06.11.2016: "Bello ciao" titelt die kommunistische il manifesto nach der Abstimmung vom Sonntag. Italiens Ministerpräsident Matteo Renzi hat mit dem Referendum alles auf eine Karte gesetzt – und krachend verloren. Da halfen ihm auch die Horrorszenarien des wirtschaftlichen Desasters, der Unregierbarkeit, des Zerfalls der EU und die Unterstützung durch die führenden europäischen Medien und von Schäuble und Obama nicht. "Die Verfassung hat gewonnen. Ein gute Sache für Alle", sagt Roberto Musacchio von der Liste L'Altra Europa con Tsipras.
Italiens Ministerpräsident Matteo Renzi ist mit seiner Verfassungsreform klar gescheitert. Das Ergebnis ist eindeutig: Knapp 60 Prozent der Wähler stimmten mit 'NO', etwa 40 Prozent mit 'SI'. Die Beteiligung war mit 70 Prozent außergewöhnlich hoch.
Es war eine breite Front, die zum NEIN aufgerufen haben: Die 5-Sterne-Bewegung (M5Stelle) des Beppe Grillo, die rassistische Lega Nord und Silvio Berlusconis Forza Italia mobilisierten gegen die Verfassungsänderung. Aber auch der ehemalige Regierungschef Mario Monti, die Vereinigung der Demokratischen Juristen, die Nationale Vereinigung der Italienischen Partisanen (ANPI), der linke Flügel von Renzis Regierungspartei PD um den Ex-Vorsitzenden Pier Luigi Bersani, die Metallgewerkschaft FIOM und die radikale Linke (Rifondazione Comunista, ..) riefen zum 'NO' auf.
"Aber unter allen Siegern trägt die Linke die Fahne des moralischen Sieges nach Hause", schreibt il manifesto. Dies ist deshalb "wichtig, weil es die Linke mit all ihren Verbänden, von der Nationalen Vereinigung der Italienischen Partisanen (ANPI) bis zur Dachgewerkschaft Cgil, ist, die die Verfassung ohne Wenn und Aber verteidigt".
"Die Verfassung ist im antifaschistischen Widerstand geboren und nun erneut von der italienischen Bevölkerung als ihre eigene Verfassung bestätigt worden. Die neoliberale Verfassung von Renzi, Verdini (Anm.: enger Vertrauter von Silvio Berlusconi) und Merkel wurde abgelehnt", meint der Nationalsekretär von Rifondazione Comunista, Paolo Ferrero..
J.P. Morgan schrieb die Verfassungsreform
Die ItalienerInnen hatten am Sonntag über ein "Mischmasch aus 45 Verfassungsänderungen" (Marco Politi, ehem. Auslandskorrespondent der Tageszeitung 'La Repubblica' im SPIEGEL) abzustimmen. Bei der größten Reform der Verfassung in ihrer rund 69-jährigen Geschichte sollten 46 von 139 Artikeln umgeschrieben werden.
Die Grundlinie der Verfassungsreform war von der Investmentbank J.P. Morgan entworfen worden, die in Italien den "ausschlaggebenden Test" für eine "bedeutende politische Reform" zur Anpassung der Nachkriegsverfassungen an die neue Situation sah. Denn "das politische System in der mediterranen Peripherie wurde unter den Nachwirkungen der Diktatur eingeführt und ist durch diese Erfahrungen geprägt. Die Verfassungen neigen zu einem starken sozialistischem Einfluss und reflektieren die politische Stärke, den linke Parteien nach der Niederlage des Faschismus gewonnen hatten. Die politischen Systeme der Peripherie weisen typischerweise mehrere der folgenden Merkmale auf: schwacher Zentralstaat gegenüber den Regionen, verfassungsmäßiger Schutz von Arbeitsrechten, Systeme der Konsensbildung, das Recht auf Protest gegen unerwünschte Änderungen des politischen Status quo. Die Fehler dieses politischen Vermächtnisses haben sich in der Krise offenbart." (J.P. Morgan, “The Euro Area adjustment: about half-way there”)
Mit den geplanten Verfassungsänderungen setzte Renzi die Vorschläge von J.P. Morgan um. Kein Wunder, dass er die Unterstützung der großen Medien, von der New York Times über die Financial Times bis zu ZEIT und Süddeutsche Zeitung, erhielt. EU-Kommission, Barack Obama, Angela Merkel und Wolfgang Schäuble standen zu 100% hinter Renzi und riefen die ItalienerInnen zum 'SI' auf.
Auf der anderen Seite erklärten Persönlichkeiten der europäischen Linken wie z.B. der frühere griechische Finanzminister Yanis Varoufakis von der Bewegung DiEM25, dass "der Kampf um Demokratie eine große Schlacht ist, die uns alle angeht. Es liegt an der Bevölkerung Italiens zu entscheiden. Wir sagen nur, wenn wir ItalienerInnen wären, wir würden mit großer Überzeugung für das 'NO' stimmen".
Um was es ging:
Renzi hatte eine populistische und 'anti-politische' Kampagne gegen den teuren und nutzlosen Senat und die 'alten Politiker' geführt, um eine Verfassung durchzusetzen, die das autoritäre neoliberale Durchregieren erlauben würde.
- Das Hauptanliegen Renzis ist die Entmachtung des Senats, der zweiten Kammer des Italienischen Parlaments. Bisher haben die 315 gewählten und fünf ernannten Senatoren genau die gleichen Rechte wie die 620 Mitglieder der Abgeordnetenkammer. Nach den Vorstellungen Renzis sollten nur noch 100 Senatoren übrig bleiben, die aus den Regionen entsandt werden. Mit vielen Fragen - wie zum Beispiel mit dem Haushalt oder mit Vertrauensabstimmungen über die Regierung - soll sich der Senat in Zukunft nicht mehr befassen. Stattdessen muss er unter anderem nur noch bei Verfassungsänderungen oder europäischen Verträgen seine Zustimmung geben. Um sich Unterstützung in der Bevölkerung zu holen, verbreitete Renzi die Lüge, man würde durch diese Änderungen 500 Millionen Euro sparen.
Die Journalistin Petra Reskis schreibt dazu: "Nicht der Senat wird abgeschafft, sondern die Möglichkeit, die Senatoren direkt zu wählen. Die Verfassungsreform beschleunigt auch nicht die Regierungsgeschäfte: Der Senat existiert nach wie vor, nur nicht mehr in der ursprünglichen Form: Im 'neuen' Senat sitzen Bürgermeister und regionale Abgeordnete, die nicht gewählt, sondern von den Parteien bestimmt werden und die nach wie vor ihre Zustimmung zu den Gesetzen geben müssen – was zwar nur noch eine Formalität ist, weil die Zustimmung sicher ist, aber dennoch Zeit kostet. Überdies kommen auf diese Weise Bürgermeister und regionale Abgeordnete in den Genuss der parlamentarischen Immunität, der venezianische Bürgermeister Orsoni etwa, der wegen des Schmiergeldskandals der venezianischen Hochwasserschleuse vor Gericht steht, hätte gar nicht verklagt werden können.
Und wie der italienische Rechnungshof ausgerechnet hat, wird es auch nicht billiger: Durch die Reform würden weniger als 40 Millionen Euro gespart – das Gleiche wäre erreicht worden, wenn man den Senatoren 10 Prozent der Bezüge gekürzt hätte, ohne dafür die Verfassung anrühren zu müssen." - Neben der Entmachtung des Senats sollte mit der Abschaffung der den deutschen Landkreisen vergleichbaren Provinzen und der damit verbundenen Stärkung des Zentralstaats eine weitere Vorgabe von J.P.Morgan erfüllt werden. Zudem sollte eine 'Vorrangsklausel" der Zentralregierung das Recht geben, die Regionen (vergleichbar den Bundesländern) zu übergehen, wenn Angelegenheiten von 'nationalem Interesse' betroffen sind.
- Die Gefährlichkeit der Verfassungsreform für die Demokratie ergibt sich aber erst aus der Kombination mit dem neuen Wahlgesetz, dem undemokratischsten in der gesamten Europäischen Union. Mit dem neuen Wahlgesetz, dem 'Italicum', werden der stärksten Partei automatisch 340 Sitze im 630-köpfigen Parlament, und damit die Mehrheit, zugesprochen. Gewinnt eine Partei im ersten Wahlgang 40% der Stimmen fallen die 340 Sitze an sie. Im Fall, dass keine Partei 40% erreicht, findet ein Stichentscheid zwischen den zwei stärksten Parteien aus dem ersten Wahlgang statt. Die "Bonus-Abgeordneten" werden von der Parteiführung ernannt, so dass nur noch eine Minderheit der Abgeordneten wirklich von den WählerInnen gewählt wird.
Die Verfassung hat gewonnen. Ein gute Sache für Alle
"Es hat die Verfassung gewonnen. Und dies ist eine gute Sache für Alle, für Italien und seine Bürgerinnen und Bürger, für die Demokratie und für Europa. Es gewann die Verfassung durch eine partizipative Abstimmung und mit einem klaren Ergebnis. Die Verfassung hat gewonnen, weil sie in einem Moment der Umbrüche und des wachsenden Unbehagens für die italienische Bevölkerung ein sicherer Bezugspunkt ist, das Beste ihrer Geschichte, immer noch wertvoll in einer gefährlichen Gegenwart. Sie hat auch deshalb gewonnen, weil alle politischen Protagonisten dieser Kampagne diese Wahrheit erkannt haben, auch wenn Sie durch ihre eigene Geschichte und Identität nicht unmittelbar damit übereinstimmen", meint der Ex-Europaabgeordnete von Rifondazione Comunista und jetzige Aktivist bei L'Altra Europa con Tsipras, Roberto Musacchio.
Wie geht es weiter
Paolo Ferrero verlangt, dass nach diesem Referendum und dem Scheitern von Renzi im Frühjahr Neuwahlen mit einem geänderten Wahlgesetz durchgeführt werden. An alle Kräfte der Linken, an die Komitees des 'NO', an Vereinigungen, Gewerkschaften und regionale Wahlbündnisse appelliert er, "in Alternative zur PD einen alternativen politischen Pol" zu bilden, "ein einheitliches politisches Subjekt der Linken, die zur Regierung kandidiert mit dem erklärten Ziel, die Verfassung anzuwenden – die Verfassung, die immer missachtet wurde und zu der die italienische Bevölkerung jetzt ihr Vertrauen erneuert hat."
Auch Beppe Grillo fordert sofortige Neuwahlen. Allerdings mit dem System des 'Italicum'. Denn nach allen aktuellen Wahlprognosen würde seine M5Stelle stärkste Partei werden und damit 55% der Parlamentssitze einkassieren. Er könnte mit absoluter Mehrheit regieren.
Die Entscheidung liegt jetzt bei Staatspräsident Sergio Mattarella. Er entscheidet, ob im Frühjahr neu gewählt wird oder ob versucht wird, bis 2018 mit einer Übergangsregierung über die Runden zu kommen. Er kann auch wieder Matteo Renzi mit der Regierungsbildung beauftragen. "Renzi geht, um zu bleiben", schreibt das Internetportal controlacrisi. Auf jeden Fall muss das Wahlrecht geändert werden, denn der Verfassungsgerichtshof hat zwei der grundlegenden Mechanismen dieses Wahlgesetzes für rechtswidrig erklärt.
foto: il manifesto