16.04.2020: "Das Virus infiziert nicht nur einzelne Menschen, sondern die ganze Gesellschaft. Wir gewöhnen uns gerade an den Ausnahmezustand – und der wird fortdauern", schreibt der italienische Philosoph Giorgio Agamben in einem Essay. [1] Nach der Beratung der Bundeskanzlerin mit den Ministerpräsident*innen der Länder am gestrigen Mittwoch (15.4.) drängt sich der Eindruck auf, dass Agamben zumindest in diesem Punkt recht hat. ++ Halina Wawzyniak und Udo Wolf über die Schieflage bei den krisenpolitischen Maßnahmen
"Wir werden in kleinen Schritten daran arbeiten, das öffentliche Leben wieder zu beginnen, den Bürgerinnen und Bürgern wieder mehr Freizügigkeit zu ermöglichen und die gestörten Wertschöpfungsketten wiederherzustellen", heißt es in dem Beschluss der Bundeskanzlerin und der Ministerpräsident*innen der Länder vom 15. April (Anlage)
Die Runde hat sich darauf geeinigt, schrittweise Geschäfte mit einer Verkaufsfläche unter 800 qm wieder zu öffnen - vom Friseur bis zum Buchhandel. Eine Ausnahme von der Flächenbegrenzung gibt es für die Autohändler. Auch die Schulen dürfen langsam wieder öffnen. Großveranstaltungen bleiben bis mindestens 31. August verboten. Die Grenzen bleiben geschlossen, außer für "Warenverkehr, für Pendler und andere beruflich Reisende" (»Spargelstecher*innen« inclusive). Das Kontaktverbot bleibt bestehen, das Tragen von Alltagsmasken wird "dringend empfohlen" - vorgeschrieben kann es nicht werden, weil die Regierung nicht in der Lage ist, die Bevölkerung flächendeckend mit diesem Schutzmittel auszustatten.
Erwähnt wird, dass das Verbot der "Zusammenkünfte in Kirchen, Moscheen, Synagogen" ein Problem für die Religionsausübung darstellt. Die Bundes- und Landesregierungen werden "mit den großen Religionsgemeinschaften noch in dieser Woche das Gespräch aufnehmen", um einen Weg für die Wiederaufnahme des gemeinsamen religiösen Lebens zu besprechen.
Shoppen und Haareschneiden wichtiger als demokratische Rechte
Keine Zeile findet sich jedoch dazu, dass grundlegende demokratische Rechte wie das Demonstrations- und Versammlungsrecht - und damit auch das Streikrecht - unter hygienetechnischen Auflagen wieder hergestellt werden sollen. Dabei haben die Aktionen von Seebrücke oder von Friedensinitiativen zu Ostern bewiesen, dass Demonstrationen und Kundgebungen unter Einhaltungen der Hygieneschutzmaßnahmen möglich sind. Trotzdem wurden sie meist von der Polizei aufgelöst - zum Teil unter Einsatz unverhältnismäßiger Gewalt.
60 Jahre Ostermarsch! GEHT DOCH! |
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Protest im Ausnahmezustand. Polizei unterbindet Meinungsäußerung |
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Handyortung anstatt Schutzmasken | |
Regieren in den Zeiten von Corona |
Während sich auch für zahlreiche Linke das Leben in den Zeiten von Corona auf das rein biologische Überleben reduziert, waren es bisher zumeist bürgerliche Liberale wie die Ex-Bundesjustizministerin Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, die die Einschränkung bürgerlicher Rechte im Zuge des Infektionsschutzgesetzes öffentlich kritisierten. [2]
Mit weniger Freiheitsrechten wird staatliches Versagen bezahlt
Jetzt haben sich Halina Wawzyniak und Udo Wolf in einem Artikel auf der Internetseite der Rosa-Luxemburg-Stiftung über die Schieflage bei den krisenpolitischen Maßnahmen geäußert.
In allen Bundesländern gebe es Einschränkungen der Freiheitsrechte von Einwohner*innen - Demonstrationsrecht, die Religionsfreiheit, die allgemeine Handlungsfreiheit und die körperliche Unversehrtheit. Aber nirgendwo gebe es den Versuch, mit staatlichen Ordnungsmaßnahmen und unter Verweis auf das Grundgesetz die Produktion von dringend nötiger Schutzausrüstung (PSA) in die eigene Hand zu nehmen, schreiben Halina Wawzyniak und Udo Wolf und schlussfolgern:
"Das dürfte kein Zufall sein, sondern bewegt sich in der Logik des Kampfes gegen das Corona-Virus. Nach dieser bezahlen Einwohner*innen mit der Einschränkung ihrer Freiheitsrechte für die Vernachlässigung des Staates bei der Gewährleistung der Daseinsvorsorge. Diese Logik bei der Bekämpfung des Corona-Virus könnte sich bedauerlicherweise festsetzen."
"Staatliches Handeln hat im Bereich der Daseinsvorsorge Gesundheit versagt. Dieses Versagen sollen nun die Einwohner*innen mit dem Verzicht auf Freiheitsrechte bezahlen. Diese Logik ist gefährlich. Denn diese Logik, einmal in Gang gesetzt und verankert, findet dann auch in Nicht-Krisen-Zeiten Anwendung. Am Ende kauft sich der Staat von seiner Verantwortung zur Daseinsvorsorge durch Einschränkung der Freiheitsrechte frei. Die Einwohner*innen zahlen doppelt."
Aus dem bisherigen Verlauf der Corona-Epidemie in Deutschland leiten sie ab, "dass COVID-19 eine erhebliche Infektionsgefahr darstellt, aber nicht zwingend tödlich verläuft. COVID-19 ist potentiell tödlich – nach den Zahlen des Robert Koch-Instituts stirbt derzeit ein Prozent der Erkrankten". Doch potentiell tödlich sei auch das Trinken von Alkohol, der Konsum von Drogen und das Fahrradfahren in Großstädten oder die Folgen der Luftverschmutzung und des Klimawandels.
"Was auf den ersten Blick zynisch klingt, ist für die Frage der Einschränkung von Freiheitsrechten von zentraler Bedeutung. Denn es geht bei der Eindämmung von COVID-19 nicht um die Frage des «Aussterbens der Bevölkerung», sondern darum, eine Überlastung des Gesundheitssystems zu vermeiden, die dazu führen kann, dass nicht jede*r die angemessene Behandlung bekommt", so Wawzyniak und Wolf. In der Konsequenz stehe das Recht auf körperliche Unversehrtheit nicht über allen anderen Grundrechten, sondern müsse mit diesen abgewägt werden.
"Es stellt sich mithin die Frage, ob es nicht ein milderes Mittel gibt, welches gleich erfolgversprechend ist und unbeabsichtigte negative Folgen (zum Beispiel im Hinblick auf die psychisch-seelische Gesundheit und häusliche Gewalt) minimiert. Das alles verlangt eine Analyse des konkreten Gefährdungspotentials für das zu schützende Grundrecht. Der Verzicht auf eine solche konkrete Gefährdungsanalyse hätte verheerende Folgen – denn soweit auf abstrakten Gefährdungen für die Gesundheit abgestellt wird, müsste dies im Hinblick auf Umweltverschmutzung oder die potentielle Gefahr des Fahrradfahrens in der Großstadt zu umfassenden Freiheitseinschränkungen führen", schlussfolgern sie.
Es sei deshalb "nicht nur legitim, sondern geboten, die Maßnahmen zu hinterfragen und gegen gesellschaftliche und persönliche Kollateralschäden abzuwägen". Wenn die Infektionsgefahr vor allem durch Tröpfcheninfektion ausgeht, wie das Robert Koch-Institut sagt, dann würde es möglicherweise ausreichen, die Abstandsregeln konsequent überall einzuhalten und die Hygienevorschriften zu beachten. "Clubs, Tanzlustbarkeiten, Konzerte und Sportereignisse mit vielen Zuschauenden würden dann immer noch nicht stattfinden. Demonstrationen, Gottesdienste, Moscheebesuche und der Aufenthalt im Freien auch mit Freunden und ohne Rechtfertigungsdruck – alles unter Einhaltung der Abstandsregeln wäre dann aber wieder machbar", so Wawzyniak und Wolf.
auch zum Thema Corona – die Epidemie, der Schutz und die Rechte ".. Daher positioniert sich der Vorstand von mut klar und tritt für die demokratischen und sozialen Rechte aller ein, die zu den Krisenverlierer*innen zählen werden. .." |
Da sich ohne Freiheitsrechte weder gesellschaftlicher Fortschritt noch sozial gerechte Politik erstreiten lassen, müssten diese energisch verteidigt werden. "Wenn die Logik der Corona-Bekämpfung in Form der Bezahlung fehlender staatlicher Daseinsvorsorge durch (zeitweiligen) Entzug der Freiheitsrechte nicht hinterfragt wird, werden am Ende Freiheitsrechte flöten gehen und die Daseinsvorsorge gleich mit – dagegen demonstrieren kann ja dann keiner mehr."
Der Artikel ist auch deshalb interessant, weil er indirekt das Dilemma linker Politik in Regierungsverantwortung beschreibt. Udo Wolf ist Fraktionsvorsitzender von DIE LINKE im Berliner Abgeordnetenhaus. Auch im rot-rot-grün regierten Berlin werden wie in allen anderen Bundesländern die bürgerlichen Rechte eingeschränkt, die Berliner Polizei räumte am 28. März, wie in den anderen Bundesländern, die Menschen, die für die Evakuierung und Unterstützung von Flüchtlingen auf den griechischen Inseln und bessere Entlohnung und Arbeitsbedingungen für Pflegepersonal demonstrierten, von der Straße und löste die Versammlung auf.
Halina Wawzyniak ist Juristin und war von 2009 bis 2017 Bundestagsabgeordnete für DIE LINKE.
Mit weniger Freiheitsrechten wird staatliches Versagen bezahlt
Halina Wawzyniak und Udo Wolf über die Schieflage bei den krisenpolitischen Maßnahmen
Trotz Corona: In Berlin hatten sich am 28. März 2020 trotz des Versammlungsverbots wegen der Covid-19-Krise etwa hundert Menschen versammelt. Sie demonstrierten für die Evakuierung und Unterstützung von Flüchtlingen auf den griechischen Inseln und bessere Entlohnung und Arbeitsbedingungen für Pflegepersonal. Nach etwa einer halben Stunde räumte die Polizei die Demonstrant*innen von der Straße und löste die Versammlung auf. CC BY-NC-SA 2.0, Tim Lüddemann, via Flickr |
In allen Bundesländern gibt es Rechtsverordnungen zur Eindämmung des Corona-Virus, das Bundesinfektionsschutzgesetz wurde geändert. Bestandteil der Rechtsverordnungen sind Einschränkungen der Freiheitsrechte von Einwohner*innen: Das Demonstrationsrecht, die Religionsfreiheit, die allgemeine Handlungsfreiheit und die körperliche Unversehrtheit. Alle Rechtsverordnungen schreiben vor, mit wem sich Menschen außerhalb ihrer Wohnung treffen und an vielen Stellen sogar, unter welchen Bedingungen sie überhaupt ihre Wohnung verlassen dürfen.
Nirgendwo gibt es den Versuch, mit staatlichen Ordnungsmaßnahmen und unter Verweis auf das Grundgesetz die Produktion von dringend nötiger Schutzausrüstung (PSA) in die eigene Hand zu nehmen. Das dürfte kein Zufall sein, sondern bewegt sich in der Logik des Kampfes gegen das Corona-Virus. Nach dieser bezahlen Einwohner*innen mit der Einschränkung ihrer Freiheitsrechte für die Vernachlässigung des Staates bei der Gewährleistung der Daseinsvorsorge. Diese Logik bei der Bekämpfung des Corona-Virus könnte sich bedauerlicherweise festsetzen.
Was ist COVID 19 und worum geht es bei der Eindämmung
Nach dem Steckbrief des Robert Koch-Instituts vom 10. April 2020 verlaufen rund 80 Prozent der Erkrankungen mild bis moderat, 14 Prozent verliefen schwer und es kommt bei sechs Prozent zu einem kritischen oder lebensbedrohlichem Verlauf. Der schwere und kritische Verlauf betrifft vor allem, aber nicht ausschließlich, Risikogruppen. Zu diesen zählen ältere Personen und Personen mit bestimmten Vorerkrankungen. Die Zahl der Zweitinfektionen, also die Zahl derjenigen, die von einer infizierten Person angesteckt werden (Basisreproduktionszahl R0), liegt zwischen 2,4 und 3,3. Die Übertragung des Virus soll hauptsächlich über Tröpfcheninfektion laufen.
Ausweislich des Epidemiologischen Bulletins des Robert Koch-Instituts vom 9. April 2020 macht die Altersgruppe der 60- bis 79-Jährigen 14 Prozent der Erkrankungen in Deutschland aus. Von den insgesamt in Deutschland gemeldeten Fällen wurden acht bis zehn Prozent stationär in einem Krankenhaus aufgenommen, der Anteil der Verstorbenen beträgt ein Prozent, in der Gruppe der über 80-Jährigen 25 Prozent. Die aktuelle Belegungssituation intensivmedizinischer Bereiche ist in einem Register einsehbar, am 10. April 2020 gab es 7.928 freie Intensivbetten in Deutschland.
Die nackten Zahlen zu den Auswirkungen der Krankheit und die wissenschaftlichen Erkenntnisse wandeln sich täglich. Juristische Bewertungen und politische Entscheidungen kommen dennoch nicht umhin, sich an ihnen zu orientieren, wenn sie nicht allein aus einem Gefühl resultieren sollen und nicht allein auf öffentlichen Druck reagieren wollen.
Aus den Zahlen und Erkenntnissen lässt sich zunächst – und das ist für die Grundrechtsabwägung und politische Bewertung zentral – entnehmen, dass COVID-19 eine erhebliche Infektionsgefahr darstellt, aber nicht zwingend tödlich verläuft. COVID-19 ist potentiell tödlich – nach den Zahlen des Robert Koch-Instituts stirbt derzeit ein Prozent der Erkrankten.
Potentiell tödlich sind auch das Trinken von Alkohol, der Konsum von Drogen und das Fahrradfahren in Großstädten. Potentiell tödlich sind die Folgen der Luftverschmutzung und die Folgen des Klimawandels. Was auf den ersten Blick zynisch klingt, ist für die Frage der Einschränkung von Freiheitsrechten von zentraler Bedeutung. Denn es geht bei der Eindämmung von COVID-19 nicht um die Frage des «Aussterbens der Bevölkerung», sondern darum, eine Überlastung des Gesundheitssystems zu vermeiden, die dazu führen kann, dass nicht jede*r die angemessene Behandlung bekommt.
Möglichkeiten und Grenzen der Einschränkung von Freiheitsrechten
Das Bundesverfassungsgericht (BVerfG) hat im Februar 2020 im Hinblick auf Freiheitsrechte grundlegend entschieden (Rdn. 264): «Einschränkungen individueller Freiheiten sind nur dann angemessen, wenn das Maß der Belastung des Einzelnen noch in einem vernünftigen Verhältnis zu den der Allgemeinheit erwachsenden Vorteilen steht».
Diese Entscheidung und die eingangs zitierten Zahlen zum Maßstab genommen sind nicht wenige der ergriffenen Maßnahmen im Rahmen der Eindämmung des Corona-Virus unverhältnismäßig. Die Freiheitsrechte der Einwohner*innen müssen nach der Dogmatik des Grundgesetzes abgewogen werden gegen das Recht auf körperliche Unversehrtheit und die Gewährleistung einer ausreichenden medizinischen Versorgung. Es gibt nach der Dogmatik des Grundgesetzes keine «Supergrundrechte», so dass dem Recht auf körperliche Unversehrtheit zum Beispiel kein Absolutheitsrang zusteht, dem alles andere nachgeordnet wird. Gleiches gilt für die Gewährleistung einer ausreichenden medizinischen Versorgung. Allein die Würde des Menschen ist nach Artikel 1 des Grundgesetzes (GG) unantastbar.
Nach wohl herrschender Meinung ist das Recht auf körperliche Unversehrtheit zunächst ein Abwehrrecht und gewährleistet individuelle Schutzansprüche in bestimmten Konstellationen, «in denen der Einzelne in besonderer Weise der Hilfe oder der Vorsorge durch die öffentliche Gewalt bedarf» (DiFabio in Maunz/Dürig, GG, Art. 2, Rdn. 51). Das BVerfG hat dies so ausgedrückt: «Insbesondere folgt aus dem Grundrecht des Artikel 2 Abs. 2 GG die Pflicht des Staates, sich schützend und fördernd vor die Rechtsgüter Leben und körperliche Unversehrtheit der Bürger zu stellen (…)» (BVerfGE 88, 203/251). Genau das macht der Staat mit seinen Rechtsverordnungen.
Bei diesem Schutz muss der Staat aber andere Grundrechte ebenso berücksichtigen wie die weiteren vom Recht auf körperliche Unversehrtheit umfassten Bestandteile. Die körperliche Unversehrtheit umfasst die Gesundheit im engeren Sinn, die psychisch-seelische Gesundheit im weiteren Sinn und die körperliche Integrität (vgl. Dreier, GG, Art. 2, Rdn. 33). Maßnahmen zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit müssen demnach auch berücksichtigen, wie sie sich auf die psychisch-seelische Gesundheit auswirken und welche potentiellen Gefahren für die körperliche Unversehrtheit an anderer Stelle entstehen (Beispiel: häusliche Gewalt).
In das Recht auf körperliche Unversehrtheit kann nach Artikel 2 Abs. 2 Satz 3 Grundgesetz auf Grund eines Gesetzes eingegriffen werden. Allein das belegt, dass die körperliche Unversehrtheit nicht als Rechtsgut über allem anderen steht. Solche Eingriffe bedürfen aber einer besonderen verfassungsrechtlichen Rechtfertigung. Wenn es nun aber schon die Möglichkeit von Eingriffen in die körperliche Unversehrtheit gibt, dann müssen sich Maßnahmen zum Schutz der körperlichen Unversehrtheit erst Recht einer Abwägung mit anderen Grundrechten stellen. Und hier werden dann die eingangs zitierten Zahlen relevant.
Denn mit Blick auf das verfassungsrechtliche Übermaßverbot ist zu berücksichtigen, dass es eine schnelle Weiterverbreitung der Infektion gibt und damit viele Infizierte, die Infektion aber nicht zwingend zum Tod führt.
Für die Frage des Übermaßverbotes muss also geschaut werden, wie gefährlich für die Aufrechterhaltung der medizinischen Betreuung das Virus ist. Auch der Frage der Infektionswege kommt eine entscheidende Bedeutung zu. Denn Maßnahmen zur Einschränkung von Freiheitsrechten, um die körperliche Unversehrtheit zu schützen, müssen geeignet, erforderlich und angemessen sein.
Es geht also darum, ob das Maß der Belastung der Einzelnen in einem vernünftigen Verhältnis zu den Vorteilen für die Allgemeinheit steht.
Es stellt sich mithin die Frage, ob es nicht ein milderes Mittel gibt, welches gleich erfolgversprechend ist und unbeabsichtigte negative Folgen (zum Beispiel im Hinblick auf die psychisch-seelische Gesundheit und häusliche Gewalt) minimiert. Das alles verlangt eine Analyse des konkreten Gefährdungspotentials für das zu schützende Grundrecht. Der Verzicht auf eine solche konkrete Gefährdungsanalyse hätte verheerende Folgen – denn soweit auf abstrakten Gefährdungen für die Gesundheit abgestellt wird, müsste dies im Hinblick auf Umweltverschmutzung oder die potentielle Gefahr des Fahrradfahrens in der Großstadt zu umfassenden Freiheitseinschränkungen führen.
Wenn mit dem Robert Koch-Institut davon ausgegangen wird, dass die Infektionsgefahr vor allem durch Tröpfcheninfektion ausgeht, wäre genau dort anzusetzen. Dann reicht es möglicherweise aber aus, die Abstandsregeln konsequent überall einzuhalten und die Hygienevorschriften zu beachten. Und das dann eben auch im Dienstleistungs- und Produktionsbereich. Es ist dann immer noch nicht so, dass «alles wie vorher» ist, denn Clubs, Tanzlustbarkeiten, Konzerte und Sportereignisse mit vielen Zuschauenden würden dann immer noch nicht stattfinden. Demonstrationen, Gottesdienste, Moscheebesuche und der Aufenthalt im Freien auch mit Freunden und ohne Rechtfertigungsdruck – alles unter Einhaltung der Abstandsregeln wäre dann aber wieder machbar.
Freiheitsrechte sind ein Wert an sich
Linke Politik, die aus der Geschichte gelernt hat, darf Freiheitsrechte nicht gering schätzen. Freiheitsrechte zu verteidigen, gehört zur DNA linker, emanzipatorischer Politik – weil sie Grundlage für eine Gesellschaft sind, in der die freie Entwicklung des Einzelnen Bedingung für die freie Entwicklung Aller ist. Ohne Freiheitsrechte lässt sich gesellschaftlicher Fortschritt nicht erstreiten und auch keine sozial gerechte Politik.
Die Würde des Einzelnen, die nach dem Grundgesetz unantastbar ist, beinhaltet, dass der Mensch nicht zum reinen Objekt staatlichen Handelns gemacht werden darf. Das bedeutet aber notwendigerweise die Inanspruchnahme von Freiheitsrechten. Ein Entzug der Freiheitsrechte zur Abwehr einer Gefahr macht den Menschen spätestens dann zum Objekt staatlichen Handelns, wenn dieser Entzug der Freiheitsrechte unverhältnismäßig ist.
Wer die Beschränkung der Freiheitsrechte zur Eindämmung von COVID-19 kritisiert, bekommt nicht selten den Vorwurf, die Gefährlichkeit des Virus gering zu schätzen. An der einen oder anderen Stelle wird auch schon mal unterstellt, es würden Tote billigend in Kauf genommen. Das ist böswilliger Unsinn.
Wir freuen uns selbstverständlich über eine steigende Lebenserwartung und dennoch wissen wir, dass das Leben endlich ist. Glücklich sind diejenigen, die gesund ohne lange Leidenszeit erst im hohen Alter sterben.
Natürlich kämpfen wir für ein Gesundheitssystem, dass die Krankheitsrisiken minimiert, vermeidbare Todesfälle reduziert und das Leiden so gut wie möglich vermeidet. Und selbstverständlich wollen wir Zeit erkaufen, damit die gesundheitspolitischen Fehlentscheidungen der Vergangenheit korrigiert werden können.
Aber auch die richtige Forderung das Gesundheitssystem von der kapitalistischen Marktlogik zu befreien, wird nicht dazu führen, es auf jede denkbare Krisensituation einzustellen. Selbst wenn es gelänge, die Zahl der Intensiv- und Beatmungsplätze in Europa auf ein Niveau zu bringen, dass sie für ein COVID-19-Pandemie-worst-case Szenario ausreichend wären: Ein mögliches mutiertes Corona-Virus im nächsten Jahr mit vielleicht noch höherer Pathogenität und Letalität bliebe ein unkalkulierbares Risiko. Was tun wir dann?
Es ist nicht nur legitim, sondern geboten, die Maßnahmen zu hinterfragen und gegen gesellschaftliche und persönliche Kollateralschäden abzuwägen.
Die Kritik an der Einschränkung der Freiheitsrechte ist schon wegen der Freiheitsrechte an sich nötig. Sie macht aber auch auf die grundlegende Logik hinter dem staatlichen Handeln zur Bekämpfung des Virus aufmerksam.
Es wird überall zu Recht beklagt, dass auch das Gesundheitswesen einer Verwertungslogik unterworfen wurde. Der kluge Hinweis von Gregor Gysi, seit mehr als 25 Jahren immer wieder vorgetragen, dass ein Krankenhaus keine Würstchenbude sei, verhallte. Jan Korte fordert zu Recht eine Entprivatisierung des Gesundheitswesens.
Staatliches Handeln hat im Bereich der Daseinsvorsorge Gesundheit versagt. Dieses Versagen sollen nun die Einwohner*innen mit dem Verzicht auf Freiheitsrechte bezahlen. Diese Logik ist gefährlich. Denn diese Logik, einmal in Gang gesetzt und verankert, findet dann auch in Nicht-Krisen-Zeiten Anwendung. Am Ende kauft sich der Staat von seiner Verantwortung zur Daseinsvorsorge durch Einschränkung der Freiheitsrechte frei. Die Einwohner*innen zahlen doppelt.
Die Logik der Krisenbekämpfung lautet vereinfacht: Weil der Staat seiner Verpflichtung zur Sicherung von Leistungen der Daseinsvorsorge (hier ausreichende Anzahl an Intensivbetten, Beatmungsgeräten und Schutzkleidung) nicht nachgekommen ist, müssen die Einwohner*innen mit Einschränkungen ihrer Freiheit «bezahlen». Um nicht falsch verstanden zu werden, auch das beste Gesundheitssystem kann nicht für alle Einwohner*innen Intensivbetten, Beatmungsgeräte und Schutzkleidung vorrätig haben. Aber der Staat steht in der Verantwortung, um die Freiheitsrechte der Einwohner*innen zu schützen, sich zu kümmern.
Es wäre natürlich nicht nur in Zeiten der Corona-Krise mehr als angemessen, den Beschäftigten höhere Löhne zu zahlen. Von ordnungspolitischen Maßnahmen zur Sicherstellung der Produktion von persönlicher Schutzausrüstung oder Beatmungsgeräten ist nirgendwo die Rede. Da wird fleißig auf das Prinzip der Freiwilligkeit gesetzt, obwohl es mit dem Recht auf körperliche Unversehrtheit und den Artikeln 14 und 15 Grundgesetz ausreichend juristische Rechtfertigungsgründe für ordnungspolitische Maßnahmen des Staates in einer solchen Krise gäbe.
Es ergibt sich zumindest eine Schieflage, wenn einerseits auf Grund staatlichen Versagens in unverhältnismäßiger Art und Weise den Einwohner*innen Freiheitsbeschränkungen auferlegt werden, andererseits ordnungspolitische Maßnahmen zur Sicherstellung der Gesundheitsversorgung unterbleiben. Wenn ein Notfall vorliegt, dann ist es eben nicht mit repressiven Ordnungsmaßnahmen gegen Einwohner*innen getan, sondern dann müssen die Instrumente des Rechtsstaates auch zur Sicherung der Krankenversorgung eingesetzt werden. Alles andere wäre absurd. Hürden zur Umsetzung solchen Maßnahmen wurden mittlerweile – zeitweilig – abgeschafft. Die entsprechenden DIN-Normen für Schutzausrüstungen sind seit Ende März 2020 kostenlos zugänglich und mit dem Infektionsschutzgesetz des Bundes wurde erstmals die Option ergriffen, dass die Wirkungen eines Patentes nicht greifen sollen, wenn die «Erfindung im Interesse der öffentlichen Wohlfahrt benutzt werden soll».
Wenn die Logik der Corona-Bekämpfung in Form der Bezahlung fehlender staatlicher Daseinsvorsorge durch (zeitweiligen) Entzug der Freiheitsrechte nicht hinterfragt wird, werden am Ende Freiheitsrechte flöten gehen und die Daseinsvorsorge gleich mit – dagegen demonstrieren kann ja dann keiner mehr.
Quelle: Rosa-Luxemburg-Stiftung, 14.04.2020
https://www.rosalux.de/news/id/41965/mit-weniger-freiheitsrechten-wird-staatliches-versagen-bezahlt
Anmerkungen:
[1] Neue Zürcher Zeitung, 18.3.20: "Nach Corona: Wir sind nur mehr das nackte Leben"
https://www.nzz.ch/feuilleton/giorgio-agamben-ueber-das-coronavirus-wie-es-unsere-gesellschaft-veraendert-ld.1547093
[2] Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, welt, 25.3.2020: "Wir sind zu schnell bereit, unsere Freiheit zu opfern"
https://www.welt.de/debatte/kommentare/article206787271/Corona-Massnahmen-Wir-sind-zu-schnell-bereit-unsere-Freiheit-zu-opfern.html
Sabine Leutheusser-Schnarrenberger, Handelsblatt, 31.3.2020: Die Coronakrise ist ein „Stresstest“ für die Grundrechte und die Verfassung
https://www.handelsblatt.com/meinung/gastbeitraege/gastkommentar-die-coronakrise-ist-ein-stresstest-fuer-die-grundrechte-und-die-verfassung/25699392.html