Rosa Luxemburg und der Parlamentarismus
05.03.2021: Neben der Corona-Pandemie wird das Jahr 2021 sicher auch im Zeichen der sechs Landtagswahlen (Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, Thüringen, Sachsen-Anhalt, Berlin, Mecklenburg-Vorpommern) und vor allem der Bundestagswahl am 26. September stehen, der sich daraus ergebenden Zusammensetzungen der Parlamente und der Fragen nach möglichen Regierungskonstellationen. Günther Stamer (Kiel) nimmt den 150. Geburtstag von Rosa Luxemburg am 5. März zum Anlass, an ihren Blick auf demokratisches Wahlrecht, Parlamentarismus und Rätedemokratie zu erinnern.
Neben der Corona-Pandemie wird das Jahr 2021 sicher auch im Zeichen der sechs Landtagswahlen (Baden-Württemberg, Rheinland-Pfalz, Thüringen, Sachsen-Anhalt, Berlin, Mecklenburg-Vorpommern) und vor allem der Bundestagswahl am 26. September stehen, der sich daraus ergebenden Zusammensetzungen der Parlamente und der Fragen nach möglichen Regierungskonstellationen.
Gerade auch die zurückliegenden Ereignisse um die us-amerikanische Präsidentenwahl und dem Sturm der "Proud- Boys" "ihres" Präsidenten Trump auf das Capitol, dem Parlamentsgebäude in Washington, das den Kongress, das Repräsentantenhaus und den Senat beherbergt, diesem "Heiligtum dieser Demokratie" (so der allgegenwärtige "Stehsatz" der Medien), haben Wahlen und bürgerliche Demokratie wieder stärker in den politischen Fokus gerückt. Nicht vergessen werden sollte auch das "bürgerliche Trauerspiel" um die Wahl des Ministerpräsidenten in Thüringen vor einem Jahr, als erstmals ein Landesoberhaupt mit den Stimmen der rechten AfD gewählt wurde – was dann auch u.a. durch außerparlamentarischen Protest korrigiert werden konnte.
Die politische Linke hat ja durchaus eine zwiespältige Haltung zu bürgerlichen Parlamenten als Ausdruck der "repräsentativen Demokratie" als Gegensatz zur "direkten Demokratie" wie dies z,B. in "Räten" zum Ausdruck kommt und aktuell im Zusammenhang mit dem Jahrestag der Novemberrevolution wieder diskutiert wurde. Die Auseinandersetzung um demokratisches Wahlrecht, Parlamentarismus, Rätedemokratie wurde in der deutschen Arbeiterbewegung leidenschaftlich diskutiert. Eine zentrale Rolle spielte dabei Rosa Luxemburg.
Ihr 150. Geburtstag am 5. März bietet dazu einen guten Anlass, an ihren Blick auf diese Frage zu erinnern. Nebenbei bemerkt: Ihr einziger Aufenthalt in Kiel fand im Zusammenhang mit der Wahlkampagne der Sozialdemokratie gegen das Dreiklassenwahlrecht 1907 statt.
Das preußische Dreiklassenwahlrecht ...
Anfang des 20.Jahrhunderts war der Kampf um ein demokratisches Wahlrecht ein wichtiger Baustein in der Strategie der Sozialdemokratie um grundsätzliche politische Veränderungen. Dabei entwickelte sie in den Jahren 1906 bis 1910 eine wirkliche Massenbewegung gegen das reaktionäre Dreiklassenwahlrecht, das Hunderttausende auf die Straße brachte und ausdrücklich den Kampf um das Frauenwahlrecht mit einschloss.
Das Dreiklassenwahlrecht galt in Preußen und später im Deutschen Reich seit 1850 bis zur Novemberrevolution. Die Bezeichnung rührt daher, dass die Wähler ein nach Steuerleistung in drei Abteilungen ("Klassen") abgestuftes Stimmengewicht besaßen. Wahlberechtigt war jeder Mann, der das 24. Lebensjahr vollendet hatte und seit mindestens sechs Monaten seinen Wohnsitz in einer preußischen Gemeinde hatte. Er durfte nicht durch rechtskräftiges Urteil die bürgerlichen Rechte verloren haben oder öffentlich Armenunterstützung erhalten.
Die Wahl der Abgeordneten erfolgte indirekt: die wahlberechtigten Wähler wählten Wahlmänner, diese wiederum die Abgeordneten ihres Wahlbezirkes. Die Wahl fand an Werktagen statt, was den Arbeitern die Teilnahme erschwerte. Im ersten Wahlgang mussten die Wähler nach Aufruf offen den Namen des Wahlmannes nennen, dem sie ihre Stimme gaben. Beim zweiten Wahlgang kamen die Wahlmänner eines Wahlkreises zusammen und wählten – ebenfalls offen – einen Abgeordneten.
Vor allem aber war es ein ungleiches Wahlrecht, weil die Stimmen je nach Klasse einen sehr unterschiedlichen Erfolgswert hatten. So gab es in manchen Stimmbezirken in der ersten Klasse nur ein oder zwei Wähler; sie hatten aber das gleiche Stimmengewicht wie mehrere hundert Wähler der dritten Klasse.
... galt ab 1867 auch in Schleswig-Holstein
Am 12. Januar 1867 annektierte Preußen die Herzogtümer; geeint nun durch einen Bindestrich wurden sie als weitere Provinz dem Königreich Preußen einverleibt. Damit zerschlug sich die Hoffnung der Schleswig-Holsteiner auf territoriale staatliche Existenz als Gliedstaat eines geeinten Deutschen Reiches wie es den Demokraten in der bürgerlichen Revolution 1848/49 vorgeschwebt hatte.
Als preußische Provinz galten für Schleswig-Holstein von 1867 an die Normen und der Aufbau der preußischen Verwaltung. Es wurde ein Regierungsbezirk gebildet an deren Spitze der Oberpräsident stand und der im wesentlich das umzusetzen hatte, was Berlin vorgab. Der Provinziallandtag war eine Versammlung von Repräsentanten der Stadtverordnetenversammlungen und der Kreistage. Seine Aufgabe war eine Art kommunaler Selbstverwaltung in parlamentarischer Form. Politischer Einfluss auf die Geschicke der Provinz war eingeschränkt möglich über die zweite Kammer des Preußischen Landtages. Der wurde bis 1918 gemäß der Steuerkraft nach dem Dreiklassenwahlrecht zusammengesetzt.
Schleswig-Holsteins Arbeiter im Kampf gegen das preußische Dreiklassenwahlrecht
Die Sozialdemokratie nahm Anfang 1906 entschieden den Kampf gegen die Ungerechtigkeit dieses Klassenwahlsystems auf. Dabei wurde zum einen schon in der Teilnahme an den Wahlkämpfen ein großartiges Agitationsmittel gesehen; zum anderen sollte der Wahlrechtskampf mit einer sichtbaren Mobilisierung der Arbeitermassen auf der Straße auch außerparlamentarisch "die Machtfrage stellen". Denn zahlreiche Sozialdemokraten - allen voran Rosa Luxemburg, Karl Liebknecht und Franz Mehring glaubten angesichts der realen Machtverhältnisse nicht, dass allein der parlamentarische Weg zum Sozialismus führen könnte.
Auf Beschluss des Parteivorstandes sollten am Sonntag dem 21. Januar 1906 erstmalig in ganz Preußen große Demonstrationsversammlungen gegen das Dreiklassenwahlrecht durchgeführt werden. Auch in den großen Städten Schleswig-Holsteins, in Altona, Kiel, Flensburg und Neumünster wurde eifrig für diese Versammlungen agitiert.
Schon im Vorfeld dieser angekündigten Massenagitation kam es in Hamburg in der Nacht des 17. Januar rund um den Fischmarkt zu gewalttätigen " Straßenunruhen" im Zusammenhang mit von der Hamburger Sozialdemokratie abgehaltenen Protestversammlungen gegen die Verschlechterungen des kommunalen Wahlrechts in der Hansestadt. [1]
In der Folge dieser Ereignisse bat der schleswig-holsteinische Oberpräsident Innenminister Bethmann-Hollweg am 19. Januar darum, die für den 21. Januar in Altona angemeldeten sozialdemokratischen Veranstaltungen zu verbieten. Es sei "Zuzug des Hamburger Pöbels" und eine Wiederholung der Exzesse in Altona mit Sicherheit anzunehmen, und dies sei mit Rücksicht auf die Sicherheit von "Hab und Gut" der Bürger Altonas zu verhindern. Das daraufhin ausgesprochene Verbot der Veranstaltungen hatte allerdings vor dem Preußischen Oberverwaltungsgericht keinen Bestand.
Außer in Altona fanden Veranstaltungen in Ratzeburg, Tönning, Kiel, Neumünster, Heide, Büsum, Eckernförde, Kopperpahl (Kreis Bordesholm), Apenrade, Elmschenhagen, Pinneberg, Bad Segeberg und Flensburg gegen das Dreiklassenwahlrecht. Auch am 18.März 1906 wurden im ganzen Land wieder Veranstaltungen gegen das Dreiklassenwahlrecht abgehalten, diesmal am Tage der "Ehrung der Märzgefallenen". Den Höhepunkt erlebte die Wahlrechtskampagne der Sozialdemokratie im Frühjahr 1910.
Im Vorfeld erließ z.B. die Polizeibehörde in Neumünster am 18. Februar folgende "Bekanntmachung: Die Straße dient lediglich dem Verkehr. Bei Widerstand gegen die Staatsgewalt erfolgt Waffengebrauch. Ich warne Neugierige. In Anlaß der letzten Unruhen habe ich die Exekutiv Polizeibeamten mit Armeerevolvern bewaffnet. Unter Hinweis auf die §§ 115 und116 des Strafgesetzbuches warne ich jedermann, Menschenansammlungen sich anzuschließen."
Trotz dieser Warnung fand am 10. April die vom Gewerkschaftskartell einberufene Versammlung unter freiem Himmel statt. Ein Demonstrationszug von annähernd 3.000 Teilnehmern zog nach Schluss der Versammlung durch Neumünster. "Vor dem Rathaus und der Wohnung des Oberbürgermeisters wurden Hochrufe auf das allgemeine und freie Wahlrecht ausgestoßen." [2]
Rosa Luxemburg in Gaarden
Rosa Luxemburg vertrat auch in der Wahlrechtskampagne die Auffassung, wonach es auf eine richtige Synthese von parlamentarischem und außerparlamentarischem Kampf ankomme und ein gerechteres Wahlrecht allein die Macht im Staate nicht erringen würde.
In diesem Sinne agitierte Rosa Luxemburg auch am 18. Januar 1907 in Kiel, als sie kurz vor der Reichstagswahl im "Kaisersaal" an der Werftstraße auftrat. Die sozialdemokratische "Volkszeitung" berichte darüber ausführlich:
"Rosa Luxemburg in Gaarden. Die Ankündigung, daß Genossin Luxemburg am Freitagabend im "Kaisersaal" in Gaarden sprechen würde, hatte in der arbeitenden Bevölkerung unserer Stadt und der Umgegend geradezu Sensation gemacht. Schon am Tage nach der ersten Bekanntmachung waren in den meisten Verkaufsstellen die vorhandenen Eintrittskarten vergriffen. Es war denn auch eine förmliche Völkerwanderung, die sich gestern Abend aus allen Richtungen nach dem bekannten Versammlungslokal im Gaardener Stadtteil in Bewegung setzte. Lange vor der Eröffnung der Versammlung war der große Saal des Etablissements im wörtlichsten Sinne überfüllt von einer Menge, die, nach Entfernung der Tische und Stühle, Kopf an Kopf in geradezu beängstigender Zusammenpressung auf das Erscheinen der Rednerin mit Spannung, aber in musterhafter Ruhe und Ordnung wartete. Schon vor 1/2 8 Uhr mußte das Lokal polizeilich abgesperrt werden. Die Versammlung war auch zahlreich von Frauen besucht."
Danach zitiert die Zeitung aus der Rede Luxemburgs :
"Geben doch in der Tat diese Reichstagswahlerfolge noch lange nicht ein zutreffendes Bild von unserer Stärke. Wo sind die Scharen nicht wahlberechtigter junger Arbeiter, die unzähligen Massen von Frauen, die hinter der roten Fahne der Sozialdemokratie stehen? Nicht einmal unsere Organisationen geben auch nur annähernd einen Begriff von der Macht des revolutionären Heeres, denn es fehlen die Landproletarier, es fehlen die Eisenbahnsklaven, die Postsklaven, die ganz gewiß alle zu uns gehören, und nicht zu der herrschenden Klasse oder zur Regierung. Die Sozialdemokratie ist eben die Führerin der enormen Masse des noch nicht aufgeklärten, noch nicht organisierten Proletariats. In deren Interesse ist es auch ihre Pflicht, die gegenwärtige Wahl so auszunützen, daß sie wie ein Sturmgeläute zur endlichen Befreiung aller Ausgebeuteten, aller Unterdrückten durch die Lande braust. (Enthusiastischer, lang anhaltender Beifall.)" [3]
"nicht die parlamentarischen Kämpfe als die Zentralachse des politischen Lebens betrachten"
In ihrem 1904 erschienen Artikel "Sozialdemokratie und Parlamentarismus" weist sie – historisch betrachtet – nach, dass es eine Illusion sei, dass das Parlament "die Zentralachse des sozialen Lebens, die treibende Macht der Weltgeschichte sei." Erfolgreich werde der Kampf der Arbeiterklasse nur sein, "wenn nicht allein auf das Parlament, sondern auch auf die direkte Aktion der proletarischen Masse" orientiert werde.
"den bürgerlichen Parlamentarismus vor der Bourgeoisie und gegen die Bourgeoisie retten"
Gleichzeitig fordert sie die Sozialdemokratie auf, "den bürgerlichen Parlamentarismus vor der Bourgeoisie und gegen die Bourgeoisie zu retten." Es sei deren "Pflicht, diese verfallene Ruine der bürgerlich-demokratischen Herrlichkeit in einer solchen Weise zu schützen und zu unterstützen, die zugleich den schießlichen Untergang der gesamten bürgerlichen Ordnung und die Machtergreifung des sozialistischen Proletariats beschleunigt." [4]
Wie geschildert, nahm die Auseinandersetzung um ein demokratisches Wahlrecht zwischen 1906 und 1910 neue Fahrt auf. Die preußische Regierung hatte eine Vorlage zur "Reform" des Dreiklassenwahlrechts eingebracht, die weit über die Reihen der Sozialdemokratie hinaus auf empörte Ablehnung stieß. Überall in den preußischen Großstädten kam es im Februar und März 1910 zu großen Straßenkundgebungen.
In diesem Zusammenhang plädierte Luxemburg in ihrem Artikel "Was weiter" für die Ausdehnung dieser Massenaktionen in Richtung Massenstreiks.
"Die preußische Wahlreform kann unmöglich durch parlamentarische Mittel gelöst werden, nur eine unmittelbare Massenaktion draußen im Lande vermag hier Wandel zu schaffen. Die Äußerungen des Massenwillens lassen sich nämlich nicht künstlich auf Dauer auf ein einer und derselben Höhe erhalten, in die eine und dieselbe Form einkapseln. Sie müssen sich steigern, sich zuspitzen, neue wirksamere Formen annehmen. Die einmal entfachte Massenaktion muß vorwärtskommen." [5]
Aber die sozialdemokratische Parteiführung hatte – von der Generalkommission der Gewerkschaften unter Druck gesetzt – offensichtlich Furcht vor einem Weitertreiben der Kämpfe in Richtung betrieblicher Massenstreiks und stoppte die Bewegung für ein demokratisches Wahlrecht plötzlich ab. Vier Jahre später kapitulierte sie dann auch im Parlament vollständig, indem sie nach Entfesselung des 1. Weltkrieges den Kriegskrediten zustimmte und auf die Position des Sozialchauvinismus und der Burgfriedenspolitik wechselte.
Zu Beginn der Novemberrevolution sah es dann zunächst so aus, als würde eine Rätedemokratie den abgewirtschafteten bürgerlichen Parlamentarismus ersetzen, doch diese Hoffnung zerstob nur zu bald. Bereits der im Dezember 1918 in Berlin tagende Reichsrätekongress der Arbeiter- und Soldatenräte sprach sich paradoxerweise gegen eine Rätedemokratie und stattdessen für die Einberufung einer parlamentarischen Nationalversammlung aus - und beschloss damit ihre eigene Selbstenthauptung. Von den dort anwesenden 489 Delegierten gehörten 291 der MSPD an, 90 der USPD (einschl. 10 Mitgliedern der Spartakusgruppe). Der Antrag, Karl Liebknecht und Rosa Luxemburg mit beratender Stimme zuzulassen, wurde durch die sozialdemokratische Mehrheit abgelehnt.
Am 20.11.1918 hatte Rosa Luxemburg in der Zeitung "Die rote Fahne" der Spartakusgruppe unter der Überschrift "Die Nationalversammlung" geschrieben: "Wer heute zur Nationalversammlung greift, schraubt die Revolution bewußt oder unbewußt auf das historische Stadium bürgerlicher Revolutionen zurück. Unter dem Feldgeschrei: 'Demokratie oder Diktatur!' wird der Kampf um die Nationalversammlung geführt. Nicht darum handelt es sich heute. Die von der Geschichte auf die Tagesordnung gestellte Frage lautet: bürgerliche Demokratie oder sozialistische Demokratie." [6]
Bei den Wahlen in der Weimarer Republik sollte sich dann das bewahrheiten, was Friedrich Engels 1865 prophezeit hatte, als er schrieb: "Was würde das Resultat des allgemeinen Stimmrechts in Deutschland sein, wo der Feudaladel noch eine wirkliche soziale und politische Macht ist. Die Bekämpfung der feudalen und bürokratischen Reaktion (…) ist in Deutschland gleichbedeutend mit dem Kampf für geistige und politische Emanzipation des Landproletariats – und solange das Landproletariat nicht in die Bewegung mit hineingerissen wird, solange kann und wird das städtische Proletariat in Deutschland nicht das geringste ausrichten, solange ist das allgemeine, direkte Wahlrecht für das Proletariat keine Waffe, sondern ein Fallstrick." [7]
Linkes Mitregieren – ein "Fallstrick" für die politische Linke?
Blicken wir in die Gegenwart. Im Vorfeld der anstehenden Wahlen wird insbesondere für die Partei DIE LINKE die Frage stehen, wie die Wahlkämpfe genutzt werden können, einer drohenden grün-ökologische Modernisierung unter konservativer und neoliberaler Hegemonie politische Alternatives entgegenzusetzen, die – über das "linke Milieu" hinausreichend - von größeren Teilen der arbeitenden Bevölkerung geteilt werden.
Darüber hinaus wird DIE LINKE sich zu der Frage positionieren müssen: Wie halte ich‘s mit wahlpolitischen Mehrheitskonstellationen, die ein Mitregieren möglich machen? Die bisherigen Erfahrungen mit Regierungsbeteiligungen (wie in Berlin oder Thüringen) sind dabei nicht gerade ermutigend – haben sie doch nicht dazu geführt, von einem bloß wahltaktischen Projekt der drei Parteien (LINKE, SPD, Grüne) zu einem wirklich inhaltlich-strategischen Projekt eines "linken Pols" der Gesellschaft werden.
Ist daher eine Diskussion über die Bedingungen linker Zukunftsprojekte und linken Regierens vor drohendem schwarz-grünem Hintergrund hinfällig, fragt Mario Candeias, Direktor des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung. Nein, lautet seine Antwort, und er plädiert in seiner Analyse für ein "Zehn-Punkte Programm" als politische Grundlage:
"Unsere Gegner sind nicht rot oder grün, sondern eine mögliche schwarz-grüne (oder grün-schwarze) Koalition sowie die radikale Rechte. Ein Gebrauchswert der LINKEN ist nun einmal auch, die SPD und vor allem die Grünen nicht einem kapitalistischen Modernisierungskurs zu überlassen bzw. ein 'Weiter so' zu erlauben. Aber wie geht das?
Ein solches Zehn-Punkte-Programm sollte zusammen mit einem breiten Bündnis aus linken zivilgesellschaftlichen Gruppierungen und Wissenschafter*innen entwickelt werden. Programmatische Schnittmengen existieren bereits jetzt im Mitte-links-Spektrum, wie die gemeinsamen Papiere von IG Metall und BUND oder Fridays For Future und ver.di zeigen.
Wir sollten von der Formel R2G als arithmetisch-mediales Farbenspiel Abschied nehmen und offensiv für eine Linksregierung, neue linke Mehrheiten oder einen sozialökologischen Systemwechsel eintreten, um zu markieren, dass es uns um mehr geht als um bloßes Mitregieren. Noch bevor der Bundestagswahlkampf losgeht, bräuchte es vonseiten eines sozialen und ökologischen Pols einen entsprechenden Weckruf für einen Aufbruch, der – nach der Stilllegung vieler Proteste in der Pandemie – den Willen der Vielen wieder auf die Straße tragen kann." [8]
Anmerkungen
[1] Matthias Schartl, Die Massen auf der Straße. Schleswig-Holsteins Arbeiter im Kampf gegen das preußische Dreiklassenwahlrecht 1906-1910. In: Demokratische Geschichte Bd. 5, Neuer Malik Verlag, Kiel 1990, S. 154ff.
[2] a.a.o., S. 186
[3] https://www.spd-geschichtswerkstatt.de/wiki/Rosa_Luxemburg
[4] Rosa Luxemburg, Ausgewählte politische Schriften in drei Bänden. Frankfurt/Main 1971, Band 1, S. 218/220
[5] Rosa Luxemburg, a.a.O, Band 2, S.126/127
[6] Rosa Luxemburg, a.a.O. Band 3, S. 204
[7] MEW 16, S. 74
[8] Am Konflikt arbeiten. Über Zukunftsprojekte und linkes Regieren
https://www.kommunisten.de/rubriken/meinungen/8062-am-konflikt-arbeiten-ueber-zukunftsprojekte-und-linkes-regieren