01.10.2015: Max van Beveren, Aktivist aus München, hat uns folgenden Erfahrungsbericht zukommen lassen: Am Mittwoch, den 16.09.2015, bin ich mit der Mitfahrgelegenheit nach Wien gefahren, um mich dort dem SOSkonvoi anzuschließen. Der SOSkonvoi ist eine Gruppe freiwilliger Helfer aus Wien, die Lebensmittel, sowie Kleidung und Medikamente auf Spendenbasis annimmt und diese Güter mit Hilfe von Autokonvois in Krisengebiete, wie Röszke (Ungarn) und Tovarnik (Kroatien) bringt, um den Refugees, die dort über die Grenze kommen, zu helfen.
Am Donnerstagmorgen um 9:00 Uhr ging es los. Nachdem wir unser Auto mit Wasser, 7.000 belegten Semmeln(!) und Hygieneartikeln beladen hatten, fuhren wir zu einer vorher abgesprochenen Stelle, an der wir weitere Leute, die ebenfalls Teil unseres Konvois waren, antrafen. Wir stellten einander kurz vor und berieten danach darüber, welche Route wir fahren sollten. Autokonvois, die schon Tage vor uns nach Kroatien gefahren sind, wurden davor gewarnt, durch Ungarn zu fahren, da es aufgrund der aktuellen politischen Lage zu Schwierigkeiten an der Grenze kommen könnte. Aus diesem Grund beschlossen wir, durch Slowenien zu fahren.
Gegen 18:00 Uhr abends, nach neun Stunden Fahrt, kamen wir in dem kroatischen Ort Tovarnik an und schon von weitem konnten wir die Menschenmassen erkennen, die sich dort aufhielten. An dieser Stelle habe ich das erste Mal einen wirklichen Eindruck davon bekommen, in welcher Dimension die Flüchtlingsströme stattfinden.
Bereits während der Fahrt hatten wir Kontakt zu einem der Organisatoren der Flüchtlingshilfe vor Ort, mit dem wir einen Treffpunkt ausmachten, um gemeinsam die Lage und das weitere Vorgehen zu besprechen. Die Straße dorthin führte uns direkt an einer Betonfläche und den daran anschließenden Wiesen vorbei. Ganze Familien, Mütter mit ihren Kindern oder Einzelpersonen, die vor Krieg, Verfolgung oder Armut geflohen sind nutzen diese Flächen, um einen Moment Ruhe zu finden, sich hinzulegen und zu schlafen.
Nachdem wir einen der Organisatoren wie verabredet gefunden hatten, begannen wir damit, unsere Autos zum „Headquarter“ zu fahren, um dort die persönlichen Sachen in ein Zimmer zu bringen, in dem wir die ersten beiden Nächte schlafen sollten. Die von uns mitgebrachten Lebensmittel haben wir alle in ein Auto umgeladen, da wir diese später am Abend noch an die Flüchtlinge verteilen wollten. Zuerst aber versammelten sich alle, die Teil meines Konvois waren, im Garten des „Headquarters“, um sich noch einmal vorzustellen und kurz zu erzählen, was die persönlichen Beweggründe waren, um hier her zu kommen und zu helfen. Sehr interessant ist an dieser Stelle, dass einer der freiwilligen Helfer selbst Flüchtling aus Syrien war und nun mit uns nach Tovarnik kam, um die Refugees zu unterstützen.
Nach diesem kleinen „Meeting“ haben wir uns mit drei Autos, die mit Wasser und Essen beladen waren, auf den Weg zu dem „Bereich der Flüchtlinge“ gemacht. Der Begriff „Bereich“ mag hier seltsam erklingen, doch die Flüchtlinge wurden durch Polizeieinheiten, die Tag und Nacht patrouillierten, daran gehindert die Betonfläche und die Wiesen zu verlassen oder in das Ortsinnere zu kommen.
Während Wasser und Essen verteilten, bemerkten wir, wie dankbar die Flüchtlinge dafür waren, dass wir hier standen, um ihnen Nahrungsmittel zu geben und sie mit einem Lachen begrüßten. Die Situation änderte sich jedoch schlagartig, als am örtlichen Bahnhof ein Zug einfuhr. Plötzlich entstand Hektik. Viele hundert Leute packten ihre Sachen und rannten zum Bahnhof. Sie hofften darauf, einen Platz in diesem Zug bekommen - in diesem Zug, der sie ein Stück weiter in Sicherheit bringen sollte. Nach wenigen Minuten beschloss ich, ebenfalls in Richtung Bahnhof zu gehen, um zu sehen, was dort geschieht. Die Türen des Zuges waren verschlossen, doch die Menschen kletterten durch die Fenster hinein. Väter versuchten ihre Kinder über die Massen, die sich vor den Fenstern drängten, hinweg in den Zug zu zerren. Kurze Zeit später war der Zug voll und die Polizei drängt die Leute, die nach wie vor versuchten einzusteigen, zurück. Ein Mädchen, das es in den Zug geschafft hat, schrie laut, da ihr Bruder noch am Bahnsteig stand.
Nach einer halben Stunde bin ich zu dem Punkt, an dem wir die Nahrungsmittel verteilten, zurückgekehrt. Nachdem immer weniger Refugees kamen, um sich etwas zu Essen oder zu Trinken zu holen, beschlossen wir, alles wieder in die Autos zu laden und berieten uns neu. Es galt, baldmöglichst ein „Hauptcamp“ zu errichten, von welchem aus wir die Verteilung von Nahrungsmitteln, Kleidung und Medikamenten organisieren konnten. Während ein Teil schlafen ging, um die Frühschicht am nächsten Morgen zu übernehmen, begann die anderen um Mitternacht mit dem Bau dieses Camps. Da die Mittel und Möglichkeiten sehr begrenzt waren, mussten wir beim Aufbau viel Improvisationskunst anwenden. Schlussendlich haben wir aus zwei Pavillons, Planen, viel Seil und Paletten einen ersten Standpunkt errichtet. Gegen fünf Uhr morgens bin ich erneut zum Bahnhof gegangen. Die Lage schien sich beruhigt zu haben. Der Zug stand immer noch dort, die Leute darin schliefen. Eine Stunde später ging es schließlich auch für mich ins Bett.
Am Freitag ging es bereits um 10:00 Uhr morgens, nach gerade einmal vier Stunden Schlaf, wieder los. Es gab viel zu tun. Das größte Problem in den ersten Tagen war die Hitze, die in Tovarnik herrschte. Mittags waren es mehr als 35°C und die Menschen benötigten dringend Wasser. Der Wasservorrat war aber leider sehr gering, weshalb viele freiwillige Helfer in die eigene Tasche greifen mussten. Oftmals handelte es sich um Beträge im mittleren und hohen dreistelligen Bereich.
Als ich am Mittwoch aus München losgefahren bin, waren mir 200,- Euro für die Flüchtlingshilfe zur Verfügung gestellt worden. Mit diesem Geld haben wir am Freitag im örtlichen Supermarkt Wasser gekauft und direkt in eines unserer Autos geladen, um es anschließend in das Camp zu bringen, welches wir in der vergangenen Nacht aufgestellt haben.
Eine Nachricht entsetzte mich an diesem Mittag sehr. Der Zug, der am Donnerstagabend den Bahnhof von Tovarnik erreichte, in den die Menschen versuchten zu kommen, stand bis zum nächsten Tag um 11:00 Uhr morgens dort. Dann wurden alle von der Polizei aus dem Zug geholt. Dieser verließ Tovarnik daraufhin menschenleer. Man lässt Menschen in dem Glauben, sie könnten ihre Flucht in ein sicheres Land endlich fortsetzen, doch dann müssen sie eine ganze Nacht im Zug verbringen, der ohnehin schon überfüllt ist, nur um sie am nächsten Morgen wieder herauszuholen. Diese Leute sind schon seit mehreren Tagen und Wochen unterwegs, haben Familie oder Freunde bei sich und erlebten Situationen, der wir uns im „Fortress Europe“ nicht vorstellen können. Das sich ständig wiederholende Vortäuschen von Situationen und Verschweigen von Informationen sorgt bei den Flüchtlingen für Demoralisierung und Wut. Es ist nur menschlich, dass sich diese Wut früher oder später ein Ventil sucht. Doch Menschlichkeit kann von den herrschenden Staaten nicht erwartet werden. Sie reagieren mit Abschottung, Knüppel und Pfefferspray.
Bis zum Abend war ich am Camp tätig. Stündlich kamen neue Lieferungen mit Wasser, Essen und Kleidung. Die Nahrung wurde hinter den Pavillons gestapelt, die Kleidung musste sortiert werden. Nur so konnten wir dafür sorgen, dass die Vergaben organisiert verliefen.
Spät abends gegen 23:00 Uhr gab es einen weitere Aufgabe. In Serbien, nur zwei Kilometer hinter der kroatischen Grenze, gab es ein kleines Camp, das von Flüchtlingshelfern aufgebaut wurde. Dort sollte Wasser und Essen geholt werden. Kurzerhand mobilisierten wir drei Autos und fuhren Richtung Grenze, die von Tovarnik nur einen Kilometer entfernt lag. Doch die Grenzpolizisten ließen uns nicht passieren und erklärten uns, wir sollten über die Autobahn nach Serbien einreisen. Für eine Strecke, die insgesamt sechs Kilometer lang gewesen wäre, mussten wir einen Umweg von fast 80 km fahren.
Am Samstag war die Situation in Tovarnik dann eine gänzlich andere. Die Grenze zwischen Serbien und Kroatien wurde geöffnet. Die Refugees mussten also nicht mehr 50 Meter neben den Grenzhäusern die sogenannte „Green Border“ benutzen, um nach Kroatien zu kommen, sondern es war ihnen endlich möglich die offizielle Grenzstraße zu benutzen. Wir entschieden uns daher dafür, wenige hundert Meter nach der Grenze ein Camp aufzubauen, an dem es Wasser und Obst gab. Wieder empfingen wir die Refugees freundlich und zeigten ihnen, dass sie hier willkommen sind. In diesem Camp war zudem der Flüchtlingshelfer tätig, der selbst Flüchtling war. Er konnte vielen Refugees, die soeben die Grenze zu Kroatien passiert hatten, auf Arabisch erklären, wie es zum großen Camp geht, dass dort täglich Busse abfahren und dass sie hier in Sicherheit sind.
Gegen Abend begann es zu regnen, was für Hektik und Bedenken sorgte. Die wenigsten Flüchtlinge hatten ein Zelt bei sich und die Betonfläche, sowie die Wiesen boten keinerlei Schutzmöglichkeiten. Dazu kam, dass die Nahrungsmittel und die Kleidung im Hauptcamp abgedeckt und die Pavillons windsicher gemacht werden mussten. Nicht nur die freiwilligen Helfer, auch die Refugees packten mit an. Innerhalb weniger Stunden wurden viele Zelte aufgebaut, die vorrangig für Frauen und Kinder zur Verfügung standen. Der gesamte Bereich, in dem die Nahrungs- und Kleidungsausgabe stattfand konnte mit Hilfe von Planen gesichert werden. Die Zusammenarbeit war überwältigend. Als es schließlich zu regnen begann und die Hitze abnahm, haben wir Jacken und Pullis, sowie Schlafsäcke und Isomatten verteilt. Leider konnten wir nicht alle mit dem Nötigsten versorgen. Manche suchten vergeblich Schutz unter Bäumen oder in der Ladefläche eines ausrangierten Lieferwagens, der Tage zuvor noch als Toilette diente.
Am Sonntag verbrachten wir noch ein paar Stunden an dem kleinen Camp, das wir tags zuvor an der Grenzstraße errichtet haben. Am späten Nachmittag ging es völlig übermüdet nach Wien zurück.
Ein großer Dank geht an alle freiwilligen Helfer, nicht nur in Tovarnik, sondern auch an die, die in anderen Krisengebieten Hilfe leisten und alles dafür tun, Flüchtende willkommen zu heißen und zu unterstützen.
Ohne die Hilfe von Freiwilligen wären Camps wie in Tovarnik und die damit zusammenhängende Organisation nicht möglich. Vielen staatlichen und internationalen Gruppen waren Interviews für die Presse und das Fernsehen wichtiger, als das Leben von Menschen.
Max van Beveren, München