht im Übrigen deutlich, dass die Sozialdemokratie nicht nur in Deutschland, sondern in ganz Europa bankrott ist.

Wie soll es nun weitergehen mit der EU und der Eurozone?

Die griechische Regierung hat immer wieder betont, dass sie zwar bereit ist, die Zahlungsverpflichtungen gegenüber ihren Gläubigern zu erfüllen, dass sie aber im Falle einer finanziellen Notlage eher die Zahlungen an die Gläubiger einstellen wird als die Zahlung der Löhne und Renten. Angesichts der humanitären Katastrophe in Griechenland ist schon viel zu viel Geld an die Gläubiger geflossen. Jeder Euro, der an die Gläubiger gezahlt wird, ist ein verlorener Euro für die Arbeitslosen, die Armen, Kranken und Hungernden in Griechenland. Nachdem die Gläubiger Griechenland die Auszahlung der früher zugesagten Kredite seit fast einem Jahr verweigern und nicht bereit sind, eine solidarische Lösung der Finanzkrise mit der jetzigen griechischen Regierung zu vereinbaren, wäre die Verweigerung aller ausstehenden Zahlungen an die Gläubiger durchaus eine angemessene Antwort. In der deutschen Diskussion wird meist suggeriert, dass ein Zahlungsausfall automatisch das Ausscheiden Griechenlands aus der Währungsunion nach sich ziehen müsste. Dieser Automatismus besteht so nicht. Für das Ausscheiden eines Landes aus der Währungsunion gibt es keine Rechtsgrundlage.

Trotzdem ist ein Ausscheiden Griechenlands natürlich auf zweierlei Weise möglich: Entweder die griechische Regierung entscheidet sich, eine neue Währung einzuführen, oder die Eurogruppe und die EZB drängen Griechenland endgültig aus der Währungsunion. In jedem Fall sind dafür weitere politische Entscheidungen notwendig. Dabei darf allerdings nicht verkannt werden, dass in Griechenland zwar der Euro noch als Zahlungsmittel verwendet wird, dass aber die Währungsunion zwischen Griechenland und dem Rest der Eurogruppe durch vorangegangene Entscheidungen der EZB bereits teilweise suspendiert ist. Aufgabe einer Zentralbank ist es, im Krisenfall als lender of last resort zu fungieren. Dies tut die EZB gegenüber den griechischen Banken nur noch eingeschränkt. Vielmehr haben die EZB und die Eurogruppe die griechischen Banken in Geiselhaft genommen, um die unliebsame Regierung unter Druck zu setzen. Schon seit dem 11. Februar akzeptiert die EZB griechische Staatsanleihen nicht mehr als Sicherheiten bei der Refinanzierung der Banken. Dadurch hat sie den griechischen Banken den Geldhahn halb zugedreht. Seitdem sind sie auf die Emergency Liquidity Assistance (ELA) der griechischen Notenbank angewiesen, die ihre einzige verbliebene Refinanzierungsquelle ist und für die höhere Zinsen fällig sind als für die reguläre Refinanzierung durch die EZB. Auch die ELA ist allerdings von der Genehmigung der EZB abhängig. Und die EZB hat die Strangulierung der griechischen Banken weiter vorangetrieben, indem sie der griechischen Notenbank die ELA mehrfach nicht in der beantragten Höhe, sondern nur in einem geringeren Umfang bewilligt hat. Schließlich hat die EZB am 28. Juni auf die Ankündigung des griechischen Referendums mit der Entscheidung reagiert, die ELA nunmehr auf dem bisherigen Niveau zu deckeln. Angesichts des schleichenden bank run bedeutet dies nichts anderes, als dass die EZB sich weigert, ihre Funktion als lender of last resort gegenüber den griechischen Banken zu erfüllen. Vielmehr führt sie ganz bewusst eine neue Bankenkrise herbei. Man stelle sich einmal vor, die EZB würde der Deutschen Bank oder der Commerzbank die Refinanzierung verweigern, weil die Bundesregierung gegen die EU-Regeln verstößt und nichts tut, um die exzessiven Leistungsbilanzüberschüsse Deutschlands abzubauen. Dies erscheint undenkbar und macht die Asymmetrie deutlich, die in der Europäischen Währungsunion nicht erst seit gestern besteht.

In Anbetracht der vorangegangenen Entscheidungen der Eurogruppe und der Troika erscheint es als sehr wahrscheinlich, dass die EZB die Refinanzierung der griechischen Banken komplett stoppt und die griechische Regierung damit zwingt, eine neue Währung einzuführen, falls sich eine Mehrheit der griechischen Wähler_innen beim Referendum gegen die Fortsetzung der Austeritätspolitik ausspricht. Soweit ist es allerdings noch nicht. In den nächsten Tagen werden die Gegner von Syriza alles tun, um die Volksabstimmung in ihrem Sinne zu beeinflussen. Die Schließung der Banken und die angespannte Lage werden sicherlich dazu beitragen, die Ängste in der Bevölkerung vor einem Euroaustritt weiter zu schüren, und es könnte durchaus sein, dass das «Nein» zur Politik der Memoranden gar keine Mehrheit findet. Das wäre aus linker Sicht der schlechteste Fall, denn dies würde Syriza vor eine neue Zerreißprobe stellen und vermutlich Neuwahlen notwendig machen oder gar zu einer Regierungsumbildung (inklusive Spaltung von Syriza und Stärkung der neoliberalen Kräfte) führen. Für die Bevölkerung bedeutete dies eine perspektivlose Fortsetzung der Austeritätspolitik mit den entsprechenden verheerenden Konsequenzen.

Falls sich eine Mehrheit der Bevölkerung gegen die Fortsetzung der Austeritätspolitik ausspricht und die EZB und die Eurogruppe Griechenland zur Einführung einer neuen Währung zwingen, würde der Lebensstandard der Bevölkerung ebenfalls zunächst weiter sinken, weil die neue Währung sehr stark abgewertet werden würde und mit ihr die in Griechenland geleistete Arbeit. Die Importe würden sich drastisch verteuern. Da das Land kaum über wettbewerbsfähige Exportindustrien verfügt, würde die Abwertung auch nicht zu einer relevanten Steigerung der Exporte führen. Es wäre für die griechische Zentralbank auch bei einer Rückkehr zur Drachme schwierig, eine eigene Geldpolitik zu betreiben, wie frühere Erfahrungen zeigen. In der internationalen Währungshierarchie sind die Länder mit schwächeren Währungen gezwungen, sich an der Geldpolitik der führenden Zentralbanken zu orientieren, um Kapitalabflüsse zu vermeiden. Um geldpolitische Spielräume zu haben, könnte Griechenland gezwungen sein, dauerhaft Kapitalverkehrskontrollen beizubehalten, was im Widerspruch zu den europäischen Verträgen stünde. Auf dem Spiel steht also nicht nur die Mitgliedschaft in der Eurozone, sondern auch in der EU.

Andererseits: Die Verfügung über eine eigene Währung könnte den griechischen Staat auf eine neue finanzielle Grundlage stellen und der Regierung den notwendigen Spielraum verschaffen, um überhaupt eine eigenständige Wirtschaftspolitik zu verfolgen und das Problem der extremen Massenarbeitslosigkeit und Armut anzugehen. Dafür wären große Investitionen notwendig. Der Staat müsste effektiv die Kontrolle über die Banken übernehmen, ihre Kreditvergabe steuern und könnte dann bei ihnen in eigener Währung Kredit aufnehmen. Die brachliegenden Produktionskapazitäten könnten wieder genutzt werden, wenn der Staat die Betriebe übernehmen und in sie investieren würde. Dies wäre dringend notwendig. Denn mit jedem weiteren Tag, an dem die Produktionsmittel nicht genutzt werden, wird es schließlich schwieriger, sie überhaupt jemals wieder in Gang zu setzen. Und das Problem verschärft sich auch von Tag zu Tag mit dem offenkundigen Investitionsstreik der Bourgeoisie, der dazu geführt hat, dass die Rezession weiter anhält. Dem kann nur durch eine Offensive der Linken begegnet werden. Insofern wäre ein Austritt aus der Eurozone in der gegenwärtigen Situation für die Linke und für die griechische Bevölkerung das kleinere Übel. Ein «Nein!» zur Austeritätspolitik beim Referendum würde zumindest bedeuten, dass Syriza noch die Chance hätte, weiterhin in der Regierung linke Politik zu machen.

Bedauerlich ist, dass die Linke in Europa bisher nicht genug in die Waagschale werfen konnte, um eine solidarische europäische Lösung der Finanzkrise zu erzwingen. Dies verheißt nichts Gutes für die Zukunft Europas. Wie die Herrschenden zur Demokratie in Europa stehen, haben sie mit ihrer ablehnenden Haltung gegenüber dem Referendum ein weiteres Mal unmissverständlich klar gemacht. Es zeigt sich, dass die bürgerliche Demokratie ein historischer Kompromiss ist, der von den subalternen Klassen verteidigt werden muss, so wie er auch einst erst durch sie erkämpft wurde. Jetzt geht es erst einmal darum, zu verhindern, dass die Herrschenden ihr Ziel erreichen, die Syriza-Regierung zu stürzen.

Zum Autor: Thomas Sablowski ist Mitarbeiter des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung mit dem Schwerpunkt Politische Ökonomie der Globalisierung und Mitglied der Redaktion der PROKLA.

Quelle: Rosa Luxemburg Stiftung
Wir danken Thomas Sablowski und der Rosa Luxemburg Stiftung für die Genehmigung zur Veröffentlichung


 

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