28.07.2021: ″Wir befinden uns in einer politisch hochbrisanten Zeit: Wir erleben womöglich die beginnende Transformation in ein neues Wirtschaftsparadigma, den Grünen Kapitalismus″, schreibt das Institut Solidarische Moderne ISM einleitend zu seinem Thesenpapier.
Das ISM geht davon aus, dass die Bundestagswahlen inmitten dieses umfassenden Umbruchs zu Richtungswahlen werden könnten: Setzt sich die kapitalistische Zerstörung von Mensch und Umwelt fort, bloß mit grünem Anstrich? Oder wird der Kapitalismus tatsächlich in Tiefe transformiert, die Produktions- und Lebensweise rundum auf Nachhaltigkeit umgestellt? Oder ist sogar eine Entgleisung möglich, eine Abweichung von der kapitalistischen Transformation in ein progressives Wirtschafts- und Gesellschaftsprojekt? Aufgabe der Progressiven sei es daher, die Weichen für ein sozial-ökologisches Transformationsprojekt zu stellen.
Vor diesem Hintergrund veröffentlichte das ISM vier Thesen für eine umfassende sozial-ökologische Transformation.
Wir brauchen einen neuen ökologischen und solidarischen Gesellschaftsvertrag
Vier Thesen für eine progressive Zeit
1. These: Wir erleben den Beginn eines Grünen Kapitalismus. Ein konservativer „Green New Deal“ führt zu einem erneuerten Neoliberalismus ohne soziale Idee. Aufgabe der Progressiven ist es daher, die Weichen für ein sozial-ökologisches Transformationsprojekt zu stellen.
Wir befinden uns in einer politisch hochbrisanten, unsere Lebensweise in jedem Sinne umwerfenden Zeit: Wir erleben womöglich die beginnende Transformation in ein neues Wirtschaftsparadigma, den Grünen Kapitalismus.
Noch ist völlig offen, wie nachhaltig und sozial das kommende Wirtschaften wird. Inmitten dieses umfassenden Umbruchs könnten die anstehenden Bundestagswahlen zu Richtungswahlen werden: Setzt sich die kapitalistische Zerstörung von Mensch und Umwelt fort, bloß mit grünem Anstrich? Oder wird der Kapitalismus tatsächlich in Tiefe transformiert, die Produktions- und Lebensweise rundum auf Nachhaltigkeit umgestellt? Oder ist sogar eine Entgleisung möglich, eine Abweichung von der kapitalistischen Transformation in ein progressives Wirtschafts- und Gesellschaftsprojekt?
Die momentanen Umfragen und Debatten legen derzeit insbesondere drei Szenarien nahe: eine Grün-Schwarze Koalition; eine Ampel; eine Grün-Rot-Rote Koalition. Die ersteren beiden lassen derzeit selbst viele progressive Wähler:innen hoffen: auf wenigstens die notwendigsten Schritte zu nachhaltigem Wirtschaften; auf wenigstens die notwendigste Abfederung wenigstens der schlimmsten sozialen Folgen dieser Umbrüche. Es ist ein Hoffen auf wenigstens minimal katastrophenmindernde Politik.
Natürlich ist auch dieses Hoffen begleitet von Zweifeln – und denen gilt es nachzugehen. Wahrscheinlich ist, dass eine Grün-Schwarze Koalition, ähnlich wie die Ampel, einen erneuerten progressiven Neoliberalismus hervorbringt: dass der grüne Anstrich nicht genug CO2 einzusparen vermag, dass die existenz- und lebensraumzerstörerischen Mechanismen unseres Wirtschaftens in Grün weiter wirken.
Und auch Grün-Rot-Rot, das progressivste aller möglichen Bündnisse auf Parteienebene, fände sich vor enormen Herausforderungen. Neben den bekannten ideologischen Debatten stünde es vor einer starken rechts-konservativ-liberalen gegnerischen Seite. Und dennoch ist diese Konstellation als einzige in der Lage, inmitten des globalen Umbruchs Wege hin zu einem gleichermaßen solidarischen wie ökologischen Wirtschaften zu finden.
Nun kann eine Regierungskoalition jedoch nur so progressiv sein, wie die Stärke der progressiven Teile der Gesellschaft es erlauben. Und so ist es an uns, die Transformation in den Grünen Kapitalismus zu erkennen und zu verstehen. Auszuloten, wo hier die neuen Weichenstellungen liegen. Weiter in die Zukunft zu schauen, als Schwarz-Grün es, gefangen in der kurzatmigen Logik verschiedener Kapitalfraktionen, vermögen. Von hier aus, vom Beginn des Grünen Kapitalismus, einen Weg aus den global zerstörerischen Mechanismen dieses Wirtschaftens heraus zu finden, also zu einem gleichermaßen nachhaltigen wie sozialen Wirtschaften, zu einem solidarischen Vertrag innerhalb der bestehenden Gesellschaft – und mit der zukünftigen Gesellschaft. Was wir derzeit aushandeln, ist ein neuer, intergenerationeller Gesellschaftsvertrag. Wie dieser aussieht, das hängt von uns ab. Hier kommt eine erste Skizze, die wir diskutieren wollen.
ISM-Forum am 29. Juli 2021, 18:00 - 20:00 Grüner Kapitalismus: Wie geht eine sozial-ökologische Transformation? Am Beginn der Veranstaltung werden die vier Thesen für eine solidarische Transformation einleitend von Mitgliedern des ISM-Vorstandes vorgestellt. Anschließend nach einem Kommentar von Kuratoriumssprecherin Katrin Mohr (politische Sekretärin im Bereich Grundsatzfragen und Gesellschaftspolitik beim Vorstand der IG Metall) Diskussion. Zoom-Zugangsdaten |
2. These: Es gibt bereits gute, umsetzbare Ideen für eine gleichermaßen soziale wie ökologische Transformation von Arbeit und Gesellschaft.
Nach anderthalb Jahren Pandemie spüren wir umso mehr: Gesellschaftliche Krisen treffen zwar alle Menschen, doch nicht alle gleich. Das gilt auch für die Klimakrise. Es hängt nun von politischem Handeln ab, ob die Gesellschaft im Kampfmodus durch diese Krisen geht – also die Schwächsten am stärksten leiden –, oder ob sie sich angesichts dieser historischen Herausforderung in Solidarität sammelt. So düster die drohende Gefahr einer Klimakatastrophe über uns schwebt, so hell kann die Freude darüber strahlen, dieser Prognose zu trotzen und eine Zukunft zu schaffen, in der die Menschheit wieder atmen, sicher sein, leben kann. Diese Freude, die Lust auf Veränderung, auf das Bauen einer neuen Gesellschaft, kann nicht allein aus Parteien, kann nicht allein aus einer Bundesregierung kommen. Dazu muss sich die Gesellschaft entschließen, angetrieben von all jenen, die eine Idee haben, wo entlang wir gehen müssen. Und wir haben eine Idee.
Erwerbsarbeitszeitverkürzung
Die Klimakrise bringt bereits jetzt eine fruchtbare Erkenntnis mit sich: Lohnarbeit ist nicht an sich gut. Es ist nicht erstrebenswert, dass möglichst alle möglichst viel lohnarbeiten, egal was, egal wie.
Die Industriearbeit zeigt: Arbeit kann zerstören, ebenso der auf sie gestützte Konsum. Die Corona-Pandemie zeigt: Unser Tätigsein schließt viel mehr ein als den „Job“ oder die „Stelle“. Pflegekräfte arbeiten über ihren Lohn hinaus, viele Menschen pflegen und sorgen unbezahlt, und diese Arbeit wird in der Gesundheitskrise in all ihrer Notwendigkeit sichtbar. Die alte Teilung zwischen der Männer-profitierenden und -ermächtigenden bezahlten Lohnarbeit, und der meist von Frauen geleisteten unbezahlten Heim- und Sorgearbeit wird in ihrer Absurdität sichtbar. Sie muss endgültig fallen.
Es ist also Zeit, die Arbeitswelt zu transformieren:
- Nutzen wir den technologischen Wandel, um die Erwerbsarbeitszeit zu verkürzen. Schaffen wir so mehr Zeitsouveränität und ermöglichen wir mehr Zeit für die Demokratiearbeit ( → 4. These), die in Krisen- und Transformationszeiten besonders nötig und zeitintensiv ist.
- Probieren wir neue Arbeitsformen aus, die die Arbeit an die Lebenswelt anpassen. Flexibilität wird neu definiert: orientiert an den Bedürfnissen der Arbeitenden, nicht an der Logik des Profitmachens. So entsteht Zeitsouveränität.
- Zeitsouveränität bedeutet auch, selbstbestimmt dem eigenen Begehren zur Verfügung stehende Zeit einzurichten dort, wo wir sie brauchen: Unbestimmte, nicht zwingend zielgerichtete, nicht zwingend in-Wert-zu-setzende und daher im kapitalistischen Sinne unverwertbare Zeit, und damit die schönste aller Zeiten: freie Zeit.
Tun wir all dies, stellt sich automatisch die alte Frage nach einer bedingungslosen Grundsicherung neu. Es ist eine schwierige Frage, die uns alle zu einem ebenso offenen wie produktiven Dialog auffordert.
Solidarisches Eigentum
Nach Jahrzehnten der Privatisierung von Gesundheit, Wohnraum, Energie, Mobilität, öffentlicher Daseinsvorsorge, zentraler Infrastruktur und digitaler wie kultureller Teilhabe führen uns die gegenwärtigen Krisen vor Auge: Die Gesellschaft braucht diese ihr lebenswichtigen Produktionsmittel in ihrer Hand, sonst sind wir tödlich bedroht.
Die zweite zentrale Transformationsaufgabe besteht daher in der Wiederaneignung des Solidarischen Eigentums, so wie die Berliner Kampagne „Deutsche Wohnen & Co. enteignen“ es uns gerade zeigt. Wenn sich die Gesellschaft gut organisiert, können diese Güter allen gratis oder zu geringen Kosten zur Verfügung gestellt werden. Wenn die Basis des guten Lebens so gesichert ist, können Menschen von einem Konsum Abstand nehmen, der immer auswegloser zum Konsum von Wegwerfartikeln wird, mit dem letztlich die ganze Welt, alles Leben und wir selbst zu Wegwerfartikeln werden. Und wenn die kulturelle wie gesellschaftliche Teilhabe von der Gesellschaft gestellt wird und nicht aus den individuellen Lebenskosten heraus gestemmt werden muss, wäre das ein erheblicher Schritt dahin, dass die Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit keine Frage der individuellen Finanzierbarkeit mehr wäre.
Feminismus
Feministische Kämpfe haben in den letzten Jahren eine erstaunliche Wirkkraft entwickelt und doch lässt sich fragen, wie sehr sie in den Parteien angekommen sind. Wir denken an #metoo, an die Bewegungen gegen Gewalt und Femizide, an die Frauenstreiks. Diese Kämpfe müssen immanenter Bestandteil eines progressiven Projekts sein.
Alle, die hier sind
Eine wirklich freie Teilung des Tätigseins unter Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit und ein dafür unabdingbares Solidarisches Eigentum an Gesundheit, Bildung, Wohnen, Verkehr, Energie muss allen frei und gleich zugänglich sein, die hier sind. Das ist die elementare Grundlage der Demokratie. Ein Gesellschafsvertrag, der den Anspruch auf Freiheit, Gleichheit und Solidarität hat, schließt niemanden aus.
Dieses Transformationsprojekt schreibt daher Bürger:innenschaft neu und erweitert sie um alle, die hier sind. Dies impliziert das Wahlrecht. Wenn die Republik dazu nicht in der Lage ist, beginnen wir in den Städten: mit Stadtbürger:innenschaften, wie sie in den USA bereits als sanctuary cities erprobt werden.
Menschenrechte global durchsetzen
Dass es mit der gleichen Verteilung demokratischer und sozialer Rechte innerhalb dieser neuen Bürger:innenschaft jedoch nicht getan ist, führt uns die aktuelle Pandemie deutlich vor Augen. Impfstoffe und ihre Herstellungsrechte etwa gehören zu jenen existenziellen Gütern, die global solidarisch verteilt werden müssen. Soziale Rechte enden nicht an den Grenzen des Hier, sie sind global. Das gilt unabhängig von Herkunft, Pass, Haut- und Haarfarbe: Ein Gesellschaftsvertrag, der diesen Namen zu Recht trägt, schließt niemanden aus. Wir sagen nicht, dass es einfach ist, dies zu erreichen. Wir sagen aber, dass wir es dort, wo es möglich ist, umsetzen müssen.
Einem progressiven Bündnis stünde es gut an, die Aufhebung des Patentrechts ganz oben auf die Tagesordnung zu setzen. Ebenso wie ein progressives Bündnis niemals aus dem Blick verlieren darf, dass die Frage von Flucht und der Abschottung der Grenzen nach wie vor zentral ist. Solidarität mit Geflüchteten lokal vor Ort, das Eintreten für offene Grenzen und ein Ende des europäischen Abschottungsregimes sind dabei einige der Stichworte.
3. These: Die soziale und ökologische Transformation von Arbeit und die Bereitstellung gesellschaftlicher Güter ist bezahlbar.
Rückgrat für den Aufbau einer allen gleich zugänglichen gesellschaftlichen Infrastruktur ist die Steuerpolitik. Notwendig für die Finanzierung der Transformationsprojekte (und der Corona-Krisenkosten) ist eine progressive Einkommensteuer, die alle Einkünfte aus Kapitalerträgen einschließt; eine einmalige Vermögensabgabe für das obere 1% der vermögendsten Privatpersonen zur Überwindung der Pandemie; eine Wiederbelebung der Vermögensteuer; eine Verschärfung der Erbschaftsteuer bei Betriebsvermögen; eine Reform der Körperschaftsteuer und Gewerbesteuer; eine Finanztransaktionsteuer auf sämtliche Börsenumsätze; sowie die von Joe Biden bereits vorgeschlagene globale Mindeststeuer für Unternehmen. Diese Maßnahmen dienen der Rückverteilung der in den vergangenen 20 Jahren aus der Gesellschaft in die Privatwirtschaft wegverteilten Ressourcen.
Neben der Steuerpolitik brauchen wir eine Abschaffung oder Reform der Schuldenbremse, so dass langfristige Investitionen in den ökologischen Umbau und die Daseinsvorsorge des Bundes sowie der Länder und Kommunen mit zinsgünstigen Krediten finanziert werden können.
Wer uns bis hierhin folgt, wird sich auch der Tatsache stellen müssen, dass eine Verkürzung der Erwerbsarbeitszeit nicht für alle – insbesondere nicht für die höheren Einkommenssegmente – zum vollen Ausgleich des damit erzielten Einkommens zu haben sein wird. Genau deswegen braucht es für Diskussionen über eine sinnvolle Form der Arbeitszeitverkürzung auch konkrete Lösungsvorschläge für eine solidarische Umverteilung und für einen Gesellschaftsvertrag, durch den ein Mehr an solidarischem Eigentum für alle entsteht.
4. These: Demokratie ist in der Lage, Krisen zu bewältigen. Dafür müssen Parteien neu strukturiert, die Organisierung der Zivilgesellschaft vertieft und die Zusammenarbeit zwischen diesen beiden Ebenen der Demokratie gestärkt werden.
Demokratie muss sich weiterentwickeln, um in Zeiten der permanenten Krise denken, atmen und handeln zu können. Der Antrieb einer solchen transformativen Kraft ist nicht von den Parteien zu erwarten sondern von der Gesellschaft. Gut organisiert ist diese Gesellschaft in der Lage, auf kommende Krisen nicht nur adäquat zu reagieren, um sie zu überleben, sondern sie kommen zu sehen und sich auf sie vorzubereiten – oder, im besten Fall, sie abzuwenden.
Wir können lernen, mit Krisen umzugehen. Dafür braucht es eine gut organisierte Zivilgesellschaft, als eigensinnige Partnerin von Regierungsstrukturen und ihren Akteur:innen. Dieses Aushandeln eines neuen Gesellschaftsvertrags muss in Regierungshandeln einfließen, ebenso wie Regierungshandeln diese Organisierung fördern muss: indem Zeit dafür geschaffen wird (Arbeitszeitverkürzung) und indem die Grundlagen für diese Strukturen finanziert werden als öffentliche Daseinsvorsorge.
Der neue Gesellschaftsvertrag wird die Grundlage für unser Wirtschaften und Leben in den kommenden Jahrzehnten bilden – weit über die anstehende Bundestagswahl hinaus. Grün-Rot-Rot wird eine starke Zivilgesellschaft brauchen, die ihr Wege der Transformation aufzeigt und den Mut findet, sie zu gehen. Unter Grün-Schwarz wird diese Organisierung umso wichtiger sein, um die Handlungsunlust der Parteien zu durchbrechen und die Transformation gegen ihre Bremsung durch die Union voranzutreiben.
Wenn die Inhalte der Parteien zu marktkonform, zu ängstlich sind, um es mit der Krise aufnehmen zu können, dann braucht es Fridays For Future, Black Lives Matter, #metoo, die noch immer Aktiven der Willkommensbewegung, dann braucht es Wohneigentums-Genossenschaften, sozial und ökologisch orientierte Banken, autarke kulturelle Institutionen, Denkwerkstätten und progressive Parteipolitiken, um neue Wege zu gehen.
Wir sind inmitten einer offenen Auseinandersetzung um einen ökologischen und solidarischen Gesellschaftsvertrag. Stehenbleiben ist keine Option.
19.07.2021
ISM-Vorstand