Berlin-Brüsseler Chor-Hommage für Hanns Eisler zum 120. Geburtstag (1898-1962)
02.05.2018: Zehn Wochen vor dem 120. Geburtstag des Komponisten Hanns Eisler lud der Chorverband Berlin e.V. zu einem Sonntagskonzert in die Philharmonie. 170 bis 180 Sängerinnen und Sänger aus fünf Chören, darunter der semiprofessionelle Brussels Brecht-Eislerkoor, boten im Kammermusiksaal Lieder und Massenchöre aus drei Jahrzehnten konkreten Eingreifens in proletarische Klassenkämpfe: "Diese Welt wolln wir uns mal von nah besehn".
Das rund zweistündige Programm, in dem auch Chorsätze von Songs des 1998 verstorbenen Rockpoeten und Baggerfahrers Gerhard Gundermann einen Platz hatten, legte einen speziellen, neu zu erlebenden Fokus auf den Weg Hanns Eislers, der früh an die Seite der Arbeiterklasse führte. Gültige Botschaften auf Brecht-Texte, in unterschiedlichen historischen Epochen verfasst, erklangen zum Ausklang des Programms mit der Kraft bzw. mit dem Nachdruck aus allen Kehlen - das weltbekannte Solidaritätslied und "Anmut sparet nicht noch Mühe". Das ist noch immer eine nicht eingelöste Alternative zum staatsoffiziellen "Lied der Deutschen".
Der strengen Kompositionsschule von Arnold Schönberg weltanschaulich entwachsen, verschmolz der junge Hanns Eisler politische Progressivität und musikalisch-technische Fortschritte auf einzigartige Weise. Heute, angesichts der allseits ungelösten Grundfragen über Gegenwart und Zukunft in der Welt, kann solche Haltung kaum als "nostalgisch" oder "erledigt" abgetan werden.
Der Musikwissenschaftler Hanns-Werner Heister (Leibniz-Sozietät zu Berlin und Internationale Hanns Eisler Gesellschaft) sagte dazu beispielsweise: "Eislers Kampflieder trugen, spät, aber doch, noch bis 1935, bis hin zum Klassiker »Das Lied von der Einheitsfront«, zur Bewusstseinsbildung bei. Sie können das unter anderen Bedingungen auch heute, als – sofort internationalisierter – österreichisch-deutscher Beitrag zum »Weltkulturerbe« [1]: »Und weil der Mensch ein Mensch ist, drum braucht er was zum Essen« hat eine dauerhafte Logik, aus der mit einiger Konsequenz Bewusstsein wie Handeln folgen (können). Und die im Solidaritätslied aufgerufene Einheit, die alle Kontinente und Menschengruppen (Schwarzer, Weißer, Brauner, Gelber!) umfasst, ist dringlicher denn je."
Für die kollektive Geburtstags-Hommage vorab war der größere, 1973 in Berlin-DDR als Seniorenchor gegründete Ernst-Busch-Chor (Leitung Daniel Selke) beim Chorverband Berlin initiativ geworden. Nicht zuletzt dem Eislerforscher und -Editor Dr. Johannes Gall und dem von ihm seit zehn Jahren geleiteten Hans-Beimler-Chor (1972 gegründet) ist es wohl zu danken, dass es dann keine "stehende" Repertoireschau von einzubeziehenden Partnerensembles wurde, sondern allen der Mühe wert war, einzeln und/oder zusammen wieder einen besseren Zugang zur künstlerisch-proletarischen Neuorientierung im Chorschaffen Eislers Ende der 1920er, eingangs der 1930er Jahre zu ermöglichen. Dr. Jürgen Schebera, Internationale Hanns Eisler Gesellschaft, stellte sich dafür als sachkundiger Moderator zur Verfügung.
Auf dem Arena-Podium im Kammermusiksaal und seiner Verlängerung, dem dafür bereitgehaltenen Mittelrang, wurden die in Berlin schon seit Jahren geschätzten Partner vom Brussels Brecht-Eislerkoor besonders stürmisch begrüßt (1978 gegründet, Leitung Lieve Franssen). Sie waren selbst schon Anreger und Initiatoren: Am internationalen Antikriegs-Chorprojekt "Waanvlucht – Say no!" haben sich 2014 bis 2017 weltweit 30 Chöre und Musikgruppen beteiligt. Der Ernst-Busch-Chor und der Hans-Beimler-Chor gehörten dazu. Gute Kontakte haben den Pankower hardChor "ELLA" (gegründet 1991) und dessen Partner Erich-Fried-Chor (gegründet 1999) zur Eisler-Hommage ins Boot geholt. Der Ernst-Busch-Chor bahnte sie im Zug der jüngsten, 2016 von der Rosa-Luxemburg-Stiftung geförderten Berliner Aufführung von Brecht/Eislers Lehrstück "Die Maßnahme" an.
In der der aktuellen Hanns-Eisler-Ehrung sangen hardChor "ELLA" und Erich-Fried-Chor gleichfalls zur Erinnerung an den Rockpoeten Gerhard Gundermann (1955-1998), dessen Todestag sich am 21. Juni zum 20. Mal jährt. Ihre Lieblingslieder ("Soll sein", "Schwarze Galeere", 1991/92) haben sie reizvoll mehrstimmig arrangiert und mit Drive vorgetragen. Gundermann gehörte zu den wenigen, die sich nach 1989 – gewissermaßen im Eislerschen Sinn – nicht aus der Politik zurückzogen, sondern künstlerisch produktiv und streitbar in die Auseinandersetzungen um Staatsanschluss, Ökologie im Lausitzer Braunkohlenrevier und soziale Entwicklung im Osten eingriffen. hardChor "ELLA" ließ dazu passend mit "Mixed Germany" parodistisches Zeitkolorit von 1991 zum Thema Nationalhymne lebendig werden. Damals war der große öffentliche Versuch heftig abgewehrt worden, Brecht/Eislers "Kinderhymne" staatsoffiziell verpflichtend für ein gutes, blühendes Deutschland einzuführen (eines neben andern Völkern). Die seinerzeit in einem Unterrichtsabschnitt entstandene zeilenweise Text-Musik-Collage – als resultierende "Entscheidungshilfe" für National- und Europahymne (Fallersleben, Brecht, Schiller / Haydn, Eisler, Beethoven) – endet in einer kanonischen Coda: "Deutschland, Deutschland, schläfst du noch?".
"Auch unser Singen muss ein Kämpfen sein"
Die auftaktgebende programmatische Gestaltungskraft aller fünf Chöre zusammen galt einer 1929 Aufsehen erregenden Kampfansage in Berlin. Sie enthält zugleich das musikalische Credo des gerade mal 30jährigen Komponisten Hanns Eisler. Es ist sein a cappella [2] gesungenes Opus 13 Nr. 1 – "Vorspruch (Chor-Referat)". Der Vorspruch stimmt die "verehrten Anwesenden" auf eine Karikatur der anachronistisch gewordenen Liedertafel ein, mit der vorgeführt wird, welche Art von verwaschener musikalischer Haltung hier fehl am Platz ist. (Wie Dr. Schebera dem Publikum im historischen Rückblick mitteilte, richtete sich diese Kampfansage an die Adressen der übergroßen Mehrheit musikalisch hochqualifizierter, SPD-naher Arbeiterchöre, die sich zu diesem Zeitpunkt freilich mit inhaltlich und ästhetisch vielfach überlebter Repertoirebildung kaum noch von bürgerlichen Gesangsvereinen unterschieden.)
Die geißelnden Demonstrationen pseudoromantischer Kolportagen gegen das konservative Führungsorgan des Deutschen Arbeitersänger-Bunds DAS – neoreligiöse Belanglosigkeit, falsche Naturergebenheit, kitschige Liebeslyrik – lässt Eisler auch durch Mittel der proletarischen Praxis, zum Beispiel Megaphon-Ansagen im Stil seines "Roten Sprachrohrs" in Berlin, konfrontieren. Zugleich kreiert er gewissermaßen einen neuen Ton für die zu revolutionierende Arbeitergesangsbewegung, um falsch einfühlender Sentimentalität und jedem "Abwenden von der Wirklichkeit" entgegenzuwirken: Ein ungewöhnlicher, natürlich erscheinender und bewegter Vokalklang für die ungekünstelte Sprache der Unterdrückten, der sich mit der expressiv eingesetzten offene Quinte (ein entlehntes Klangintervall aus den Kirchen-Modi des 16. Jahrhunderts) zu kraftvoll scharfen, ja schrillen Tönen steigert: "Auch unser Singen muss ein Kämpfen sein!"
Erst durch die Revolutionierung der Gesellschaft, so der publizierende Eisler damals, werde der Blick frei für die Wirklichkeit [3]. Dem entspricht der dreimal wiederholte, "dissonant" stehende Weckruf "Wacht auf!" am Schluss. Er verlängert das direkte Zitat der Internationale, das vom Wirbeln der hinzukommenden Agit-Trommel begleitet wird – ein fortan auf der Straße handhabbares Instrument. [4]
Bei knapp zu denkenden Gesamtprobenzeiten kam unter der Leitung von Johannes Gall eine sehr engagierte, saubere Gemeinschaftsleistung zustande.
Der spezifische Weg des Komponisten bis 1932
Das sich anschließende zweigeteilte Programm bot zunächst jedem Einzelchor Gelegenheit, in beispielhafter Repertoireauswahl und in Sprüngen über die Zeiten ein jeweils sehr eigenes Eisler-Profil vorzustellen. Die letzte Hälfte war dem Zusammenwirken von Chören vorbehalten. Zum verständlichen biografischen Nachvollziehen der weiteren künstlerisch-politischen Neuorientierung des jungen Hanns Eisler und seines praktischen Experimentierens insbesondere zwischen 1928 und 1932 geht die Besprechung aber werkchronologisch vor.
"Auf den Straßen zu singen" op.15 für gemischten Chor a cappella und kleine Trommel komponierte Hanns Eisler ungefähr Anfang 1929 in zeitlicher Nachbarschaft zum "Chor-Referat". Das auf vorbürgerlichen Modi und offenen Akkorden beruhende Demonstrationslied, im indirekten Marschrhythmus zu singen, geht bald in einen agitatorischen Gestus über. Den Text schrieb Robert Gilbert unter dem Pseudonym David Weber: "Auf ihr Brüder, lasst nun alle Arbeit stehn, diese Welt wolln wir uns mal von nah besehn! … Wir wolln unsern Anteil am Reichtum der Welt. Wir marschieren Tag um Tag, bis ans Ziel. Verdammt, wer nicht mit uns mitmarschieren will! Weg da! Weg da!"[5]
Johannes Gall führte den Brecht-Eislerkoor, den Beimler-Chor und den hardChor "ELLA" zu einer überzeugenden gemeinsamen Interpretation.
"Ferner streiken: 50.000 Holzarbeiter" op. 19 Nr. 1 vom Herbst 1929 für vierstimmigen Männerchor a cappella ging aus einer deutschen Übersetzung (Ilse Barea-Kulcsar) von Liedern der 1905 in Chicago gegründeten Gewerkschaft der Industrial Workers of the World hervor:
50.000 Holzknecht’ gehn heute durch den Wald
50.000 Rucksäck’ stehn gepackt und zugeschnallt
50.000 Pritschen sind bis auf die Wanzen leer
50.000 wälzen sich drin schlaflos nimmermehr
Denn alles das erträgt man nur so lang man eben kann
Und heute gehen in den Streik 50.000 Mann. 50.000 Mann!
...
Einzeln sagt es keiner: Herr,
Sie schinden uns zu arg.
Denn sonst fliegt er.
Ja, wir sind stark!
Doch wir sind 50.000 stark!
Satter Unternehmer du!
Wenn's auch peinlich ist:
Sag warum gibst du nicht zu,
Dass du geschlagen bist!
Sag warum gibst du nicht zu,
Dass du geschlagen bist!
50.000 Rucksäck’!
50.000 Pritschen!
50.000 Holzknecht’ gehn heut aus dem Wald.
Den fünf gemischten Chören, geleitet von Johannes Gall, war noch im kraftvoll dargebotenen trotzigen Protest-Gestus der Spaß an diesem reizvollen, einfachen Titel mit Finessen anzumerken. Die kompositorisch und interpretatorisch aufscheinenden Facetten wechseln zwischen Einmütigkeit, pointierter lebendiger Disputation mit Echo-Weitergaben und entschlossenem Abmarsch.
Zwei Stücke für gemischten Chor a cappella vierstimmig, 1928/29.
"Kohlen für Mike": Ein 1926 von Bertolt Brecht niedergeschriebenes Gedicht verwandelte Hanns Eisler als Chor-Erzählung in ein "Denkmal" gelebter proletarischer Solidarität. Es ist nicht nur eines der ersten Ergebnisse in der sich anbahnenden Zusammenarbeit, sondern zugleich ein "Markstein im A-cappella-Oeuvre des Komponisten", der der Selbstgenügsamkeit verbürgerlichter Chöre beispielhaft etwas entgegenzusetzen hat: "Dieses Lied ist gewidmet den Kameraden des Bremsers Mike, gestorben an zu schwacher Lunge auf den Kohlenzügen Ohios. Für Kameradschaft." Jede Nacht, wenn sie an Mikes Haus neben der Strecke vorbeikommen, werfen die Kumpel der Wheeling Rail Road heimlich einen Kohlenklumpen für seine Witwe Mary Mac Coy über die Zaunlatten. Ernst Busch nahm das bald nach der Uraufführung 1931 als Song auf und machte ihn durch seine rote "Aurora"-Plattenreihe bekannt.
"Die erfrorenen Soldaten", Text aus dem letzten Akt von Karl Kraus’ Antikriegsstück "Die letzten Tage der Menschheit": Eisler steigert den unvernutzten, kühl und leise einsetzenden Ton zu Kraus’ Gedenken an eine in den Karpaten-Stellungen erfrorene Kompanie Soldaten im gemessenen, streng disziplinierten "Abschreiten" bis zur exzessiven Anklage. Die Vollstreckung des Urteils auf diesen "Heldentod" wird beinahe im Flüsterton markiert:
Kalt war die Nacht. / Wer hat diesen Tod erdacht! / Oh die ihr schlieft in Betten / dass euch das Herz nicht bricht! / Die kalten Sterne retten uns nicht. / Und nichts wird euch erretten! Nichts. / Nichts. Nichts. Nichts. / Kalt war die Nacht. / Wer hat diesen Tod erdacht! / Oh die ihr schlieft in Betten / dass euch das Herz nicht bricht! / Die kalten Sterne retten uns nicht. / Und nichts wird euch erretten!
Den eindrucksvoll vorgetragenen Satz hat Johannes Gall für den Hans-Beimler-Chor eingerichtet.
"Liturgie vom Hauch", op. 21 Nr. 1, vierstimmiger Chor a cappella von 1930, nach Bertolt Brechts Hauspostille 1927: Der junge Brecht, Schocker der Bildungsbürger, krempelte "Wanderers Nachtlied" von Goethe um für einen satirischen Rückblick auf ein von Teilen des DAS verschlafenes Jahrzehnt eingeläuteter Neuzeit seit 1917. Im dritten Depressionsjahr der Weltwirtschaftskrise wurde das Werk im Mai 1931 zur Vierzigjahrfeier des DAS im großen Konzertsaal der Berliner Philharmonie in einem Festkonzert "Das Arbeiterlied der Neuzeit" von drei Chören uraufgeführt.
In sechs Strophen umfunktionierter Kirchenmusik schildert der Chor den Hungertod einer alten Frau ("das Brot, das fraß das Militär"). Der Protest ("Ein Mensch müsse essen können, bitte sehr") wird zuerst von einem "Kommissar" mit "Gummiknüppel" und dann vom "Militär" mit "Maschinengewehr" niedergeschlagen.
Refrain: Darauf schwiegen die Vögelein im Walde. / Über allen Wipfeln ist Ruh / In allen Gipfeln spürest du / Kaum einen Hauch.
In der siebten Strophe kommt "ein großer roter Bär einher" (die Oktoberrevolution). Der "fraß die Vögelein im Walde".
Geleitet von Lieve Franssen, bewältigten der Brecht-Eislerkoor und der Hans-Beimler-Chor eine reichhaltige Beispielaufgabe von Polyphonie auf neuer Grundlage – wie sie Eisler eben auch kulturpolitisch demonstrieren wollte.
Lieder und Chöre aus dem Lehrstück "Die Maßnahme" op. 20: Das intensiv in ihrer ersten gemeinsamen Autoren-Werkstatt (7. Juli bis 2. August 1930) in Berlin begonnene und in Rekordzeit fertiggestellte Stück markiert den eigentlichen Beginn der lebenslangen engen Zusammenarbeit zwischen Brecht und Eisler. Brecht wollte und konnte "lernen von diesem Boten der Arbeiterbewegung", der sich gerade kulturpolitisch engagierte.[6] Mit Arbeiterchören, die dem entsprechend künstlerische und zugleich politische Kollektive sein sollten, wurde gegen öffentliche Widerstände[7] zum Jahresende eine politischen Disput ermöglichende Aufführungsform realisiert. Sie sollte zugleich ein Beitrag zur "Überwindung der bürgerlichen Konzertform" sein: Weniger Oratorium als vielmehr ein Anti-Oratorium, dem Agitpropstil nahe. Hier ist der Chor Träger der Aufführung und zugleich ihr Adressat.
- Streiklied (Komm heraus, Genosse), Dirigent: Daniel Selke
- „Weiß ich, was ein Mensch ist?“ Solovortrag Karim Zahidi, Brecht-Eisler-Koor Brüssel,
Dirigentin: Lieve Franssen - Ändere die Welt, sie braucht es, Dirigent: Daniel Selke
Klavierbegleiterinnen: Marija Pendeva, Lieve D’Haese
Zweifellos war das ein Höhepunkt des Geburtstagskonzerts, an dem der Brussels Brecht-Eislerkoor vorbildlich Anteil hatte! Ernst-Busch-Chor, Erich-Fried-Chor und hardChor "ELLA" konnten sich bestens einfügen: Sie waren 2016 hier an gleicher Stelle an der Berliner Gesamtaufführung in annähernder Originalbesetzung mit rund 270 Beteiligten aus dem Landeschorverband, "Quereinsteigern von unten" und kleinem Orchester beteiligt.
Karim Zahidi überzeugte mit dem kritischen Ausbeuter-"Song von der Ware" wie schon 2014 in einem gemeinsamen Konzert des Brecht-Eislerkoors mit dem Ernst-Busch-Chor.
Zwei Lieder aus Eislers op. 25, der Kantate "Die Mutter". Brechts bekanntestes revolutionäres Stück, 1932 nach Motiven aus Gorkis gleichnamigem Roman verfasst: Das in den USA 1935 nachkomponierte balladeske Lied vom zerrissenen Rock, unter anderem auch als "Verurteilung des Reformismus" bekannt, sang der Brüsseler Brecht-Eislerkoor niederländisch zur drängend ostinaten Klavierbegleitung (Lieve D’Haese), vom verhaltenen Zorn bis zur energischen Entladung, durchgehend auch in gruppendialogischen Haltungen ausgestellt: Wir brauchen nicht nur den Arbeitsplatz, wir brauchen die ganze Fabrik und die Kohle und das Erz und die Macht im Staat. So, das ist, was wir brauchen. Aber was bietet ihr uns an?
Mit dem kollektiven Lied des Pawel auf Deutsch: Eh sie verschwinden und das wird bald sein / Werden sie gemerkt haben, dass ihnen das alles nichts mehr nützt ("Im Gefängnis zu singen") brachte sich der Frauenchor in Stimme, Ausdruck und Gestus nachhaltig in Erinnerung. Bertolt Brecht war es besonders wichtig, dass der Besucher lernt, eine Entscheidung zu fällen.
Das "Lied van de mijnwerkers" (niederländisch für Lied der Bergarbeiter) schrieb der Komponist sehr bald nach seiner Übersiedlung aus Wien 1925 für Slatan Dudows Debüt-Inszenierung eines Antikriegsstücks an der Berliner Volksbühne. In "Heer ohne Helden" von Anna Gmeiner sangen die Darsteller "Wir graben unsere Gräber, wir schaufeln selbst uns ein, wir müssen Totengräber und Leich’ in einem sein". Als leise beginnendes Trauerlied und final geschärfte Anklage wurde es bald durch Ernst Buschs Plattenaufnahmen populär. Die Melodie, bereits jenseits gängiger Dur-/Moll-Praxis einigen älteren volkstümlichen Praktiken angenähert, kam beim sauberen dreistimmigen a-cappella-Vortrag der Brüsseler Männer einprägsam zur Geltung.
Lieder aus dem Exil
Das "Vielleicht"-Lied bildet als "Rundgesang der Pachtherren" das Schlusslied zu Brechts Stück "Die Rundköpfe und die Spitzköpfe". Um die Nazi-Phrasen zu entlarven, entwickelte er erstmals ein "Verfremdungsprinzip". Skovsbostrand/Dänemark, August 1933:
Vielleicht vergeht uns so der Rest der Jahre,
Vielleicht vergehn die Schatten, die uns störten,
Und die Gerüchte, die wir kürzlich hörten,
Die finster waren, waren nicht das Wahre!
Vielleicht, dass sie uns noch einmal vergessen,
So wie wir gern auch sie vergessen hätten?
Wir setzen uns vielleicht noch oft zum Essen.
Vielleicht sterben wir noch in unseren Betten?
Vielleicht, dass sie uns nicht verdammen, sondern loben?
Vielleicht gibt uns die Nacht sogar das Licht her,
Vielleicht bleibt dieser Mond einst voll und wechselt nicht mehr?
Vielleicht fällt Regen doch von unten nach oben?
Vielleicht fällt Regen doch nach oben!
Im leisen hoffnungs- und schnörkellos melodischen Fluss werden nur drei Verszeilen – die Parodie besonders krasser Illusionen – dynamisch hervorgehoben. Lieve Franssen leitete den Brussels Brecht-Eislerkoor, Erich-Fried-Chor, hardChor "ELLA".
Lidicelied ("Bruder, es ist Zeit"), 1942 in den USA aktualisierte Fassung von Brecht/Eisler, a-cappella-Satz von Karl Rankl: In der internationalen Solidaritätsbewegung an der Schwelle zu den 1930er Jahren hatte sich Hanns Eislers "Kominternlied" auf Texte von Franz Jahnke und Maxim Vallentin, Autoren der Agitpropgruppe Das Rote Sprachrohr, sehr schnell verbreitet (Verlasst die Maschinen, im Sturmschritt marsch). Der ursprüngliche Plan, es sogar unerkannt im Exilland USA als „Lidicelied“ mit einem neuen, melodiegerechten Text von Brecht in Fritz Langs Film „Hangmen Also Die“ zu verwenden, ließ sich nach der englischen Nach- und Umdichtung leider nicht mehr verwirklichen. (Stattdessen vermochte Eisler aber auf dieser Textgrundlage ein anderes seiner Kampflieder einzuschmuggeln: Marcha del 5° Regimiento für den spanischen Bürgerkrieg komponiert). Der Busch-Chor sang das Moll-ähnliche „Lidicelied“, das modal marschierende Proleten ansteuert, auf Deutsch unter Leitung von Daniel Selke.
Zwei Lieder aus Hanns Eislers "Woodbury-Liederbüchlein" (20 Gesänge für dreistimmigen Kinder- oder Frauenchor, USA 1941) und "Hollywooder Liederbuch" (1942/43): "Ich hab ein kleines Hündchen (Alten Damen vorzusingen)". Aus Eislers kalifornischem Zeitvertreib gegen die unerträgliche Situation des Wartens im Exil eine Miniatur im Blues-Rhythmus. Der erotisch ausstrahlende Witz der Einstudierung durch den Erich-Fried-Chor (unter Andreas Bunckenburg) beruht bei gemischter Besetzung wohl auf dem wörtlich beibehaltenen Interpretationshinweis des Komponisten. Wenn vier junge Männer lasziv den hohen textlichen Part innehaben, dann können die dazugehörigen Vokalisen weiblicher Backgroundstimmen entweder einen ergrauten Schwarm versinnbildlichen oder die nostalgisch "stöhnende" Zuhörerin.
Hanns Eisler vertonte 1942 "An den kleinen Radioapparat", einen schon im dänischen Exil entstandenen Text von Brecht aus dessen "Steffinischen (Gedenk-)Sammlungen", für Solo-Gesangsstimme und Klavier. (Du kleiner Kasten, den ich flüchtend trug … Versprich mir, nicht auf einmal stumm zu sein!) Maria Haupert arrangierte für den Chor a cappella einen vierstimmigen Satz und sorgte für eine saubere Wiedergabe.
Der Erich-Fried-Chor in Prenzlauer Berg bleibt dem musikalischen Nachwuchs aus Schulen verbunden und schließt in sein historisch und geografisch breit gefächertes Repertoire mit besonderer Vorliebe Lieder von Gerhard Gundermann in eigens arrangierten Sätzen ein.
Wirken unter veränderten gesellschaftlichen Umständen
"Neue deutsche Volkslieder", 1950 ein sehr erfolgreicher Zyklus nach Gedichten von Johannes R. Becher für Gesang und Klavierbegleitung, entstanden im weitgehend zerstörten Berlin. Generell vereinfachende Zuspitzungen wie in Eislers Kampfmusikzeiten gingen nicht mehr. Auf alltäglicher musikalischer Ebene wurden neue, leicht fassliche Mittel als Gestaltungshilfe für eine neu sich organisierende Gesellschaft gebraucht. Bewusst einfach gehaltene Lieder sollten "das Volkslied seinen Platz … in den Herzen der Menschen (finden) lassen, die ein neues Leben schaffen", schrieb der Komponist. "Wir wollen wieder singen lernen, und ein Lied der Freiheit und des Friedens soll es sein." Im tradierten musikalischen Satz von Erhard Ragwitz ließen alle fünf Chöre, geleitet von Bettina Kurella, "Die alten Weisen" erblühen:
Es sind die alten Weisen, / die neu in uns entstehn, / und die im Wind, dem leisen, / von fern herüberwehn. / Wenn sich die Wipfel neigen / allabendlich im Winter, / dann gehn durch unser Schweigen / sie, die gefallen sind.
Es sind die alten Weisen, / die singen neu aus mir, / und wie vorzeiten wieder / am Abend singen wir. / Es ist in uns ein Raunen / und wird zum großen Chor, / und zu den Sternen staunen, / staunen wir empor!
Aus demselben Zyklus trug der Ernst-Busch-Chor das damals erstrebte "Wunderland" - historisch nachträglich im "Brustton" - zu Eislers drängend-pochender Klavierbegleitung vor, einem belebend eingesetzten Idiom aus seiner Kampfmusikzeit (Leitung Daniel Selke, Klavier: Marija Pendeva).
"Und ich werde nicht mehr sehen / das Land, aus dem ich gekommen bin" (aus Brechts "An die deutschen Soldaten im Osten 1944-45") steht in Moll. Hanns Eisler komponierte es 1953/54 in einer für ihn schwierigen, zeitweise resignativen Phase nach kontraproduktiven Auseinandersetzungen um sein letztlich verhindertes "Johann Faustus"-Projekt. Der Brussels Brecht-Eislerkoor und der Hans-Beimler-Chor sangen das in weiten Teilen hoffnungsarme Lied im Satz von Hartmut Fladt, Jahrgang 1945, geleitet von Johannes Gall: Sehr verhalten, aber immerhin mit dynamisch aufscheinenden Lichtschimmern dort, wo es um jugendliche Erinnerung, letztlich um Prägungen der Herkunft geht.
"Das Lied von der Moldau", die positive Utopie vom Wandel der Herrschaftsverhältnisse in Brechts Exil-Stück "Schwejk im 2. Weltkrieg" (1943), hat Eisler dem Dichter erst wenige Wochen vor dessen Tod in der endgültigen Form vorspielen können. (Die Uraufführung des Stücks fand am 15. Januar 1957 in Warschau statt.) "Dieses Lied ist das Leitmotiv des ganzen Stückes, die ‚gesungene’ Lehre von der lebendigen Dialektik", sagte Eisler darüber. "Es ist ein Lied, das den Ausweg, die Lösung durchblicken lässt, denn in der wirklichen Geschichte war ja die Schlacht von Stalingrad, vor der das Stück endet, noch nicht der Abschluss. … Unmöglich, in diesem Moment mehr Hoffnung zu geben." Im fünfstimmigen a-cappella-Satz von Meinhard Ansohn ist der Optimismus unverkennbar. Andreas Bunckenburg leitete den Vortrag im Arrangement von Erich-Fried-, Hans-Beimler-Chor und hardChor "ELLA".
"Ernst Busch hat den Frieden besungen - In allen Sprachen": Mit dem legendären Leitbild und ihrem Namensgeber Refrains von Buschs tönenden Dokumenten seiner laufend herausgegebenen "Chronik des 20. Jahrhunderts in Liedern" einzustimmen, hat den gestandenen Veteranen des Ernst-Busch-Chors über Jahre viel Freude gemacht. Was sie auch aus Eislers erster Forderung als bleibende Verpflichtung für sich selbst erkoren – "große Fasslichkeit, leichte Verständlichkeit und energische präzise Haltung" –, trugen sie hier, geleitet von Daniel Selke, mit Verve in einem Chor-Medley vor. (Chormitglieder begleiteten auf der Gitarre)
Das bekannte und immergrüne "Lied vom Kompromiss", mit dem Kurt Tucholsky 1919 die rechten Sozialdemokraten geißelte, schrieb Hanns Eisler 40 Jahre später für Ernst Buschs Aurora"-Platten-Edition, neben weiteren in die "Chronik" aufzunehmenden Tucholsky-Liedern. Der hardChor "ELLA" hatte Spaß an einem vierstimmigen, rhythmisch bewegten a-cappella-Satz von Erwin Jedamus. Bettina Kurella ließ ihn auf die schon erwähnte Hymnen-Collage "Mixed Germany" (1991) folgen.
"Lied über den Frieden", seit 1949 eines der bekanntesten Friedenslieder von Hanns Eisler auf den Text des österreichischen Marxisten Ernst Fischer, gehört auch wegen seines mitreißenden Optimismus und Drives zu den Standardliedern des Ernst-Busch-Chors:
Kraft jedermanns großem Nein muss der Frieden von den Völkern der Welt für alle Zukunft errungen werden. Ernst-Busch- und Hans-Beimler-Chor, geleitet von Daniel Selke, sangen es gemeinsam.
Text: Hilmar Franz
Fotos: privat | Hanns Eisler: Wikipedia
(Aktualisiert am 14.5.2018)
Anmerkungen:
Für die Werk-Einordnung auf der Grundlage neuerer Forschungsergebnisse stellte Dr. Johannes Gall vorab seinen Editionsbericht zum vorbereiteten Band mit Hanns Eislers a-cappella-Chören der Jahre 1925-1932 zur Verfügung. Die Eisler-Gesamtausgabe erscheint im Verlag Breitkopf und Härtel.
[1]Das "Singen der Lieder der deutschen Arbeiterbewegung" wurde 2014 in das Bundesweite Verzeichnis des Immateriellen Kulturerbes der Deutschen UNESCO-Kommission aufgenommen. ("Die Maßnahme" ist eine künstlerische Weiterentwicklung dieser Lieder.)
[2] Unter a cappella versteht man die chorische Besetzung eines mehrstimmigen nicht instrumental begleiteten Vokalstücks.
[3] Eisler hatte bereits in mehreren Artikeln den Verfalls- und Verwesungsprozess von Strukturen des bürgerlichen Musiklebens scharf kritisiert und analysiert. Für die Marxistische Arbeiterschule standen von ihm erste Vorträge über materialistische Musikgeschichtsbetrachtung an (bis 1930 "Musik und Proletariat"). Innerhalb des DAS entwickelte sich eine Opposition; Eisler nahm u.a. an einer ihrer Gruppenversammlungen in Remscheid teil. Es kam zur Herausbildung einer revolutionären Fraktion "Kampfgemeinschaft der Arbeitersänger" und im Oktober 1929 zur Gründung einer Interessengemeinschaft für Arbeiterkultur mit Eislers aktiver Beteiligung.
[4] Die A-cappella-Chöre op. 13 (mit Vorspruch) und op. 14 hat Eisler für den großen Berliner Schubert-(Arbeiter-)Chor komponiert. Unter der Leitung von Karl Rankl, seinem ehemaligen Mitschüler bei Schönberg, wurden sie am 27. Januar 1929 im Bachsaal Berlin-Tiergarten uraufgeführt.
[5] Die Uraufführung dieses von Fachleuten einhellig gelobten Chorstücks realisierte Anton Webern mit dem von ihm geleiteten Wiener Singverein der Sozialdemokratischen Kunststelle am 10. und 11. November 1929 während eines Arbeiter-Symphoniekonzerts im Großen Musikvereinssaal Wien. Erstmals in Deutschland und nur zwei Wochen später führte Karl Rankl „Auf den Straßen zu singen“ mit seinem Schubert-Chor auf: in der Staatlichen akademischen Hochschule für Musik Berlin.
[6] Im März 1930 wurde Eisler in die Reichsleitung der Interessengemeinschaft für Arbeiterkultur gewählt.
[7] Die künstlerische Leitung der Gesellschaft für Neue Musik Berlin lehnte im Sommer 1930 die vorgeschlagene Uraufführung auf ihrem Musikfest ab. Brecht und Eisler protestierten in einem Offenen Brief.