Von Wilder Perez Varona, Subdirektor des Instituto de Filosofía, La Habana
09.10.2020: "Es gibt ein ungelöstes Problem zwischen den Modalitäten der Vergesellschaftung von Eigentum und der Art der Verwaltung, das eindeutig mit der Gesamteffizienz des Systems zusammenhängt", hieß es in einem Text aus dem Jahr 1992. Wilder Perez Varona greift in seinem Text dieses bis heute ungelöste Problem auf.
Kuba durchlebt wieder einmal schwere Zeiten. Der Wegfall der Tourismuseinnahmen wegen der Corona-Pandemie hat zu einer schweren Versorgungskrise auf Kuba geführt, für 2020 wird mit einer Rezession von 8 Prozent gerechnet. Zudem verschärft die Trump-Regierung im Monatsrhythmus die Sanktionen gegen Kuba. Wurden im vergangenen Jahr Bildungsreisen nach Kuba verboten, folgte die Einschränkung von Geldsendungen von Familienangehörigen. Im Juni diesen Jahres setzte Washington auch das kubanische Finanzunternehmen Fincimex, das die internationalen Geldüberweisungen an die Insel verwaltet, auf seine Liste der sanktionierten Unternehmen. Seit dem 20. August blockiert der US-Technologiekonzerne Google die Konten mehrerer kubanischer Medien, wodurch diesen Medien der Zugang zu allen Diensten und Anwendungen dieses Unternehmens, einschließlich Youtube, verwehrt wird. Auch der Zugriff auf die cloudbasierte Plattform Google Play wird verhindert. Am 24. September hat US-Präsident Donald Trump bei einem Treffen mit Veteranen des gescheiterten Invasionsversuchs in der Schweinebucht im Jahr 1961 neue Sanktionen gegen das sozialistische Kuba bekanntgegeben. So dürfen Reisende aus den USA künftig nicht mehr in Gebäuden übernachten, die Eigentum der kubanischen Regierung sind. Außerdem wird die Einfuhr von Alkohol und Tabak aus Kuba verboten. (siehe z.B. "Trump stranguliert Kuba und Venezuela")
Kubas Regierung versucht mit der Beschleunigung vieler Vorhaben gegenzusteuern, welche 2016 im Rahmen des neuen Sozialismusmodells beschlossen worden waren. Dazu zählen vor allem die Steigerung der Exporte und der Lebensmittelproduktion sowie eine Veränderung der Balance zwischen Plan, Markt und den verschiedenen Eigentumsformen. Seit Juli dürfen Privatgewerbe über 37 autorisierte Staatsfirmen Waren exportieren beziehungsweise importieren, bisher konnten diese ausschließlich für den Binnenmarkt produzieren. Produktions- und Dienstleistungsgenossenschaften sollen ebenso wie kleine und mittlere private Unternehmen eine eigene Rechtsform sein. Die bisherige Liste mit 123 erlaubten Berufskategorien im Privatsektor entfällt, nun kommen sämtliche Sparten für Firmengründungen in Frage.
Die lange verschobene Währungsvereinigung wird das Subventions- und Preisgefüge neu zusammensetzen. Präsident Díaz-Canel erklärte kürzlich, dass dazu "letzte Analysen" ausgewertet würden. Löhne dürften steigen, viele Preise sich den tatsächlichen Kosten annähern. Mit der Eröffnung von 72 Läden in US-Dollar und anderen Währungen werden Devisen abgeschöpft, welche häufig über Privatimporte in Drittländern wie Panama verblieben.
Künftig sollen sämtliche wirtschaftlichen Akteure – vom Staatsbetrieb über die Kooperative bis zum Privatunternehmen – unter gleichen Rahmenbedingungen arbeiten, wobei Exportunternehmen steuerliche Vorteile genießen. Lebensmittel, Saatgut, Maschinen und andere Zwischengüter sollen alle Produzenten gleichermaßen vom Staat beziehen können. Eine Herausforderung bleibt die Versorgung. Bisher muss Kuba jedes Jahr rund 2 Milliarden US-Dollar für Lebensmittelimporte aufwenden, die etwa 70 Prozent des Kalorienbedarfs ausmachen. Mit der Gründung einer Landwirtschaftlichen Entwicklungsbank und der schrittweisen Freigabe der Preise sollen heimische Produzenten stimuliert werden und neue Wertschöpfungsketten entstehen. (zur neuen Wirtschaftsstrategie siehe z.B.: https://cubaheute.de/2020/09/29/umsetzung-neue-wirtschaftsstrategie/#more-13478)
Nach Auffassung von Wilder Perez Varona, Subdirektor des Philosophischen Institus in Havanna, liegt "die unmittelbarste und entscheidende Herausforderung des kubanischen Sozialismus nach wie vor in der wirtschaftlichen Dimension". Diese Wirtschaftsreformen müssten jedoch von einem politischen und gesellschaftlichen Transformationsprozess begleitet werden, um den zersetzenden Wirkungen der Krise begegnen zu können. Wirkliche Vergesellschaftung der Produktion, tatsächliche Selbstverwaltung im gesellschaftlichen Maßstab, um einen sozialistischen Arbeitsprozess in Gang setzen zu können, das sind die Herausforderungen, vor denen die kubanische Politik und Gesellschaft stehen.
Kuba: Zwischen der Verwaltung der Krise und der Erneuerung des Sozialismus
Von Wilder Perez Varona, Subdirektor des Instituto de Filosofía, La Habana
1992 veröffentlichte Cuadernos de Nuestra América einen Essay mit dem Titel "La economía cubana: los desafíos de un ajuste sin desocialización" (die Herausforderungen einer Anpassung ohne Entsozialisierung), in dem Aurelio Alonso mit den Schemata des historischen Sozialismus abrechnete und die Herausforderungen der Neuanpassung angesichts einer konjunkturellen und strukturellen Krise analysierte.[1]
Ich greife einige Überlegungen aus diesem Text heraus. Nach Ansicht des Autors geht eine eigene und unabhängige sozioökonomische Alternative über ein erfolgreiches "Management der konjunkturellen Wirtschaftskrise" hinaus. Die so genannten "Notfallmaßnahmen" implizierten bereits größere Veränderungen im Gesamtsystem. Die tiefgreifende Reform auf der Suche nach einem alternativen Raum für Kuba (d.h. nach wirksamen Mechanismen der sozialistischen Reproduktion) wurde auch auf theoretischer Ebene durch eine "Rekonstruktion der politischen Ökonomie des Sozialismus" vorangetrieben.
Diese doppelte Herausforderung wurde wie folgt definiert:
"Es gibt ein ungelöstes Problem zwischen den Modalitäten der Vergesellschaftung von Eigentum und der Art der Verwaltung, das eindeutig mit der Gesamteffizienz des Systems zusammenhängt. Staatseigentum ist mit einer Zentralisierung auf der Managementebene verbunden, was zu einer weit verbreiteten unternehmerischen Ineffizienz geführt hat. Der "reale" oder historische Sozialismus, indem er den Staat zum Eigentümer und Verwalter macht, vervielfacht übermäßig den Handlungsspielraum von Ministerien und anderen staatlichen Organen und produziert eine Verdrängung des Unternehmertums durch das Beamtentum. [Und weiter]
Die Suche nach dezentralisierten Formen der Verwaltung wurde oft mit der Privatisierung des Eigentums verwechselt, wobei das Potenzial der Dezentralisierung innerhalb des sozialisierten Eigentums aus den Augen verloren wurde..."[2]
Statt auf alten Gegensätzen ("sozialisiertes" vs. privates Eigentum) zu verharren, ging es darum, die Matrix des Managements und der Produktion der Gesellschaft zu modifizieren. Der Autor zitierte die Dezentralisierungsmaßnahmen, die vom Vierten Kongress der Kommunistischen Partei (1991) gebilligt wurden: ausländische Investitionen im Tourismussektor; finanzielle Autonomie des Produktionssektors, der in der Lage ist, Devisen zu beschaffen; die Ausdehnung der Befugnisse der kommunalen Organe der Volksmacht, um die Bedürfnisse der Gemeinschaft zu erfüllen.[3]
2.
Zwei Dekaden später wurde der Reformprozess, der offiziell als "Aktualisierung des sozioökonomischen Modells" (2011) bekannt ist, als eine Einflussnahme auf die Organisation der Wirtschaft präsentiert, die sich direkten Veränderungen des politischen Modells entzieht. Er suchte eine Aktualisierung, nicht der "sozialistischen Politik", sondern einer "Praxis", die in der Lage ist, die Probleme des Landes selbst und des Beziehungssystems, in das es sich einfügen musste, anzugehen. Der Kern dieser "praktischen" Probleme wurde in der "Wirtschaft" angesiedelt.
Unter den gegenwärtigen Bedingungen Kubas bedeutet, das Problem der Entpolitisierung der Reformen, sie als ein "wirtschaftlich-technisch-soziales" Thema darzustellen, nur eines: die Frage ihrer politischen Nachhaltigkeit zu vermeiden, in einer Perspektive, die nach wie vor antikapitalistisch ist. Im Gegenteil, von der politischen Zentralität der Reformen als Bedingung, Mittel und Ergebnis auszugehen, bedeutet, die "Abhängigkeit zwischen politischer Freiheit und der Fähigkeit, die für die persönliche und soziale Existenz notwendigen materiellen Mittel zu kontrollieren", als Horizont zu akzeptieren.[4]
In Übereinstimmung mit den Leitdokumenten der Reformen (Leitlinien, Konzeptualisierung) behält die neue Verfassung von 2019 das "sozialistische" Postulat zur Definition des in Kuba herrschenden Systems bei. Diese Aussage bezieht sich auf eine Reihe ethisch-politischer Werte, die sich auf die (bekräftigte) Leitungsfunktion der PCC und das gegenwärtige Wirtschaftssystem stützen. Letzteres, ein gemischtes Modell (das andere Formen des Eigentums und der Verwaltung unterordnet), wird von den Prinzipien der "sozialistischen Planung" und des "sozialistischen Eigentums des gesamten Volkes an den grundlegenden Produktionsmitteln" beherrscht, entsprechend einer Beziehung, in der der Staat als Vertreter/Verwalter und das Volk als Nutznießer/Eigentümer auftritt.
Die Begleitumstände eines solchen Sozialismus (sowjetischen Stils) werden innerhalb und außerhalb Kubas seit langem diskutiert (die Struktur des Eigentums, die Beziehungen zwischen Plan und Markt, die Verbindungen zwischen Management und Eigentum usw.). Was für Verteidiger und Verleumder in der Regel als selbstverständlich vorausgesetzt wird, ist, dass dieses Modell mit dem Sozialismus gleichzusetzen ist; d.h. der Kern des Sozialismus besteht aus der Unterwerfung des Systems unter eine zentralisierte Planung + Vorherrschaft des Staatseigentums (= sozialistisches oder gesellschaftliches Eigentum).
Trotz Atavismen [Anm.: kultureller Rückfall in überwunden geglaubte Zustände von menschlichen Gesellschaften] und Ungereimtheiten in ihrem programmatischen Ausdruck sowie Verzögerungen und Verzerrungen bei ihrer Umsetzung, ist die Wahrheit, dass der vor fast drei Jahrzehnten eingeleitete Reformprozess die gesamte kubanische Gesellschaft einbezogen hat. Wie weiter unten zu sehen sein wird, ist dies ein Ergebnis der kubanischen Debatte über die Zivilgesellschaft in den 1990er Jahren. Insgesamt haben die Reformen zu einer Redimensionierung des Staates, seiner Struktur und seiner Funktionen, der Formen sozialer Aktivität, die ihn definieren, und seiner Beziehungen zur Bürgerschaft (ein Begriff, der in unserem politischen Vokabular neu ist) geführt.
Ob dieser politische Transformationsprozess nun vernachlässigt oder ignoriert wurde oder nicht, die Wahrheit ist, dass die unmittelbarste und entscheidende Herausforderung des kubanischen Sozialismus nach wie vor in der wirtschaftlichen Dimension liegt: in der Dringlichkeit einer Neukonzeption ausgehend von einem anderen Entwicklungsbegriff, die das geschaffene Potenzial entfaltet, den Lebensunterhalt der Bevölkerung garantiert und ein Regime der Arbeit und der effektiven Beteiligung wiederherstellt, das die Arbeit fördert.
Damit bleibt das Problem, das Alonso als wesentlich für die "Gesamteffektivität des Systems" identifizierte, grundsätzlich ungelöst: Wie lässt sich sozialisiertes Eigentum mit dezentraler Verwaltung verbinden? Unabhängig von der rechtlichen Voreingenommenheit, die in dieser Frage vorherrschte, impliziert effektiv sozialisiertes Eigentum nicht diese Art der Verwaltung? War das Staatseigentum in Kuba oder anderswo ein Garant für eine solche Vergesellschaftung?
Wie in diesem Text von 1992 festgestellt wurde, muss der kubanische Reformprozess, um eine echte Alternative zwischen sozialistischen und liberalen Dogmen darzustellen, in eine vergesellschaftete Wirtschaft eingebettet sein, d.h. in eine Regierung der Gesellschaft über die Ökonomie. Eine solche vergesellschaftete Ökonomie setzt also eine vergesellschaftete Macht voraus.
Diese Zeilen sollen nur die Relevanz solcher Fragen illustrieren. Wenn es darüber einen Konsens gibt, dann über die Notwendigkeit, sie zu formulieren, im Hinblick auf die zersetzenden Auswirkungen der Krise und der Reformen. Der Ausgangspunkt kann daher nicht die Einmütigkeit sein.
3.
Die Probleme der Vergesellschaftung haben in der vielfältigen Tradition, die dem Marxismus zugeschrieben wird, und hinsichtlich der Art und Weise, wie er im historischen Sozialismus konzipiert und praktiziert wurde, große Debatten ausgelöst.[5]
Die marxistische praxeologische [Anm.: siehe https://de.wikipedia.org/wiki/Praxeologie_(Sozialtheorie)] Tradition hat versucht, die Vergesellschaftung einer naturalistischen Teleologie [Anm.: Auffassung, nach der Ereignisse oder Entwicklungen durch bestimmte Zwecke oder ideale Endzustände im Voraus bestimmt sind und sich darauf zubewegen] unterzuordnen (untergeordnet der Entwicklung der Produktivkräfte) und sie in das dialektische Feld einer offenen Geschichte (gekennzeichnet durch die Ungewissheit und Spezifität des Klassenkampfes) zu stellen. Verbunden mit der bewussten Tätigkeit der Errichtung einer sozialistischen Gesellschaft liegt ihr Schwerpunkt auf den gesellschaftlichen Produktionsverhältnissen und dem Prozess der Gestaltung einer sozialisierten Gesellschaft. Dementsprechend wurden vielfältige Wege und Mechanismen der demokratischen Kontrolle der Produktionsmittel durch die Arbeiter gefördert, so dass sie kollektiv über ihre gesellschaftliche Nutzung entscheiden können. Verstanden als der Prozess, durch den die Individuen immer mehr in der Lage sind, ihre Existenzbedingungen kollektiv zu kontrollieren, hat die Sozialisierung dafür gesorgt, dass die Gesellschaft die ihr entfremdeten Mächte, sowohl den Staat als auch den Markt, wieder in sich aufnimmt. Auf dieser Grundlage hat die Theorie der sozialistischen Politik darauf bestanden, dem gesellschaftlichen Gefüge die entrissenen Mächte zurückzugeben und die fortschrittlichen Bedingungen für die wirtschaftliche Emanzipation der Arbeit zu schaffen. Dies setzt eine eigene Endlichkeit (für die Politik, verstanden als staatliche Intervention) voraus, da das Ziel der sozialistischen Transformation, jenseits der Verteilung, die Überwindung der materiellen Produktionsbedingungen selbst war.
Der kanonische Ausdruck der "Vergesellschaftung der Produktionsmittel" bedeutete jedoch, den Maßstab solcher Konsequenzen aufzugeben, um sich auf das juristische Prisma der Eigentumsverhältnisse und der staatlichen Verteilungspolitik zu beschränken.
Diese marxistische Orthodoxie, die mit der Enteignung von privaten Land- und Kapitaleigentümern durch die Gesellschaft identifiziert wird, hat die Vergesellschaftung der Produktionsmittel insofern für wesentlich gehalten, als sie: a) die Quellen der kollektiven (auf ungleicher Eigentumsverteilung beruhenden) und individuellen Ungleichheit des persönlichen Einkommens, das nicht an die Arbeit gebunden ist, beseitigt; b) die Institution der privaten Lohnarbeit und Ausbeutung eliminiert; c) den ehemaligen Kapitalisten die Grundlagen ihrer Macht entzieht; und d) eine Bedingung für eine zentral geplante Wirtschaft ist (die ansonsten den privaten Eigentümern unterworfen ist). [6]
Indem man den Staat mit dem Gesellschaftlichen gleichsetzt und ihm das Private entgegensetzt, ist die effektive Verwaltung und Kontrolle der sozialisierten Mittel einer der konzeptionellen Widersprüche des Konzepts gewesen, mit spürbaren praktischen Auswirkungen.
In den Erfahrungen des historischen Sozialismus des zwanzigsten Jahrhunderts gab es einen Übergang von der Enteignung von Land und Unternehmen durch den Staat zu versuchen, den Markt und sogar Geld als Mittel des Austauschs zwischen Produzenten und Unternehmen teilweise zu unterdrücken. Dabei handelte es sich um Maßnahmen des Staates, der nicht nur als großer Eigentümer, sondern auch als Träger zum Austausch und zur Zirkulation der Produkte auftritt. Das Bestreben, das Wertgesetz und die abstrakte Arbeitszeit (Tauschwert) als Maß und Mittel des Zugangs zu Produkten konkreter Arbeit anderer Menschen (Gebrauchswert) zu ersetzen, stellte jedoch keine ökonomische Überwindung des Tauschwertes dar, sondern einen außerökonomischen Zwang, ihn aufheben zu wollen.
Das Primat des Gebrauchswerts gegenüber dem Tauschwert funktionierte als allgemeine Regel, die nach den Berechnungs- und Ermessenskriterien staatlicher Funktionäre angewandt wurde, d.h. nach einer zentralisierten (und letztlich subjektiven) politischen Entscheidung. Es handelte sich dabei um eine Form der Privatisierung der Verwaltung des Modus des Tauschverkehrs von Reichtum, die der Staatsverwaltung oblag. Solche Prozesse führten nicht zu einer neuen ökonomischen Beziehung, die das Wert- und Marktgesetz ersetzen würde, sondern zu einem politischen Zwang, der dies verhinderte. Im Grunde ließen sie die vom Kapitalismus geerbte hierarchische Struktur der Herrschaft über die Arbeit unverändert.
Im Allgemeinen sahen sie sich, was die Thematik betrifft, mit mehreren Nachteilen konfrontiert:
1. Die Verwaltung des Staates, Grundlage und Garant für das Wohlergehen der Gesellschaft, führte in der Praxis zu einer Rückverwandlung der wirtschaftlichen Macht der besitzenden Klassen in die politische Macht der Staatsbeamten. Die Logik des Kapitalismus wurde tendenziell als monopolistische Verwaltung der Produktionsmittel und konzentrierte politische Macht wieder eingeführt.
2. Da es sich um eine politische Beziehung handelte, die an die Stelle der wirtschaftlichen trat, beschränkte sie sich auf das Innere des Regimes, während die internationalen Austauschbeziehungen als extranationaler wirtschaftlicher Druck wirkten, der durch die Globalisierung von Produktion, Wissen und Technologie immer intensiver wurde.
3. Am Ende wurde eine gesellschaftliche Koexistenz zwischen der Logik des Gebrauchswerts in öffentlichen und rechtlichen Räumen, die vom Staat reguliert und kontrolliert werden, und der Logik des Tauschwerts in informellen und alltäglichen Aktivitäten, des internen und externen Austauschs, auferlegt.[7]
Das Scheitern solcher Erfahrungen zeigte, dass im Gegensatz zu dem, was die Linke während des gesamten 20. Jahrhunderts glaubte, die Verstaatlichung der großen Produktionsmittel weder eine neue Produktionsweise begründet noch eine neue wirtschaftliche Logik einführt. Verstaatlichung bedeutet nicht die Vergesellschaftung der Produktion, da sie nicht die Voraussetzungen für eine tatsächliche Selbstverwaltung im gesellschaftlichen Maßstab schafft, die einen sozialistischen Arbeitsprozess in Gang setzen könnte. Die Funktion des "revolutionären Staates" besteht also nicht darin, den Sozialismus zu schaffen. Damit entzieht sie sich dem Gründungsgegenstand ihrer Existenz als Staat, als Monopol oder "Prozess der hierarchischen Regulierung von Gemeingütern".[8]
Unter den gegenwärtigen Bedingungen erfordert der sozialistische Übergang Arten von wirtschaftlichen Beziehungen in der Produktion und sozialen Beziehungen im Austausch, die durch staatliche Intervention allein nicht geschaffen und noch weniger garantiert werden können: eine Politik der Bündnisse zwischen den Volksklassen für die nationale Verwaltung gemeinsamer gesellschaftlicher Angelegenheiten; neue freiwillige Formen des Zusammenschlusses der Arbeiter in den Produktionszentren und wachsende Vernetzung mit anderen Produktionszentren sowie mit den Gemeinden; dauerhafte Demokratisierung der staatlichen Strukturen, die diese lokalen und gemeinschaftlichen Prozesse unterstützen; wirtschaftliche Stabilität, die die grundlegenden Lebensbedingungen garantiert und Zeit für solches kollektives Lernen bietet.[9]
In dieser Hinsicht musste Kuba seine eigene Lernkurve durchlaufen, beginnend mit der Krise, der Neuanpassung und dem daraus resultierenden Dissens in den 1990er Jahren.
4.
Warum wurde über die Zivilgesellschaft in den 1990er Jahren in Kuba diskutiert, was wurde diskutiert, als dieser Begriff verwendet wurde, woraus bestand er und wie wurde die kubanische Zivilgesellschaft definiert? Können die Probleme, die diese Debatte aufgeworfen hat, ein Licht auf die zentralen Achsen und Prozesse der laufenden Reformen werfen?
Dies ist ein problematisches Thema. Seine Behandlung hat für Kuba im Allgemeinen zwei große Schwierigkeiten bedeutet, eine theoretische und eine politische. Das Konzept der Zivilgesellschaft ist aufgrund seiner langen und verschlungenen Geschichte, seines Nützlichkeitsprinzips und des üblichen Verweises auf normative statt analytische Parameter eines der zweideutigsten und unpräzisesten zeitgenössischen Konzepte. Und natürlich ist der Begriff in divergierenden politischen Diskursen über die kubanische Realität verwendet worden.[10]
Vom vorherrschenden sowjetischen Marxismus geprägt, bezog sich die Kontroverse um ihn auf die Neudefinition der Beziehungen zwischen dem Staat und den verschiedenen Bereichen des gesellschaftlichen Handelns der Individuen, des Raums der Öffentlichkeit, die mit den auf internationaler wie nationaler Ebene eingetretenen Veränderungen verbunden waren.
Nach dem Zusammenbruch des Sowjetsystems kam es in Kuba zu einer Krise, die die Effizienz des " faktischen Monopols " des Staates als Produzent von Ideologie, d.h. die Kompatibilität zwischen dieser Ideologie und den Vorteilen, die sie zu bieten hatte (z.B. Wirtschaftswachstum, Mobilität und soziale Gerechtigkeit), untergrub. Eingeschränkt in ihrer Fähigkeit, ihre persönlichen Lebensprojekte um das gesellschaftliche Projekt herum zu organisieren, waren für viele die politischen Strukturen nicht an den Schock angepasst, den die sozialen Beziehungen erlitten, die sich im täglichen Leben der Bevölkerung manifestierten und die das Entstehen neuer Formen von Beziehungen förderten.
Die Wirtschaftskrise, die durch das Entstehen neuer Wirtschaftseinheiten erodierte soziale Integration, der Verlust der Fähigkeit des Staates, die Bedürfnisse der Bevölkerung zu befriedigen, die Ausweitung der Marktbeziehungen und die Schaffung von Räumen, die nicht durch den Staat reguliert werden, förderten ein Umdenken in der kubanischen Gesellschaft, einen Prozess, in dem der Staat selbst seine Rolle durch die verabschiedeten Reformen neu definiert. Die Knappheit der Ressourcen machte es notwendig, Mechanismen der Dezentralisierung für eine effizientere Nutzung zu suchen und Transformationen in der politisch-administrativen Struktur einzuleiten, beginnend mit der Verfassungsreform von 1992.
Kuba musste dann den Konsens über ein neues Modell des Sozialismus (in Bezug auf die Dimensionen, Ziele und Achsen der Transformationen) unter den Bedingungen einer zunehmend differenzierten Gesellschaft mit einem neuen Mosaik sozialer Akteure neu artikulieren.
Wenn die Frage der Zivilgesellschaft in den 1990er Jahren die Aufmerksamkeit der kubanischen Intellektuellen (einschließlich der Politiker) erregte, so lag das nicht nur an ihrer Rolle in der ideologischen Konfrontation und den Verhaltensnormen, die in der zeitgenössischen Debatte erzeugt wurden. Oder auf ihren Einsatz als Instrument zur Destabilisierung des Regimes durch den politisch-ideologischen Diskurs der US-Regierung, der in Osteuropa erprobt wurde. Ihre Bedeutung resultierte vor allem aus der Aktivierung der kubanischen Zivilgesellschaft und der öffentlichen Sphäre selbst, die durch die wirtschaftlichen, politischen und ideologischen Auswirkungen des Verschwindens des sozialistischen Lagers sowie durch die Reifung der sozialen Klassen und Gruppen in drei Jahrzehnten sozialistischer Ordnung hervorgerufen wurde. Diese Aktivierung der kubanischen Zivilgesellschaft manifestierte sich in der (teilweisen oder vollständigen) Aneignung von Räumen und Prozessen, die zuvor dem Staatsapparat unterlagen, sowie in der Bedeutung, die die Kanäle und Sphären der ideologischen Debatte erlangten.
Jorge Luis Acanda unterschied während dieses Jahrzehnts in Kuba mehrere Positionen in der Verwendung des Konzepts der Zivilgesellschaft, d.h. drei grundlegende Tendenzen hinsichtlich der Machtverhältnisse und des demokratischen Charakters des politischen Modells im Hinblick auf ein Zukunftsprojekt für die Gesellschaft.[11]
Erstere verneinte jegliche demokratische Errungenschaft der kubanischen Gesellschaft und folgte einer impliziten oder expliziten Absicht eines Regimewechsels. Sie stellte die Kontinuität der sozialistischen Ordnung als unfähig zu einem minimal demokratischen Status in Frage und strebte die Ablösung der gegenwärtigen kubanischen Regierung und des politischen Modells an. Sie verstand die Zivilgesellschaft vor allem als einen Raum der freiwilligen Vereinigung im Gegensatz zum Staat und zur politischen Gesellschaft und als ein Sammelbecken für die Werte des Fortschritts, der Freiheit, der Demokratie und der Menschenrechte.
Nachdem die kubanische Orthodoxie den Begriff als ideologisches Manöver erst abgelehnt hatte, begrüßte sie ihn später als "sozialistische Zivilgesellschaft", als einen Weg zur Organisation der Beteiligung der Massen. Sie verstand, dass die kubanische Gesellschaft ein hohes Maß an wirtschaftlicher und politischer Demokratie erreicht hatte, da die Politik des Zugangs zu Dienstleistungen und universellen Rechten per se ein hohes Maß an demokratischer Leistungsfähigkeit garantierte. Deshalb fungieren die PCC sowie politische und Massenorganisationen als legitime Vertreter der Gesellschaft. Unter diesem Gesichtspunkt ging es darum, die geschaffenen Mechanismen zu stärken oder zu vervollkommnen, wobei die Regierung die führende Rolle spielen sollte.
Andere Vorstellungen wiederum schlugen eine Neugestaltung der Demokratie in Kuba vor, basierend auf der Infragestellung von Elementen seines politischen Modells.
Indem sie die Zivilgesellschaft als zentral für eine Wiederherstellung der sozialistischen Hegemonie ansahen, schlugen sie vor, die Instanzen der Volksmacht zu stärken (mit Schwerpunkt auf lokalen Befugnissen), demokratische Mechanismen wie Rechenschaftspflicht und Einsatz nichtstaatlicher kultureller Einrichtungen zu verbessern, parteiliche politische und administrative Funktionen der Regierung auf verschiedenen Ebenen zu begrenzen usw. Innerhalb dieser Position gab es diejenigen, die auf der Grundlage des Konzepts der Zivilgesellschaft argumentierten, dass es für den Staat unmöglich sei, sich um die Bedürfnisse, Ziele und Rechte einer wachsenden gesellschaftlichen Vielfalt zu kümmern. Wenn es mehr als eine bloße Feststellung ist, dass zwischen den politischen Strukturen und der Zivilgesellschaft eine ständige Spannung besteht, dann ist diese Spannung die Grundlage für die Demokratisierung des Systems. [12]
Solche Uneinigkeiten über die Zivilgesellschaft zeigten, wenn man eine Reihe von Problemen des kubanischen Gesellschaftsdenkens miteinander verknüpfte, Defizite in den Sozialwissenschaften auf, um den revolutionären Prozess und seine sozialistische Ordnung zu erklären. Ihre Wirkung ging über das Akademische hinaus. Die kubanische Debatte erweiterte und redimensionierte das Verständnis des politischen Prozesses und bezog die Analyse der sozioökonomischen und kulturellen Bedingungen mit ein. Sie konfrontierte die politische Hypertrophie mit der Analyse der Gesellschaft. Die Notwendigkeit des Wiederaufbaus der kubanischen Zivilgesellschaft führte zu einer umfassenden Reflexion über ihre politische Kultur: über das Gewicht ideologischer und kultureller Vorstellungen bei der Erarbeitung eines Konsenses, von der Familienorganisation über die Rolle der Intellektuellen bis hin zu neuen sozialen Themen und der Konzeption des Staates. Die Wiederherstellung der Hegemonie wurde als ein kultureller Prozess im weitesten Sinne verstanden.[13]
Denn die Zivilgesellschaft, verstanden als die Gesamtheit der sinngebenden gesellschaftlichen Beziehungen, ist das Feld par excellence des Klassenkampfes und damit des Streits um Hegemonie. Sie fördert eine sozialistische Erneuerung, wenn es ihr gelingt, die Institutionen und Beziehungen der ideologisch-kulturellen Produktion in den kulturellen Grundlagen der Nation und der Pluralität ihrer alltäglichen Praktiken zu verankern. Dies betrifft die Rolle des Marktes und des Staates im Sozialismus: die Suche nach und die Entwicklung neuer Formen des kollektiven Eigentums (oder unter seiner Kontrolle) in der Wirtschaft, die in der Lage sind, die Logik des Tauschwerts als Zugang zu Gütern zu unterdrücken; sowie die Förderung neuer Formen der politischen Partizipation, die die monopolistischen Funktionen des Staates in Frage stellen.
5.
Die deformierte Sozialisierung des sowjetischen Staatswesens und die kubanische Debatte über die Zivilgesellschaft widersetzen sich dem Rückfall in eine nicht funktionierende Vergangenheit. Diese Erfahrungen bestimmen unsere Sicht der Probleme der Gegenwart. Die Priorität der Maximierung der nationalen Produktion von Gütern und Dienstleistungen ist nicht nur ein technisches und wirtschaftliches Problem. Dazu gehören auch Bildung und politische Beziehungen und Strukturen.
Vielleicht hat in Kuba ein eigentümlicher Lernprozess über die Erneuerung des Staates stattgefunden, der sich in einer neuen Sensibilität gegenüber den Grenzen und der Legitimität der politischen Macht und in Forderungen zugunsten eines pluralistischen Raums von Institutionen, Beziehungen und sozialen Gruppen äußert, der bisher durch das zu reformierende Modell des Sozialismus beansprucht wird. Aber die Kritik am staatlichen Monopol kann nicht über die Zwangsgewalt einer Zivilgesellschaft hinwegsehen, der der gesamte Raum zwischen dem Individuum und dem Staat überwiegend zugewiesen ist.
Für die Bedingungen Kubas ist die Umsetzung wirksamer Mechanismen der Bürger-, Arbeits- und Gemeinschaftsbeteiligung und -kontrolle nach wie vor das Gebot einer sozialisierten Gesellschaft. Zusammen mit einer damit verbundenen und auf Konsens beruhenden politischen Bildung sind dies Formen der Erneuerung des Staates, die nicht zu einer stärkeren Vermarktlichung führen, sondern diese wirklich einschränken können.
Anmerkungen:
[1] Aparecido en el vol. IX, no. 9, julio-diciembre de 1992, fue compilado en El laberinto tras la caída del muro, editado en 2006 por Ciencias Sociales y en 2009 por CLACSO y Ruth Casa Editorial [las citas son de esta última edición].
[2] Ídem, pp. 208-209.
[3] Ídem, pp. 209-210.
[4] Julio César Guanche, “A propósito de la relación entre política y economía”, en OSAL, Año XIV, No. 36, diciembre de 2015, p. 15.
[5] Ya en la tercera década del siglo XX fue objeto de enconadas polémicas en el contexto de la fallida revolución alemana. Ver Karl Korsch, ¿Qué es la socialización? Un programa de socialismo práctico, Siglo XXI, Argentina, 1973; Erwin Weissel, “A Internacional Socialista e o debate sobre a socializaçao”, en Eric Hobsbawm et al. (eds.) Historia do marxismo, tomo V, Paz e Terra, Brasil, 1985, pp. 227-250.
[6] Joseph Wilzynski, An Enciclopedic Dictionary of Marxism, Socialism and Communism, Macmillan Reference Books, London, 1981, pp. 541-542; Tom Bottomore (ed.) A Dictionary of Marxist Thought, Blacwell, 2nd ed., 2001, pp. 502-503; Jean Robelin, “Socialisation”, en Gerard Bensussan y Georges Labica, Dictionnaire critique du marxisme, Paris, PUF, 1985, 3ª ed., pp. 1057-1063.
[7] Ver Paul M. Sweezy y Charles Bettelheim, Algunos problemas actuales del socialismo, Siglo XXI, México, 1973; István Meszaros, Más allá del capital. Hacia una teoría de la transición, Vicepresidencia del Estado Plurinacional de Bolivia, La Paz, 2001; Álvaro García Linera, ¿Qué es una revolución? De la Revolución rusa de 1917 a la revolución de nuestros tiempos, Vicepresidencia del Estado, La Paz, 2017.
[8] Álvaro García Linera, “Estado, democracia y socialismo: Una lectura a partir de Poulantzas”. Recuperado de
http://marxismocritico.com/2015/02/25/estado-democraciay-socialismo, 2015.
[9] Álvaro García Linera, ¿Qué es una revolución? ..., p. 80.
[10] Haroldo Dilla y Philip Oxhorn, “Virtudes e infortunios de la sociedad civil”, Nueva Sociedad, 1999, pp. 157-175.
[11] Jorge Luis Acanda, “Cambios en la sociedad civil cubana y su reflejo en el pensamiento cubano desde los noventa al momento actual”. En J. Tulchin y otros (eds.) Cambios en la sociedad cubana desde los noventa. Washington, DC: Woodrow Wilson International Center for Scholars, 2005, pp.141-144. Ver además Milena Recio y otros, “Sociedad civil en los 90: el debate cubano”, en Temas, Nos. 16-17, 1998-1999, 155-176.
[12] Ídem.
[13] Rafael Hernández, “¿Pero acaso hay un debate en Cuba sobre la sociedad civil?”, En Hablar de Gramsci, Centro de Investigación y Desarrollo de la Cultura Cubana Juan Marinello, La Habana, 2003, pp. 137-147.
Quelle: https://www.alainet.org/en/node/208901
eigene Übersetzung aus dem Spanischen