fordert Peter Wahl in seinem Buch "Der Krieg und die Linken"
"Du. Mann auf dem Dorf und Mann in der Stadt. Wenn sie morgen kommen und dir den Gestellungsbefehl bringen, dann gibt es nur eins: Sag NEIN!"
Wolfgang Borchert
Der Krieg in der Ukraine geht ins dritte Jahr und es nicht abzusehen, wie er weiter verlaufen wird. Die Erwartungen beider Kriegsparteien haben sich bislang nicht erfüllt, Russlands Versuch, die Ukraine ganz oder weitgehend zu besetzen ist im ersten Kriegsjahr gescheitert. Die ukrainische Gegenoffensive hat im zweiten Kriegsjahr nicht die hochgesteckten Hoffnungen erfüllt. Der Krieg ist zu einem Abnutzungskrieg geworden. Aus Sicht der Friedensbewegten muss leider konstatiert werden: Größere Antikriegsbewegungen und -aktionen gibt es in Russland oder der Ukraine offensichtlich nicht.
Und auch in den westeuropäischen Staaten, deren Regierungen die Ukraine mit Kriegsgerät und Munition versorgen, und den Rüstungskonzernen wie z.B. der Firma Rheinmetall zu einem im sprichwörtlichen Sinne "Bombengeschäft und -profit" verhelfen, ist Antikriegsstimmung und -protest kaum vernehmbar. Man vergleiche die Situation z. B. zu 2003, als gegen den drohenden Irakkrieg in Berlin an die 500.000 Menschen auf der Straße waren. Dass Ende November sich 20.000 Teilnehmer:innen (vor allem älteren Semesters) zum Protest gegen die Kriege in der Ukraine und in Nahost zusammenfanden, wurde von der Friedensbewegung schon als Erfolg gewertet.
Tektonische Verschiebungen in der Weltpolitik
Der Ukraine-Krieg hat die gesellschaftliche Linke tief gespalten. Und inzwischen hat der neue Krieg im Nahen Osten weitere Spaltungslinien hervorgerufen, z.T. quer zu jenen beim Ukraine-Krieg. Die Kontroversen reichen bis in die Reihen der Friedensbewegung hinein.
Diese Kontroversen beschreibt Peter Wahl in seinem schmalen Buch "Der Krieg und die Linken". Der Titel des Buches ist insofern etwas irreführend, als dass es dem Autor nicht um "den Krieg" an sich und die Stellung linker Politik dazu geht, sondern im Grunde nur um die Bewertung des Kriegs in der Ukraine. Zum Autor: Peter Wahl hat Gesellschaftswissenschaften mit Schwerpunkt Internationale Beziehungen studiert. Beruflich war er in Nord-Süd- und entwicklungspolitischen Zusammenhängen tätig. Im Jahr 2000 gehörte er maßgeblich zu den Gründern des globalisierungskritischen Netzwerks Attac in Deutschland. Im November 2023 war er einer der Initiatoren der Berliner Friedensdemo.
Die Ausgangsthese des Autors lautet: Die mangelnde Klarheit in der gegenwärtigen Kriegs/Friedens-Frage liegt in der Unkenntnis darüber, wie das gegenwärtige internationale "Weltsystem" , die Geopolitik, funktioniert. Er kritisiert die Linke dafür, dass die Weltsystemtheorie Immanuel Wallersteins, die Fortschreibung der Imperialismustheorien durch Samir Amin oder die neo-gramscianisch geprägte Politische Ökonomie der internationalen Beziehungen von ihr kaum zur Kenntnis genommen worden ist.
Deren Erkenntnissen folgend sieht der Autors im Nationalstaat/Territorialstaat nach wie vor den zentralen Akteur im internationalen Weltsystem. Andere Akteure, so z.B. die Transnationalen Konzerne sind im Konflikt- und Kriegsfall den staatlichen Interessen untergeordnet.
Die sich gegenwärtig herauskristallisierende multipolare Weltordnung im Gegensatz zur bisher dominanten unipolaren Welt unter Hegemonie der USA "bildet das Gravitationszentrum der Dynamiken im internationalen System". Dies ist prägend nicht nur für das Verhalten der dominierenden Staaten untereinander, sondern beeinflusst zunehmend auch alle wichtigen regionalen Fragen.
Im Folgenden beleuchtet der Autor die ökonomisch-politischen Ressourcen der Akteure der "geopolitische Champions League": USA, China, Russland, die EU und den Globale Süden. Den drei erstgenannten billigt er - aus unterschiedlichen Gründen – einen "Weltmachtstatus" zu, bei der EU hat er erhebliche Zweifel. Sein hauptsächlicher Einwand: Solange die NATO existiert, wird die EU nicht zu einer eigenständigen Großmacht, unabhängig von der US-Globalstrategie, werden können. Zum festen Bestandteil der US-Außenpolitik gehört seit über 100 Jahren die Verhinderung der Entstehung eines regionalen Hegemons in Eurasien. Wie seit 1948 geht es bei der NATO darum, die Kontrolle der USA über West- und Mitteleuropa zu sichern (und diese Kontrolle möglichst immer weiter nach Osten auszudehnen), dazu Frankreich, Deutschland und die ganze EU an autonomer Politik zu hindern und Russland aus Europa auszugrenzen.
Ein neuer Faktor in Weltpolitik ist der Globale Süden "mit dessen Aufstieg zu einer einflussreichen Akteursgruppe eine tektonische Verschiebung vor sich geht, mit der die 500-jährige Epoche der euro-atlantischen Dominanz über den ‚Rest der Welt‘ zu Ende geht". Gemessen in Kaufkraftparitäten ist das Bruttozialprodukt der fünf BRICS-Staaten schon jetzt größer als das der G7. Bezeichnend für die Kräfteverschiebung war auch der G20-Gipfel in Indien 2023. Gastgeber Indien hatte nicht nur den Wunsch nach einem Video-Auftritt des ukrainischen Präsidenten abgelehnt, sondern auch eine explizite Verurteilung Russlands. "Die Zusammenarbeit mit den Schwellenländern war Amerika (gemeint sind die USA,gst) und Europa wichtiger als eine Solidaritätsgeste für Kiew." (FAZ 11.9.23)
"Hat linker Bellizismus eine Zukunft?"
Im zweiten Teil seines Buches geht Wahl auf Diskussionen ein, die in der linken Community im Zusammenhang mit dem Ukraine-Krieg geführt werden.
Eine bemerkenswerte Begleiterscheinung dieses Krieges ist das Einschwenken von Teilen der gesellschaftlichen Linken und selbst einiger Strömungen der Friedensbewegung auf die Befürwortung militärischer Unterstützung für die Kriegsführung der Ukraine sowie die Ablehnung eines Waffenstillstands und von Verhandlungen zumindest zum gegenwärtigen Zeitpunkt. Stattdessen befürworten sie die Fortführung des Krieges bis zur militärischen Absicherung einer starken Verhandlungsposition Kiews, manche sogar bis zur Rückeroberung allen ukrainischen Territoriums von 1992 – also einschließlich der Krim.
Die Bewertung des Krieges geht in der Linken weit auseinander. Und es scheint, dass die Bewertung des Ukrainekrieges oft auch eine Generationenfrage ist. Die Jüngeren halten es eher mit den Ukrainer:innen und deren Recht auf Selbstverteidigung, die älteren Linken mit der Kritik an der NATO-Politik.
Seine Kritik am "linken Bellizismus" stellt der Autor einen kurzen Abriss über das Verhältnis zwischen Russland und der Ukraine unter postsowjetischen Vorzeichen voran. Als dann geht es u.a. um das Verhältnis von nationaler Selbstbestimmung versus Separatismus, um Kriegsschuld und Kriegsursachen, um "wertegeleitete" Diskussion um Demokratien versus Autokratien und um den vielfach strapazierten Imperialismus-Begriff. Wahl diskutiert Kriegsschuld und Kriegsursachen am Beispiel des Ersten Weltkrieges und des deutsch-französischen Krieges 1870/71; ebenso das "Kohlhaas-Syndrom" – Gerechtigkeit, auch wenn die Welt untergeht.
Das bleibt aber leider alles ein wenig abstrakt. Ich hätte mir da mehr Originaltöne gewünscht. Z.B. aus dem in der - der "interventionistischen linken" nahestehenden - analyse & kritik (ak 695) geführte Streitgespräch zwischen Ingar Solty (Rosa-Luxemburg-Stiftung) und Jan Ole Arps (ak-Redakteur).
Darin wendet sich Ingar Solty gegen Waffenlieferungen in die Ukraine und setzt dabei perspektivisch darauf, dass die Linke Druck auf ihre jeweiligen Staaten ausübt, vorliegende Friedensvorschläge wie z.B aus China oder Brasilien anzunehmen. Dagegen möchte Arps eine starke internationale Bewegung entfachen, ohne auf Waffenlieferungen an die Ukraine zu verzichten. Eine von ihm herbeigewünschte Antikriegsbewegung sollte nicht auf bestehende Illusionen in "China als Friedensbringer" oder ein "Deutschland, das eigentlich nur friedlich mit Russland Handel treiben wolle", hereinfallen. Es sei an der Zeit für eine neue Antikriegsbewegung, die sowohl in diesem Krieg als auch in den kommenden Kriegen konsequent auf der Seite des Proletariats aller Länder steht und sich nicht für bürgerliche Ideen verblenden und für nationalistische Zwecke vereinnahmen lässt.
Ingar Solty konterte: Angesichts dessen, dass wir von Ansätzen einer solchen Antikriegsbewegung in Europa weit entfernt sind, wäre auch ein Erzwingen der Annahme chinesischer (oder brasilianischer) Verhandlungsangebote bereits ein zu begrüßender Schritt.
"Hat linker Bellizismus eine Zukunft" fragt der Autor gegen Ende seines Buches. Darin möchte er Anregungen liefern, wie eine Linke "Alternativen zum bellizistischen Highway to Hell" entwickeln kann. Dabei hat aber auch er mehr Fragen als Antworten parat und macht abschließend eine "To-Do-Liste" auf über Fragen autonomer linker außenpolitischer Positionierungen.
txt: Günther Stamer
Peter Wahl
Der Krieg und die Linken. Bellizistische Narrative, Kriegsschuld-Debatten und Kompromiss-Frieden
100 Seiten, VSA, Hamburg 2023, EUR 10.00
ISBN 978-3-96488-203-5
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