10.06.2023: Die Linke befindet sich in keinem guten Zustand. Was dafür die Ursachen sind und wie eine Linke eine Zukunft haben könnte, versucht der schwedische Soziologe Göran Therborn in seinem schmalen Bändchen "Die Linke im 21. Jahrhundert. Progressive Selbsterneuerung in aggressiven Weltverhältnissen" zu ergründen.
Die Linke in Europa – in Deutschland am Beispiel der Partei DIE LINKE –, befindet sich in keinem guten Zustand. Die jüngsten Wahlen in Italien, Griechenland, Spanien, in den skandinavischen Ländern legen dafür beredtes Zeugnis ab. Was dafür die Ursachen sind und wie eine Linke eine Zukunft haben könnte, versucht der schwedische Soziologe Göran Therborn in seinem schmalen Bändchen "Die Linke im 21. Jahrhundert. Progressive Selbsterneuerung in aggressiven Weltverhältnissen" zu ergründen.
Zustandsanalysen über die gesellschaftspolitische Linke und deren Perspektive im 21. Jahrhundert gibt es zuhauf. Im Gegensatz zu anderen (wie z.B. Torkil Lauesen oder Frank Deppe), die dazu 400 Seiten benötigen, versucht es Göran Therborn in seinem Buch – vom Verlag als "Flugschrift" tituliert – in einem Perforce-Ritt auf 86 Seiten. Das hat zweifellos Charme und mindert Berührungsängste und die Befürchtung, nicht bis zum Ende durchhalten zu können.
"Die Linke des 20.Jahrhunderts war programmatisch und strategisch. Sie hatte ein explizites Ziel, eine sozialistische oder kommunistische Gesellschaft. Die Linke des 21. Jahrhunderts gründet ihren Radikalismus eher auf einen Bruch mit der Gegenwart als auf ein langfristiges Ziel oder einen Fahrplan für die Zukunft."
Die von Therborn eingangs aufgestellte These lautet: Angesichts der immensen Herausforderungen, vor denen die Menschheit im 21. Jahrhundert steht, muss sich eine "Linke" neu erfinden, um gesellschaftspolitisch wirksam werden zu können. Dabei gilt es, der Hegemonie des Neoliberalismus die Themen Gerechtigkeit und Solidarität entgegen zu setzen. Vor allem steht sie vor der Herausforderung, einen Weltkrieg und die Klimakatastrophe zu verhindern. Die sich im Prozess der "linken Neuformierung" herausbildenden "neuen Politik-Formen" berühren dabei sowohl die soziale Basis, Organisationsformen als auch die Aktionsweise.
Therborn: "Das 21. Jahrhundert hat eine Fülle neuer Bewegungen der Linken hervorgebracht, die beeindruckend kreativ und radikal in ihrer Form sind. Sie agieren aus ihrer eigenen Empörung heraus und rekurrieren nicht auf die Niederlagen ihrer Vorgänger. Dieser Essay ist ein Versuch, den Kontext der Linken des 21. Jahrhunderts und ihre innovativen Antworten auf die großen Herausforderungen der Gegenwart zu verstehen: die sich abzeichnende Klimakatastrophe, die neue Welt der imperialen Geopolitik und die abgrundtiefen wirtschaftlichen Ungleichheiten in einer zunehmend vernetzten Menschheit. Welche Perspektiven gibt es für die Arbeiterklasse des 21. Jahrhunderts und für die Ideen der Linken?"
Neue Formen der politischen Praxis
Therborn datiert das Entstehen einer "neuen Linken" mit den Protesten gegen die WTO-Konferenz 1999 in Seattle, gegen den G8-Gipfel in Genua 2001 und vor allem mit dem ersten Weltsozialforum in Porto Alegre (Brasilien) 2001, das ein einzigartiges soziales Spektrum abbildete: von linken Wissenschaftler:innen und Gewerkschafter:innen, indigenen Bewegungen, Kleinbauernbewegungen, Feministinnen, Menschenrechtsaktist:innen und nicht zuletzt die verschiedenen Spektren der Umweltbewegungen.
2018 schlug dann die Geburtsstunde der Fridays for Future.Bewegung, als die 15jährige Schülerin Greta Thunberg am 20.August die Schule schwänzte und sich - mit Plakat und Smartphone bewaffnet - vor das schwedische Parlamentsgebäude setzte. Mit dieser Aktion mobilisierte sie Millionen Jugendliche zu Schulstreiks, Demonstrationen und Aktionen im Kampf gegen die globale Erderwärmung und damit für die Zukunftssicherung der kommenden Generationen.
Auch brachte zu Beginn des neuen Jahrhunderts der lateinamerikanische "Sozialismus des 21. Jahrhunderts" neue Ideen und Praktiken in den antiimperialistischen Kampf ein, wie die lokal-demokratischen Projekte in Venezuela unter Chavez und die Idee des "kommunitären Sozialismus" unter Morales in Bolivien. Angesichts der Abhängigkeit dieser Staaten von den Rohstoffexporten und mannigfaltigen internen wie externen Konflikten, ist von diesen Projekten gegenwärtig allerdings kaum noch etwas übrig geblieben.
Auch das Weltsozialforum (WSF) leidet an inneren Widersprüchen und unterschiedlichen Vorstellungen der Teilnehmer: Die einen wollen ein Netzwerk zum Austausch von Ideen über Projekte, die anderen eine Bewegung, die konkrete politische Forderungen an den "globalen Norden" formuliert. Das WSF braucht eine gründliche "Renovierung", so Therborn.
"Die imperiale Geopolitik hat der neoliberalen Globalisierung den Rang abgelaufen"
Als entscheidende Kampffelder, auf denen sich eine neue Linke zu beweisen habe, sieht der Autor die Klimakrise, die aktuelle Geopolitik und die abgrundtiefen sozialen Ungleichheiten, "dem düsteren Vermächtnis der neoliberalen Globalisierung."
In der Frage der Klimapolitik rät er der Klimabewegung, "ihre Perspektive von der ausschließlichen Konzentration auf Utopie und Apokalypse" zu erweitern um den Aspekt "des Auslotens von Möglichkeiten eines kapitalistischen Wandels." Diese Sichtweise beinhaltet allerdings nichts Neues, sondern damit bewegt er sich auf den Pfaden der Fridays for Future-Bewegung und die der "Letzten Generation". Wird die Menschheit genügend Zeit haben, um sich vor dem drohenden ökologischen Kollaps zu retten, bevor der Kapitalismus die materielle Grundlage der Zivilisation zerstört? Und eher resignativ heißt es im Buch dann auch: "Der real existierende Kapitalismus verfügt zwar über einige Ressourcen, um der Klimakatastrophe zu begegnen, aber kapitalistische Lösungen werden bestenfalls für Nischenklassen in einigen wenigen glücklichen Nischenregionen zugeschnitten sein."
Zur aktuellen Geopolitik stellt der Autor fest: "Die imperiale Geopolitik hat der neoliberalen Globalisierung den Rang abgelaufen, Als das US-amerikanische Establishment zu erkennen begann, das China das Spiel der Globalisierung gewinnt, änderte es die Spielregeln. (…) Die USA sind immer noch die ultimative Bastion des Kapitalismus und streben danach, den Rest der Welt nach ihrem Selbstbildnis umzugestalten, während China und Indien keine solchen Ambitionen haben. Eine pluralistische Welt ohne Super-Hegemon sollte sicherlich das Ziel der Linken sein."
Wie aus der Defensive kommen?
"Den nächsten Weltkrieg zu verhindern und gleichzeitig für die Emanzipation der Menschen zu kämpfen."
Generell stellt sich die Frage, wie die Linke im 21.Jahrhundert aus der Defensive kommen kann. Therborn sieht das größte Manko der Linken darin, über keine Vision von alternativer Gegenmacht anstelle der herrschenden kapitalistischen Machtverhältnissen zu verfügen. Darin sieht er den entscheidenden Unterschied zur Linken des 20. Jahrhundert. Er konstatiert nüchtern mit Blick auf "die Klasse" und den "Kapitalismus", dass "das 21.Jahrhundert bisher keine dialektische Entwicklungsdynamik hervorgebracht" hat - ganz im Gegenteil: "Das 21. Jahrhundert ist ein Jahrhundert der Unsicherheit und der Unberechenbarkeit, überschattet von den dunklen Wolken einer drohenden Katastrophe.(…) Wie für Jaurés und Luxemburg besteht für die Linke heute die einzige kohärente geopolitische Position darin, zu versuchen, den nächsten Weltkrieg zu verhindern und gleichzeitig für die Emanzipation der Menschen zu kämpfen."
Und zum Projekt "Sozialismus"? "Der Sozialismus war der Horizont der Linken des 20. Jahrhunderts. Die Geschichte des 20. Jahrhunderts hat uns auch gelehrt, dass gesellschaftliche Transformationen selten nach einem Plan verlaufen. Aber ein langer Marsch braucht eine Richtung. Die Linke des 20.Jahrhunderts war programmatisch und strategisch. Sie hatte ein explizites Ziel, eine sozialistische oder kommunistische Gesellschaft. Die Linke des 21. Jahrhunderts gründet ihren Radikalismus eher auf einen Bruch mit der Gegenwart als auf ein langfristiges Ziel oder einen Fahrplan für die Zukunft."
Wenn der Autor eingangs fragt, "welche Perspektive es für die Arbeiterklasse des 21. Jahrhunderts und für die Ideen der Linken gibt", so lässt er die Lesenden am Ende doch eher ratlos zurück – vieles wird doch zu sehr im Vagen gehalten. So spielen die Arbeiterklasse, ihre Organisationen (vor allem die Gewerkschaften) und ihre Kämpfe in seinen Überlegungen kaum eine Rolle.
Über 1.500 Gewerkschafter:innen diskutieren über neue Kampfformen
An dieser Stelle ein kleiner aufmunternder Einschub während ich diese Rezension verfasse: So legten allein in Griechenland, Frankreich, Großbritannien und Deutschland in diesem Frühjahr Streiks das öffentliche Leben in Teilen lahm. Hauptgründe sind das massive Absenken der realen Einkommen infolge der Preisexplosion, aber auch Proteste gegen die Arbeitsbedingungen und – wie in Frankreich – die Verschlechterungen bei den Altersrenten.
Am Wochenende 12. bis 14. Mai 2023 veranstaltete die Rosa-Luxemburg-Stiftung in Kooperation mit lokalen und regionalen Gewerkschaftsgliederungen und anderen gewerkschaftsnahen Akteuren die fünfte Konferenz "Gewerkschaftliche Erneuerung" an der Ruhr-Universität Bochum. Über 1.500 Teilnehmende diskutierten unter dem Motto "Gemeinsam in die Offensive" über neue Strukturen und Kampfformen des gewerkschaftlichen Arbeitskampfes. Nach Auffassung von Hans-Jürgen Urban von der IG Metall markierte diese Konferenz einen Wendepunkt im Vergleich zu den Anfängen dieses Konferenzformats vor zehn Jahren. Damals sei, geprägt von der "neoliberalen Politik", in Frage gestellt worden, ob Gewerkschaften überhaupt noch eine Existenzberechtigung hätten. Er habe die Gewissheit, "dass bisherige Vorstellungen von Mitbestimmung nicht mehr ausreichten für das was wir in Zukunft brauchen". Urban ist sich sicher, dass Konflikte in Zukunft eine "neue Schärfe" annehmen werden. Weltweit verflochtene Produktionsprozesse ließen nur einen Schluss zu: "Sozialistischer Internationalismus" müsse zurück auf die Tagesordnung der Arbeiter- und Gewerkschaftsbewegung kommen.
"Risse im Weltsystem öffnen Räume für neue linke Kreativität"
Zurück zu Therborn. "Jede Analyse, die sich ausschließlich auf die vermeintlich tödlichen Krisen des Kapitalismus konzentriert und mögliche Störfaktoren außer Acht lässt, betrachtet die Welt von einem fensterlosen ideologischen Dachboden aus." Indem der Autor in diesem schmalen Buch einige Störfaktoren noch einmal benennt, bleibt am Ende doch noch ein wenig Hoffnung - auch wenn unklar bleibt, was er unter "Ideen der Linken" meint, weil er nicht erklärt, was er unter "den Linken" versteht.
Er sieht "Risse im Weltsystem", die "Räume für neue Runden linker Kreativität" öffnen könnten, Die Hoffnung stirbt zuletzt, könnte man desillusioniert resümieren. Die geschwächte Linke soll demnach gleichzeitig versuchen, den nächsten Weltkrieg und die Klimakatastrophe zu verhindern und für die Emanzipation der Menschen kämpfen. So bleibt dem Autor am Ende auch kaum mehr als ein Appell an die Linke, sich auf die Lösung dieser dramatischen Aufgaben "vorzubereiten". Dass das Buch mit diesem Verb endet, könnte man als eine Art Bankrotterklärung der Linken bezogen auf die gegenwärtigen realpolitischen Kämpfe lesen – ist aber wohl als Ermunterung und Arbeitsauftrag des Autors gemeint.
In diesem Sinne eignet sich sein kleines Buch als Diskussionsgrundlage. Für 86 Seiten plus sieben Seiten Literaturhinweise sind zwölf Euro ein stolzer Preis – andererseits muss man/frau für eine Pizza frutti di mare heutzutage den gleichen Betrag auf den Tisch legen. Und da das Buch sehr handlich ist, kann man/frau, während man auf die Pizza wartet, schon mal mit dem Lesen beginnen.
Der Autor
Göran Therborn (Jahrgang 1941) ist Soziologe und Politikwissenschaftler, der weltweit gelehrt und geforscht hat, zuletzt als Professor für Soziologie an der Universität Cambridge. Er hat über 40 Bücher und zahlreiche Artikel veröffentlicht. Das hier besprochene Buch war im vorigen Herbst in der britischen Zeitschrift New Left Review als Essay veröffentlicht.
txt: Günther Stamer
Göran Therborn
Die Linke im 21. Jahrhundert
Progressive Selbsterneuerung in aggressiven Weltverhältnissen
VSA Verlag Hamburg 2023, 93 Seiten, 12 Euro
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