14.10.2015: Knapp 1,2 Millionen WienerInnen stimmten am zurückliegenden Sonntag über das neue Stadtparlament ab. Der Wahlkampf war vom Duell SPÖ gegen die rechtspopulistische FPÖ und vom Flüchtlingsthema geprägt. Ergebnis: Die FPÖ legt deutlich zu, verfehlt aber ihr Ziel. Die SPÖ verliert Stimmen, bleibt aber stärkste Partei und kann mit den Grünen, die leicht verlieren, die Regierungskoalition fortsetzen. Das Wahlbündnis "Wien Anders" aus KPÖ, Piratenpartei, Echt Grün und Plattform der Unabhängigen gewinnt zwar Mandate in den Bezirksvertretungen, ist aber enttäuscht von dem Gesamtergebnis. Wir veröffentlichen Stimmen zum Ergebnis:
Nach den Wahlen in Oberösterreich (Oberösterreich: Rechtspartei FPÖ verdoppelt Ergebnis) war die Wahl in Wien die zweite Wahl in Österreich, bei der die Flüchtlingsproblematik zentrales Wahlkampfthema war. Während die FPÖ für Rassismus, eine rigide Flüchtlingspolitik und für Grenzzäune steht, verzichtete die SPÖ in Wien im Unterschied zur oberösterreichischen SPÖ auf eine inhaltliche Annäherung beim Asylthema an die FPÖ. Die letzte Wahlkampfphase stellte sie sogar unter das Motto „Menschlichkeit statt Hetze“. Diese Orientierung zahlte sich für die SPÖ aus. Zwar verlor sie 33.000 Stimmen an die FPÖ, aber sie verlor weniger (-4,75%) als von ihr erwartet, bleibt stärkste Partei (39,59%) und kann mit den Grünen (-0,8%; 11,84%) die Regierungskoalition fortsetzen. Die FPÖ legte zu (+5,02%), blieb aber mit 30,79% weit unter ihrem angestrebten Ziel, stärkste Partei zu werden.
Die SPÖ konnte bei dieser Wahl die meisten jungen WählerInnen auf ihre Seite ziehen. Auch fast jede zweite MigrantIn wählte die Sozialdemokraten. Die Zeit der SPÖ als Arbeiterpartei ist in Wien allerdings vorbei - am unzufriedensten mit der Arbeit von Rot-Grün waren die WählerInnen, die im Gemeindebau leben. Dort konnte die FPÖ punkten. (Wählerstromanalyse http://orf.at/wahl/wien15/#analysis/migration; http://wien.orf.at/news/stories/2736179/ )
Das Wahlbündnis "Wien Anders" aus KPÖ, Piratenpartei, Echt Grün und Plattform der Unabhängigen gewinnt zwar Mandate in den Bezirksvertretungen, wird aber in der Polarisierung zwischen SPÖ und FPÖ zerrieben und betrachtet "das Ergebnis weit, weit weg von dem, was wir uns erhofft und erwartet haben" (Piraten).
"Auch die Wahlresultate auf Bezirksebene – Wien Anders konnte nur 5 Bezirksratsmandate (in den Bezirken 2, 3, 5, 15 und 16) erzielen – verwandeln unser Wahlergebnis nicht zu einem Erfolg. Doch Verlierer ist nur, wer aufgibt!“, erklärte Wien Anders-Spitzenkandidatin Juliana Okropiridse.
Walter Baier, ehemaliger Vorsitzender der KPÖ und Koordinator von transform!, meint zu dem Ergebnis:
"Wäre ich Sozialdemokrat, ich würde dieses Wahlergebnis nicht bejubeln: Beunruhigen würde mich vor allem die breit publizierte Umfrage zur gefühlten Lebensqualität in Wien: SPÖ-, Grün-, VP- und Neo-Wähler_innen bekunden im erstaunlichen Ausmaß von 80 - bis 90 Prozent ihre Zufriedenheit mit den Zuständen in der Stadt. Ein Wahlvolk der Saturierten, es soll halt nur nicht schlechter werden! Bei den FPÖ-Wählern umgekehrt, 70 Prozent Unzufriedene. Wer unzufrieden ist, wählt FPÖ!
Und jetzt die Frage an meine sozialdemokratischen Freund_innen: Welcher Teil der Bevölkerung wird bei der gegenwärtigen Politik anwachsen, der der Zufriedenen oder der der Unzufriedenen? Der Sieg der SPÖ, wenn es denn einer war, ist ein Pyrrhus-Sieg, und die beinahe vollständig geglückte Marginalisierung linker Opposition im Land öffnet den Rechtsradikalen alle Türen. Zuerst schafft die Sozialdemokratie den demokratischen Diskurs ab und dann sich selber."
Zum Abschneiden von WIEN anders meint er:
"Man soll die Schwäche der Linken nicht schönreden, aber lassen wir die Kirche im Dorf. Wien anders hat in 7 Bezirken (Anmerkung: nach aktuellem vorläufigen Ergebnis wieder nur in fünf) Mandate erhalten (die KPÖ hatte 2010 drei); das heißt, ist in Gebietskörperschaften mit einer Wohnbevölkerung von 382.000 Menschen vertreten. Das ist so, weil Wiener Bezirke wie Leopoldsstadt und Ottakring ungefähr so groß wie Innsbruck sind. Man kann die Wahlergebnisse vergleichen und Schlüsse ziehen. Zu behaupten, dass die KPÖ alleine mehr geschafft hätte, übersieht die besonderen Umstände dieser Wahl, nämlich die künstliche Polarisierung zwischen FP und SPÖ, ... ."
Mirko Messner, Bundessprecher der KPÖ, sieht die Wien-Wahl so:
"Eine etwas geschwächte, aber nicht zerstörte SPÖ, eine mit nahezu einem Drittel der Stimmen zur zweitstärksten Partei gewordene rechtspopulistische FPÖ, stagnierende Grüne mit der Aussicht, wieder gemeinsam mit der SPÖ die Stadtregierung zu bilden, eine auf unter zehn Prozent geschrumpfte, aber in verjüngter Form der NEOS geklonte ÖVP, sowie eine auf niedrigem Niveau (im Vergleich zur KPÖ 2010) und in bescheidenem Ausmaß gestärkte linke Wahlallianz: das ist kurzgefasst das nummerische Ergebnis der Wiener Gemeinde- und Bezirksratswahl 2015.
Dass die SPÖ nach rechts verliert, und zwar nachhaltig, ließ sich nicht erst aus dem Ergebnis der jüngsten steirischen und vor allem oberösterreichischen Landtagswahlen ablesen. Der diesen Verlusten zugrundeliegende Erosionsprozess hat, wie mittlerweile von Teilen der Sozialdemokratie selbst begriffen, mit ihrer Einbindung in das neoliberale Abbruchunternehmen zu tun. Im Prinzip unterschiedet sich die Situation in Wien nicht von der allgemeinen – allerdings mit einer wesentlichen Einschränkung: Macht und Einfluss der Wiener Sozialdemokratie gründen auf dem beträchtlichen und selbst im europäischen Maßstab relevanten sozialen Erbe („Rotes Wien“), das sie verwaltet, zu dessen sukzessiven Abbau sie allerdings selbst beiträgt und so den Rechtspopulisten Räume öffnet (dies am Beispiel der Wiener Gemeindebauten auch im wortwörtlichen Sinn).
Es waren allerdings zumindest zwei andere aktuelle Momente, die die Spezifik der Wiener Wahl 2015 ausgemacht haben:
Erstens, das zwei Wochen vor der Wiener Wahl gebotene Drama der untergehenden SPÖ-Landespartei in Oberösterreich, die angesichts des Flüchtlingselends nicht vor hässlichen Lockrufen in rechtsextreme Richtung zurückschreckte – und am Wahlabend erkennen musste, dass ihr die Anbiederung an den Chauvinismus nicht nur nichts gebracht, sondern einerseits ihren Niedergang und andererseits den Höhenflug der FPÖ beschleunigt hatte (wobei die linke Alternative, die KPÖ in Linz, für ihr kompromissloses antirassistischen Engagement mit beachtlichem Stimmenzuwachs belohnt wurde, ähnlich wie die dortigen Grünen).
Das zweite spezifische Moment der Wiener Wahl, das wahlentscheidend wirkte, war das humanitäre Erwachen breiter Teile der Zivilgesellschaft, ebenfalls kurz vor der Wiener Wahl. Die abertausenden freiwilligen HelferInnen, die sich an den Autobahnen, an Österreichs Grenzen, an den Wiener Bahnhöfen unmittelbar engagierten, sie waren der Kern der antirassistischen Demonstrationen, die unmittelbar vor der Wiener Wahl eine ungeahnte Dimension erreichten – Zehntausende waren in Bewegung, 150.000 bei einem abschließenden Konzert vieler KünstlerIinnen am Wiener Heldenplatz.
Der Wiener Bürgermeister hat die Gunst dieser Stunden begriffen. Im Wissen, dass er nach rechts Stimmen verliert, kompensierte er dies, indem er sich nach links wandte. „Keine Koalition mit der FPÖ“, hatte Häupl bereits sehr früh wissen lassen, und in den Tagen unmittelbar vor dem Wahlgang wurde die dominierende Parole der Wiener SPÖ „Menschlichkeit statt Hetze“. Sie wurde zum Motto eines von den Medien mit Begeisterung aufgegriffenen und „Duells“ Häupl gegen Strache.
Nun ist dieses Duell-Gehabe SPÖ gegen FPÖ in Wien nichts Neues. Auch 2010 wurde dieses Stück gegeben, von den Medien mit beflissenem Engagement ausgeschmückt. Doch lief die Inszenierung diesmal nicht nur um Einiges heftiger ab, sondern vor dem Hintergrund eines viele Menschen zu Recht erschreckenden Höhenflugs der Rechtspopulisten bzw. Rechtsextremen, der viele linke WählerInnen – selbst aus den Reihen der KPÖ – nahezu panisch die Häupl-SPÖ unterstützen ließ. Diese Panik wurde von Meinungsforschungsinstituten befeuert, die als hochwirksame Meinungsbildungsinstitute und als Wahlhelfer sowohl für SPÖ als auch für die FPÖ agierten.
Der Alternative links von SPÖ und Grünen, d. h. der aus KPÖ, Piratenpartei, Plattform der Unabhängigen und der Gruppe Echt Grün bestehenden Wahlallianz „Wien anders – ANDAS“ gelang es in dieser Situation, das Stimmenniveau der KPÖ auf Gemeindeebene geringfügig, auf Bezirksebene deutlicher zu heben (von rund 10.600 auf knappe 12.500 Stimmen) und zusätzlich zu den drei KPÖ-Mandaten in drei Wiener Bezirken zwei weitere dazuzugewinnen. Was von außen, unter Beachtung der Umstände dieser Wahl, als durchaus respektables Ergebnis erscheint, wird von vielen Wien-anders-AktivistInnen als Enttäuschung erlebt. Meiner Meinung nach zu Unrecht, auch wenn es nicht gelungen ist, das hochgesteckte Ziel, den Schwung von Europa anders „mitzunehmen“ (bei den Europawahlen wurden in Wien an die doppelt so viele Stimmen für die linke Allianz abgegeben). Zu unterschiedlich waren die Voraussetzungen dieser zwei Wahlgänge.
Von einem Linksruck der SPÖ bzw. gar einer nach links tendierenden Wiener politischen Landschaft zu sprechen wäre im ersten Fall eine verwegene Illusion, im zweiten schlicht falsch und realitätsfern. So gut es ist, dass der Sozialdemokrat Häupl Bürgermeister in der einzigen österreichischen Millionenstadt bleibt und eben kein Rechtspopulist ihn ablöst, so real ist, dass der Rechtsextreme Gudenus laut Stadtverfassung Wiener Vizebürgermeister ist; dass die reale Macht der Rechtspopulisten in den Bezirken spürbar zugenommen hat; dass viele sozialdemokratische Repräsentanten auf Bezirksebene gut mit den Freiheitlichen können; und dass es natürlich auch in der Häupl-SPÖ Tendenzen gibt, letzteren entgegenzukommen. Der burgenländische SPÖ-Landeshauptmann Niessl hat sich bereits in eine formale Koalition mit der FPÖ begeben. Burgenland liegt, von Wien aus betrachtet, ums Eck.
Die AktivistInnen von „Wien anders“ werden in den kommenden Jahren genügend zu tun haben, um ihre Präsenz in den Wiener Bezirken auszubauen. Und nach allem, was bisher aus ihren Reihen zu hören war, sind sie fest entschlossen, daran zu arbeiten. Das wird auch nötig sein, denn von einem gegen den neoliberalen Mainstream gerichteten Richtungswechsel in der SPÖ kann – Duell hin oder her – keine Rede sein."
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Karikatur: Karl Berger