von Boris Kagarlitsky *)
12.04.2022: Das Misslingen der Bezahlung von russischem Gas in Rubel zeigt sehr gut, wie heutzutage Entscheidungen getroffen werden. Es scheint, als habe der Kreml ernsthaft geglaubt, dass sich die Dinge von selbst regeln würden, wenn man nur ein Dekret schreibt. Welch bürokratischer Idealismus.
Die Tatsache, dass russische Banken, bei denen Konten in Rubel eröffnet werden müssen, bereits mit Sanktionen belegt sind, dass es ein bestimmtes System für den Transfer von Geldern und die Bezahlung von gelieferten Ressourcen gibt, das seit Jahren etabliert ist, wurde nicht einmal in Betracht gezogen.
Die Weigerung des Westens, in Rubel zu zahlen, ist weniger ein Beweis für die Bereitschaft, an der Sanktionspolitik festzuhalten, als vielmehr ein Beweis für die Inkompetenz der russischen Führung und ihre völlige Unfähigkeit, die Lage richtig einzuschätzen. Als die Forderung abgelehnt wurde, musste sich Gazprom schließlich damit begnügen, das Gas über eine zwischengeschaltete Struktur für Rubel zu verkaufen, also praktisch an sich selbst. Und dann wurde alles an einen echten Käufer verkauft, wie zuvor, für Euro. Und das endgültige Eingeständnis des Scheiterns war die Erklärung von Putins Sprecher Peskow, dass das Gas auch dann geliefert würde, wenn die erwartete Rubelzahlung ausbleibt.
"Die Führungscrew unserer Titanic ist kategorisch nicht bereit, die Existenz von Eisbergen anzuerkennen. Und selbst wenn es sie gibt, wird unser Schiff sie alle zerschlagen und weiterfahren, als ob nichts geschehen wäre. Der Maschinenraum ist in perfekter Ordnung, und das Kapitänsdeck wird klug geführt. Wo wir segeln, spielt keine Rolle. Das Wichtigste ist, dass wir sicher sind und uns nichts aufhalten kann."
Boris Kagarlitsky, https://rabkor.ru/
Kurzum, die Treibstoff-Apokalypse in Europa ist abgesagt. Aber das wäre sowieso nicht passiert. Zumal, weil die Leute, die damit drohen, "Europa einzufrieren", ihre Drohungen zu Beginn des Winters und nicht mitten im Frühling hätten aussprechen sollen. Politisch ist es ihnen gelungen, Russland "einzufrieren". Aber auch das wird, glaube ich, nicht lange so bleiben.
Im Kreml versteht man nicht nur die Europäer nicht, die man wirklich für verwöhnte Feiglinge hält, was überhaupt nicht stimmt. Unsere Herrscher verstehen auch das eigene Volk nicht, das sie sich als die Masse der ungebildeten Bauern des 19. Jahrhunderts vorstellen, die an den Zaren und den Gott glauben und bereit sind, ohne Fragen zu stellen, Entbehrungen zu ertragen, zu kämpfen und klaglos unter dem Befehl zu sterben. Die Lebensweise der Bevölkerung des modernen Russlands unterscheidet sich kaum von der des Westens. Der Unterschied besteht nicht darin, dass unsere Bürger den Machthabern gegenüber loyaler sind, sondern dass sie stärker gespalten und eingeschüchtert sind. Aber die Krise wird sie dazu zwingen, sich zusammenzuschließen. Und zwar mit Sicherheit nicht um den Zaren.
Die Krise wird beginnen. Und das nicht nur für uns. Es ist ohnehin unvermeidlich. Die Weltwirtschaft steuert in jedem Fall auf eine weitere Rezession zu, und die Möglichkeiten des neoliberalen Kapitalismusmodells sind erschöpft. Ich habe dies schon oft geschrieben, und leider muss ich es wiederholen.
In der gegenwärtigen Situation ist alles, was in der Ukraine, hier und im Westen geschieht, nur Teil eines größeren globalen Prozesses der sozioökonomischen und politischen Transformation. Und Russland wird in der Tat eine sehr wichtige, vielleicht sogar eine Schlüsselrolle in diesem Prozess spielen. Nur ganz und gar nicht so, wie Putin und sein Umfeld und die Hurra-Patrioten, die ihnen vertrauen, es sich vorgestellt haben. Der bewaffnete Konflikt im Osten Europas stimuliert die längst überfälligen Tendenzen der wirtschaftlichen Vergesellschaftung und der technologischen Umstrukturierung. Und nun ergreift die Europäische Kommission Maßnahmen im Sinne des "Militärsozialismus", indem sie den Kauf von Gas und dessen Verteilung zentralisiert, während Politiker verschiedener Länder sogar von Verstaatlichung sprechen.
Aber auch rein administrative und sogar wirtschaftliche Maßnahmen können zu mehr führen. Die derzeitigen Eliten werden weder hier noch in Europa oder den Vereinigten Staaten in der Lage sein, mit der neuen Realität fertig zu werden. Die "Krise an der Spitze", von der Lenin während des Ersten Weltkriegs schrieb, ist in vollem Gange. Mehr als hundert Jahre später sind die Lehren des zwanzigsten Jahrhunderts noch immer nicht gezogen worden. Und man kann nur hoffen, dass es dieses Mal besser wird.
Quelle: Кагарлицкий letters, 2. April 2022, https://t.me/kagarlitsky,
eigene Übersetzung
*) Boris Kagarlitzsky
Boris Yulyevich Kagarlitsky ist ein russischer marxistischer Theoretiker und Soziologe, Professor an der Moskauer Hochschule für Gesellschafts- und Wirtschaftswissenschaft, Direktor des Instituts für Globalisierung und Soziale Bewegungen (IGSO) in Moskau.
Zu seinen in die englische Sprache übersetzten bekanntesten Bücher zählen "Russia, Ukraine and Contemporary Imperialism" und "Empire of the Periphery: Russia and the World System" (als pdf hier https://p302.zlibcdn.com/dtoken/4dd1e4936c7c5ed32a410e365f998a13)
Kagarlitsky lebt zur Zeit in Jakutsk (Jakutien), wo die Opposition um die KPRF die Wahl im September trotz des großen Wahlbetrugs gewonnen hat.