27.10.2014: Behindert, aber nicht verhindert durch den Streik der Lokführer, war das bundesweite Treffen der marxistischen linken am 18./19. Oktober in Frankfurt. Wer es schaffte, am Samstag ins Naturfreundehaus in Frankfurt zu kommen, wurde von Thomas Metscher mit einem spannenden Referat zum Thema »Integrativer Marxismus« belohnt. Manchen ist wohl erst im Laufe des Seminars klargeworden, was hinter dem Begriff »integrativ« (4. Attribut in der Langfassung des Vereinsnamens) steckt - und was da in den nächsten Jahren an Theorie- und Strategiearbeit noch zu leisten ist. Und so ist die Äußerung von Thomas Metscher über die marxistische linke - "Eine solche Vereinigung ist in der Tat ganz nach meinem Sinn" - auch als Auftrag zu verstehen.
»Integrativer Marxismus«
Es ist nicht möglich, in einem Bericht über die Veranstaltung alle Aspekte des mehrstündigen Referats und der anschließenden Diskussion darzustellen. Thomas Metscher hat die Absicht, seine vorgetragenen Überlegungen in eine schriftliche Form zu bringen. Wir werden sie dann auf kommunisten.de veröffentlichen. Deshalb soll und kann nur auf einige Aspekte eingegangen werden:
Der Marxismus ist zukunftsfähig, sagte Thomas Metscher, und schränkte ein: aber er ist es nur unter bestimmten Bedingungen. Er ist es nicht in jeder seiner historisch vorliegenden wie auch gegenwärtig konkurrierenden Gestalten. Metscher: „Zukunftsfähig ist der Marxismus allein als umfassende weltanschauliche Form, die auf ein perspektivisches Ganzes der Erkenntnis und des Wissens geht: das Ganze einer Welt, in Gedanken gefasst.“ Da sich aber die Wirklichkeit verändert, werden auch der Theorie neue Aufgaben gestellt und auch neue Antworten verlangt. Will die marxistische Theorie der veränderten Wirklichkeit gerecht werden, muss sie sich also selbst verändern. Anschaulich entwickelte Metscher, dass der Marxismus auch aus diesem Grunde eine nie abgeschlossene, prinzipiell unabschließbare Theorie ist, ständig weiterentwickelt, ausgebaut und durch neue Erkenntnisse vertieft werden muss.
Er warnte davor, zu meinen, dass diese große Aufgabe allein durch eigenständige marxistische Forschungen eingelöst werden könnte. Metscher: „Um ihr gerecht zu werden, hat der Marxismus sich im vollen Umfang auch solcher wissenschaftlichen Erkenntnisse zu versichern, die nicht auf seinem theoretischen Boden entstanden sind. Gemeint ist die vorurteilsfreie Verarbeitung und Integration der Ergebnisse der positiven Wissenschaften, ganz gleich, welcher Herkunft diese sind. Dass bei dieser Verarbeitung das Wahre und Falsche, Brauchbare und Unbrauchbare sorgfältig zu scheiden sind, dass sie weiter in der Form einer Einarbeitung in einen gegebenen theoretischen Gesamtzusammenhang erfolgt, ist ganz selbstverständlich. Die Ausarbeitung des Marxismus, die seine Zukunftsfähigkeit sichern soll, hat nicht allein durch die Aneignung des Universums überlieferten Wissens und überlieferter Kultur und die Einarbeitung der Ergebnisse der positiven Wissenschaften zu erfolgen. Dazu gehört vielmehr, im vollen Umfang, die Verarbeitung auch nichtwissenschaftlicher Weltanschauungs- und Wissensformen, von Alltagsbewusstsein und Sprache über Mythos, Religion bis zu den Künsten. Dabei geht es nicht allein und auch nicht in erster Linie um die Ausarbeitung des Falschen und »Ideologischen« in diesen Formen (dies gehört selbstverständlich immer dazu: die Kritik ist die Bedingung des Gewinns positiven Wissens), sondern gerade um das Herausarbeiten ihrer Wahrheitsmomente.
Der Marxismus verfügt, wenn er sich seiner Potentiale voll bewusst ist, über eine singuläre integrative Kraft, die es ihm gestattet, die divergierendsten Gedankenelemente, Erkenntnisse und Wissensformen produktiv zu verarbeiten, damit auch die Ergebnisse wissenschaftlicher Forschung, unabhängig von ihrem institutionellen und ideologischen Kontext, in ein kohärentes Weltbild einzuarbeiten. Ja in dieser Fähigkeit liegt seine Einzigartigkeit und Stärke, die ihn auch bei seiner gegenwärtigen institutionellen Schwäche vor jeder konkurrierenden Weltanschauung heraushebt. Diese integrative Kraft hat in der materialistischen Dialektik ihren Grund.“
Metscher arbeitete heraus, dass Zukunftsfähigkeit des Marxismus bedeutet, dass er einem doppelten Anspruch genügen muss: die Welt zu »interpretieren« wie auch zu »verändern«. Wobei die Veränderung der Welt ein bestimmtes Ziel verfolgt und der Norm einer Ethik untersteht, die sich von diesem Ziel her begründet. Sie fordert die umfassende menschliche Emanzipation: umzuwerfen sind »alle Verhältnisse (...), in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes, ein verlassenes, ein verächtliches Wesen ist« (MEW 1, 385). Als solcher ist der Marxismus ein »realer Humanismus« (MEW 2, 7), für den »der Mensch das höchste Wesen für den Menschen« ist (MEW 1, 385).
Ein weiterer Aspekt marxistischen Denkens ist, so Metscher, die Wirklichkeit als gewordene und werdende Wirklichkeit zu verstehen, d.h. der Marxismus ist historisches Erkennen, Gegenwartsdiagnose und antizipatorisches Denken: Er ist historisches Erkennen, insofern er die Vergangenheit erforscht. Er ist Diagnostik der Gegenwart, insofern er die Zeit begreift, in der er steht. Er ist antizipatorisches Denken, insofern er ein Denken dessen einschließt, was historisch möglich ist.
Wenn in den Marxismus antizipatorisches Denken im Sinn eines Denkens konkreter Utopie eingebracht werden soll, dann geht es nach Metscher nicht um einen Rückfall in einen utopischen Sozialismus, sondern um das Einbringen eines utopischen Moments in das marxistische Denken selbst. Metscher hält dies für unumgänglich angesichts einer Situation, in der der Marxismus „in großen Teilen der Welt schlicht keine Rolle mehr spielt; allenfalls die einer marginalen, im Hintergrund wirkenden Kraft. .. Im Unterschied zum frühen 20. Jahrhundert, das im marx‘schen Sinne eine Epoche sozialer Revolutionen war, ist die gegenwärtige Lage die einer Epoche sozialer Stagnation und Regression.“ Das Ziel, von dem Bert Brecht in seinem Gedicht »An die Nachgeborenen« schreibt, dass es zwar in »großer Ferne«, aber »deutlich sichtbar« lag, liege heute in noch weitere Ferne und sei auch nicht mehr »deutlich sichtbar«. Um nicht zu resignieren, müsse der Marxismus deutlicher als je beschreiben, wie das Ziel beschaffen ist; ein Ziel als »Konkretum«, als real mögliches, praktisch erreichbares Ziel. Historisch möglich ist, die weltweite Überwindung des Hungers, die Verwirklichung des alten Menschheitstraumes einer Welt ohne Krieg, der schonende Umgang mit der Natur, eine neue Kultur, deren Ziel die volle und freie Entwicklung des Individuums ist.
Griechenland – Solidarität!
Das zweite große Thema am Samstag war die Situation in Griechenland und die Herausforderung für die linken Kräfte in Europa. Dazu referierte Nikos Athanassiadis von der Partei der radikalen Linken, SYRIZA. Er informierte über die ökonomische und soziale Krise in Griechenland und die humanitäre Katastrophe, die durch die Austeritätspolitik hervorgerufen wurde. Er erläuterte das Sofortprogramm, das von einer Linksregierung in Angriff genommen würde:
Eine Reihe von Sofortmaßnahmen soll helfen, die größte Not in Griechenland zu lindern. Es geht um einen Zugang aller zu medizinischer Versorgung (jedeR Vierte ist ohne Krankenversicherung; die solidarischen Kliniken müssen einen erheblichen Teil der Krankenversorgung übernehmen), die Nutzung staatlicher und kirchlicher Immobilien, um die Wohnungsnot abzufedern, und um Regelungen zur Tilgung von Bank- und Steuerschulden für niedrige Einkommensschichten sowie für kleine und mittlere Unternehmen. Vieles davon liegt schon als Gesetzentwurf vor – mit Finanzierungsberechnung.
In Griechenland wäre es nicht einmal eine sonderlich radikale Maßnahme, die Banken in öffentliches Eigentum zu überführen, denn die Rettung der Banken hat den griechischen Staat insgesamt ein Vielfaches ihres heutigen Börsenwertes gekostet.
Eine Aufkündigung des Memorandums von 2010 hat für SYRIZA aus zwei Gründen eine zentrale Bedeutung: Erstens ist die Politik, die es vorschreibt, an ihren erklärten Zielen gescheitert. Lagen die öffentlichen Schulden Griechenlands zum Zeitpunkt, als das Memorandum beschlossen wurde, bei 120 Prozent der Wirtschaftsleistung, so sind sie heute, nach vier Jahre dieser ›Reformpolitik‹, auf 175 Prozent gestiegen. Zweitens wird die Kündigung als Ausdruck der Volkssouveränität gesehen. Das allein wird aber nicht genügen. Das Memorandum muss durch einen Plan ersetzt werden, die griechische Wirtschaft und Gesellschaft wieder aufzubauen.
Ein wichtiger Schlüssel zur Lösung ist der Schuldenabbau. Das Schuldenproblem ist ein europäisches und kann nur auf dieser Ebene gelöst werden. Es ist völlig unmöglich, öffentliche Schulden von 175 Prozent der jährlichen Wirtschaftsleistung zu bedienen, denn allein die jährlichen Zinsen machen dann über zehn Prozent der Staatseinnahmen aus. Ein relevanter Teil der Schuld muss also weg, und die Tilgung der Restschuld muss mit einer Wachstums- und Beschäftigungsklausel verbunden werden. Dies entspricht exakt dem Modell des Londoner Schuldenabkommens von 1953, mit dem die deutschen Vor- und Nachkriegsschulden geregelt wurden.
Ein wichtiges Instrument für jedes Wiederaufbauprogramm ist die öffentliche Verwaltung. Bisher wurden die Stellen im öffentlichen Dienst nach parteipolitischen Kriterien besetzt und dadurch der Korruption Tür und Tor geöffnet, die von den Regierungen geduldet, in vielen Fällen sogar gefördert wurde. Dennoch ist in der öffentlichen Verwaltung auch ein großes Wissenspotenzial vorhanden, das eine gute Basis für den Wiederaufbau bilden kann. Linke Politik muss auf dieses Potenzial setzen und die Menschen im öffentlichen Dienst für eine Verwaltungsreform gewinnen.
Mit einer Steuerreform sollen hohe Einkommen und Vermögen stärker belastet und zur Finanzierung der staatlichen Aufgaben herangezogen werden.
Eine Linksregierung wird die Privatisierung öffentlicher Unternehmen und von Infrastruktureinrichtungen sofort stoppen. Schwieriger wird die schrittweisen Rücknahmen der bereits erfolgten Privatisierungen, die aber zur Wiederherstellung eines zerstörten Gemeinwesens unerlässlich sind.
Dieses Regierungsprogramm erscheint sehr gemäßigt. Was die Radikalität des Programms von SYRIZA ausmacht, ist der erklärte Wille, mit dem neoliberalen Regime in der EU zu brechen. Klar ist, dass eine Linksregierung in Griechenland diese Politik nur verfolgen wird können, wenn sie die aktive Unterstützung der eigenen Bevölkerung und der Bewegungen erhält, und wenn europaweit die Solidarität mit dieser Politik organisiert wird.
Nikos zeigte sich überzeugt, dass im Falle einer Linksregierung in Griechenland der Funke auf andere südeuropäische Länder überspringen könnte und so eine wirksamere Allianz gegen die Austeritätspolitik entstehen würde. Er geht davon aus, dass es im Frühjahr des kommenden Jahres zu vorgezogenen Neuwahlen kommen wird. Nach aktuellen Umfragen liegt SYRIZA mit einem Vorsprung von 6 bis 12 Prozentpunkten an erster Stelle vor der konservativen Partei. Ausschlaggebend wird jedoch, ob die Bewegungen, die gegenwärtig ermüdet sind, neue Dynamik gewinnen werden.
Zu kurz kam die Information und die Debatte über die Struktur und Arbeitsweise der Partei selbst, über das Verhältnis von Partei und Bewegungen und die Sichtweise von SYRIZA auf das Spannungsverhältnis Staat und Bewegungen im Falle einer Regierungsübernahme.
marxistische linke – im Aufbau
Am Sonntag wurde Erfahrungen über die Arbeit der marxistischen linken ausgetauscht. GenossInnen berichteten über die Tätigkeit und Vorhaben von Regionalgruppen; diese gibt es inzwischen in Frankfurt, Hamburg und Berlin.
Kontrovers, aber solidarisch wurde ein Thesenpapier zur internationalen Situation und zur internationalen Arbeit der marxistischen linken diskutiert. Nach einer Überarbeitung, bei der das Spannungsfeld von gewünschtem Pazifismus (nicht nur beim Ziel, sondern schon in den Mitteln) und in der Regel vom Gegner aufgezwungener Notwendigkeit von bewaffnetem Widerstand (aktuelles Beispiel die Verteidigung des Projekts der Demokratischen Autonomie, wie sie derzeit in Rojava aufgebaut wird und mit militärischen Mitteln in Kobane verteidigt werden muss) dargestellt wird, wird das Thesenpapier zur Diskussion veröffentlicht.
Der Kommunistischen Partei Österreichs, die die marxistische linke zu ihrem am gleichen Wochenende stattgefundenen Parteitag eingeladen hatte, wurde ein Grußschreiben übermittelt.
Für die Öffentlichkeitsarbeit steht ein Flugblatt mit einer Selbstdarstellung der marxistischen linken zur Verfügung. Auch zu TTIP und CETA kann ein Flugblatt bestellt werden.
Bestellungen an:
Ich unterschreibe die selbstorganisierte
Europäische Bürgerinitiative gegen TTIP