29.01.2016: Ein durchaus aktuelles Gedicht zur gegenwärtigen „Flüchtlingsdebatte“ und zur „deutschen Leitkultur“ schrieb Friedrich Rückert bereits vor knapp zweihundert Jahren. Es heißt "Grammatische Deutschheit" und beobachtet versmäßig einige Zeitgenossen beim Wettstreit um die wahre deutsche Gesinnung.
Grammatische Deutschheit
Neulich deutschten auf deutsch vier deutsche Deutschlinge deutschend,
Sich überdeutschend am Deutsch, welcher der deutscheste sey.
Vier deutschnamig benannt: Deutsch, Deutscherig, Deutscherling, Deutschdich;
Selbst so hatten zu deutsch sie sich die Namen gedeutscht.
Jetzt wettdeutschten sie, deutschend in grammatikalischer Deutschheit,
Deutscheren Comparativ, deutschesten Superlativ.
"Ich bin deutscher als deutsch.""Ich deutscherer". "Deutschester bin ich.
"Ich bin der Deutschereste, oder der Deutschestere."
Drauf durch Comparativ und Superlativ fortdeutschend,
Deutschten sie auf bis zum Deutschesteresteresten;
Bis sie vor comparativisch- und superlativischer Deutschung
Den Positiv von Deutsch hatten vergessen zuletzt.
Friedrich Rückert (1788-1866), dessen Todestag sich am 31.Januar zum 150. Mal jährt, war ein deutscher Poet, der der Romantik zugeordnet wird. Von seinen Dichtungen bekannt geblieben sind seine „Kindertotenlieder“, die Anfang des 20. Jahrhunderts von Gustav Mahler vertont wurden. Vor allem aber war Rückert ein Sprachgelehrter und Übersetzer; er gilt als Begründer der deutschen Orientalistik und übersetzte klassische arabische Texte in die deutsche Sprache. Er galt als wahres Sprachgenie - er beherrschte neben seiner Muttersprache mindestens 44 weitere Sprachen.
"Der höchste Zauber arabischer Poesie besteht nicht nur in Bild und Bewegung, sondern vorzüglich in des Reimes Gleichklang, der für arabische Ohren wahrer Sirenenton ist." In der Romantik galt der durch Napoleons Ägypten-Expedition 1798 neuentdeckte Orient als ein mythischer Ort voller Geheimnisse - aber auch als gesellschaftliches Gegenmodell zum absolutistischen Nationalstaat europäischer Prägung. Insofern war Rückerts 1834 erschienene Koran-Übersetzung nicht allein Ausdruck dichterischen Sturm und Drangs, sondern auch ein Manifest der Aufklärung - um so mehr, als die kirchlich geprägten Koran-Übersetzungen der Jahrhunderte vor Rückert eine deutlich polemische, anti-islamische Färbung zeigten.
Günther Stamer