14.11.2014: Das idyllische Meiningen an der Werra mit seinem „Musenhof“ hat eine glanzvolle Tradition. In dem kleinen, doch weltoffenen Duodezfürstentum entwickelte sich einst ein Zentrum der Künste mit internationaler Ausstrahlung. Nicht nur Berühmtheiten wie Schiller, Max Reger und Brahms profitierten davon. Anderthalb Jahrhunderte später wurde hier, im sowjetisch besetzten Thüringen, zum ersten Mal nach dem Krieg wieder ein Theater in Deutschland eröffnet. Keine schlechte Kulisse also für die 24. Tagung der Anna-Seghers-Gesellschaft (ASG).
Die 1991 gegründete ASG kam bereits zum dritten Mal hier zusammen, auf Einladung der nach der Schriftstellerin benannten Kreis- und Stadtbibliothek. Ob Anna Seghers den Ort je besucht hat? Das ist ungewiss. Und was hätte sie, die sechs Jahre vor dem Anschluss der DDR starb, jetzt wohl gesagt angesichts gähnender Leerstände, Entvölkerung und eines NPDManns im Stadtrat von Meiningen?
Gefallen hätten ihr indes die selbstbewusst präsentierten Beiträge der Schüler und Schülerinnen, die zu Beginn die Versammlung einstimmten mit eigenen Text-Bearbeitungen aus Seghers’ Werk. Auch dass die junge Anne Richter in der Sonntags-Matinee ihren Roman „Fremde Zeichen“ vorstellen konnte, das hätte die große Dichterin gefreut, die selbst so viele junge Menschen auf ihrem künstlerischen Weg ermutigt hat.
Bereits auf der letztjährigen Tagung in Berlin, an der noch die kurz darauf verstorbene ASG-Ehrenvorsitzende Elfriede Brüning teilnahm, ging es um „Freundschafts- und Arbeitsbeziehungen in Leben und Werk von Anna Seghers“. Dort standen ihre Freundschaften in Frankreich, Brasilien und den USA wie auch in der DDR im Zentrum. Dieses Jahr wandte man den Blick nach Osten: Auf Ilja Ehrenburg (Russland/ Sowjetunion), Georg Lukàcs (Ungarn) und auf die Prager Gisl und Egon Erwin Kisch.
Im Bund proletarisch-revolutionärer Schriftsteller (BPRS) in Berlin trafen sie sich; auch Elfriede Brüning lernte dort die junge Erfolgsautorin kennen. Seghers betonte rückblickend: Es waren „nicht nur die theoretischen Diskussionen, die mich in den BPRS zogen – es waren vor allem die Menschen“. In ihren literarischen Texten greift sie vielfach die Motive von Vertrauen und Verrat, Verbundenheit und Verstoßung auf, politisch am radikalsten in ihrem ersten Roman „Die Gefährten“ (1932).
Die heftigen Angriffe nach 1989 auf die „dogmatisch-hölzerne“ Vorsitzende des DDR-Schriftstellerverbandes sind allmählich abgeebbt; ihren Weltrang kann ihr ohnehin niemand mehr bestreiten. Doch die Anna-Seghers-Gesellschaft mit ihren über die ganze Welt verstreuten rund 200 Mitgliedern wird trotzdem nicht gerade überschwemmt mit Fördermitteln. Wegen der kritischen Finanzlage musste der Vorstand sogar die Herausgabe des Jahrbuchs der ASG, „Das Argonautenschiff“, verschieben, ebenso wie die an sich jährliche Preisverleihung an Nachwuchskünstler. Umso bewundernswerter die Vielzahl an Aktivitäten der ASG, die Vorsitzender Hans-Willi Ohl (Darmstadt) aufzählte: Vorträge, Lesungen, Publikationen, Ausstellungen; nicht zuletzt die von Monika Melchert vorbildlich betreute Gedenkstätte in Berlin-Adlershof.
Fest steht: Die Rezeption des Werks der 1900 geborenen Netty Reiling, der einzigen Tochter einer begüterten, von den Nazis mörderisch verfolgten jüdischen Familie, wächst und gedeiht. Internationale Spitzenrenner bleiben ihr antifaschistisches Epos „Das 7. Kreuz“ und „Transit“. Eine Neuverfilmung dieses letzteren, auch formal avantgardistischen Flüchtlingsromans plant zur Zeit Christian Petzold, der bekannte Regisseur von „Phönix“ u. a.
Ihre letzte Erzählung „Überfahrt“ (1971) wird jetzt endlich auch ins Englische übertragen, der schottische Übersetzer wurde als Mitglied der ASG begrüßt. Seghers’ „Der Ausflug der toten Mädchen“ zählt inzwischen sogar zum Kanon der Schullektüren. Bemerkenswert das Vorhaben des Mainzer Theaters: Im Juni 2015 kommt ihr Roman „Der Kopflohn“ (1933), in einer Bearbeitung von Dirk Laucke, erstmalig auf die Bühne
Das Tagungsprogramm begann mit einer Lesung von Ute Kaiser aus der „Legende von der Reue des Bischofs Jehan D’Aigrement von St. Anne in Rouen“ (1924) Die junge Schauspielerin aus Marienheide bei Köln warb für ihr Hörbuch-Projekt zu dem erst spät wiedergefunden Text. Seghers’ poetischen „Satzbögen“ zu sprechen – so ihre sehr treffende Formulierung – bereite ihr große Freude.
Drei Vorträge folgten. Die Berliner Übersetzerin Eveline Passet verglich Motive und Grundstimmung in „Transit“ mit Ilja Ehrenburgs „Sommer 25“, aus seiner Zeit im Pariser Exil. Dieses Frühwerk erschien erst 1981 auf deutsch, und bislang nur in der DDR. Nach Seghers’ Ankunft in Ostberlin nahm sie bald wieder Kontakt auf mit Ehrenburg, dem sie 1933 in Paris begegnet war. Seine legendären Flugblätter für die Rotarmisten hatten ihn in Nazi- Deutschland besonders verhasst gemacht.
Helen Fehervary (Universität Ohio) berichtete über ihre Forschungen zu Georg Lukàcs und seine Freundschaft zur 16 Jahre jüngeren Seghers. Die Ereignisse in Ungarn 1956 hätten ihre Freundschaft auf eine harte Probe gestellt.
Mit der Jahrzehnte überdauernden „Wahlverwandtschaft“ zwischen dem Ehepaar Gisl und Egon Erwin Kisch und der „Familie Seghers“ befasste sich die Doktorandin Anja Jungfer (Berlin). Als stets neue „Konstruktion von Zugehörigkeit“ beschrieb sie die gegenseitige Hilfe beim Überleben im Exil. Im ständigen Ringen der jungen Eltern Anna und Laszlo Radványi mit ihren zwei Kindern sah sie ganz modern als das Bemühen um eine „work-life balance“.
Immer wenn sich die lebhaften Diskussionen zu verheddern drohten, schaltete sich Sohn Pierre Radvány ein, der trotz seines hohen Alters wie eh mit Familie aus Paris angereist war. Seine überaus präzisen Erinnerungen wiesen tief berührend immer wieder auf das Wesentliche zurück.
Zum guten Ende dann führte eine musikalisch begleitete Zitaten-Collage das ganze fein gewebte „Gefährten“- Netzwerk noch einmal vor Augen: Lore Wolf und Jürgen Kuczynski, Helene Weigel und Jorge Amado, Jeanne und Kurt Stern und viele andere, prominente und nicht prominente – eine Hommage auf diese großartige Kommunistin und Künstlerin und ein kollektives „Lob der Freundschaft“.
Text: Eva Petermann (aus UZ vom 14.11.14) Fotos: Bundesarchiv und dalbera