20.12.2011: Politische Liedermacher sterben niemals aus. Konstantin Wecker und Prinz Chaos II. warben schon 2009 bei Hannes Wader und anderen für die Idee, ihrem Freund und Nestor Karatsch zum 80. Geburtstag mit einem großen musikalischen „Familienfest“ zu gratulieren. Der Verlag junge Welt stieg mit Tageszeitung und Monatszeitschrift „Melodie & Rhythmus“ ein. Er vereinbarte sich mit dem Wunschpartner Berliner Ensemble und brachte am Montag von 20 bis 0 Uhr 13 Barden, ihre Bands und zwei Schauspieler vor ein heißes Publikum am Schiffbauerdamm – 500 im Saal, viele weitere an den Monitoren draußen. Degenhardt erfuhr von den heimlichen Vorbereitungen vier Monate vor seinem Tod am 14. November und entflammte für den politisch- künstlerischen Impuls, auch wenn er angesichts körperlicher Schwäche die eigenen Teilnahmechancen sehr verhalten sah.
Ein reines Gedenkkonzert ließen aber weder Konstantin Wecker und Prinz Chaos II. als Moderatorenduo noch die Altersunterschiede der Auftretenden vom 22. bis zum 69. Lebensjahr zu. Es inspirierte sie, jeweils einen Degenhardt und einen eigenen Titel auf der Brecht- Bühne zu singen, der Hintergrund bot dann Gelegenheit zum hautnahen Miterleben von anderen Vorträgen. Eine Ahnung der künstlerisch-dialektischen Methode von Brecht-Eisler war schon hereingeweht, als Wecker im vorderen Parkett die über 80-jährige singende Brechtdarstellerin Gisela May begrüßte: ein zusätzliches Familienmitglied.
Den ersten Programmblock im Spannungsbogen zwischen Ideal und Wirklichkeit eröffnete der blutjunge Max Prosa. Degenhardt fand vor Jahren ein „Gelobtes Land“ z. B. in Kommunistan und wünschte sich, dort sowohl tot als auch lebendig zu sein. Prosas daran gekoppeltes Lied fordert zum Herausholen aus den aktuellen „Abgründen einer Stadt“ auf. Für Barbara Thalheim, eine der bekanntesten Liedermacherinnen der DDR, bleibt „Dies Land ist unser Land“ reine Utopie, solange die Politik z.B. keine aktuelle Würdigung für Karatsch oder Christa Wolf findet. Ihr liebevoll- kritisches Verhältnis zur DDR „So lebten wir in den Zeiten der Stagnation“ wurde stürmisch applaudiert. Wiglaf Droste traf mit „Wölfe im Mai“ die einhellige Kritik am staatlichen Lavieren mit Neonazis. Songpoet Götz Widmann widmete sich mit „Deutscher Sonntag“ dem Wegschauen in der miefigen Kleinstadt und kreierte eine positiv vorgestellte Umkehrung historischer Kräfteverhältnisse seit Ende der 80er Jahre. „Proletarier sucht Frau“ wäre dann keine bürgerliche Seifenoper und Millionen Arbeitslose gäbe es gar nicht. Die Kleingeldprinzessin Dota Kehr unterstrich mit „Ein schönes Lied“ Degenhardts Standpunkt einer untrennbaren Einheit von Kunst und Politik. Ihre eigene „Utopie“ radikalisiert sich an einer Kreuzberger Brückenlosung: Es geht nicht um ein Stück vom Kuchen, es geht um die ganze Bäckerei.
Kai Degenhardt und Götz Steeger waren schon bei den beiden letzten FJD-Labels Partner und traten auch hier zusammen auf. Der von Steeger solo vorangestellte eigene Titel „Fenster“ thematisiert die abstumpfende, nichtssagende Flut von Medienbildern und befürwortet Transparenz eher im Sinn von Wikileaks. Dann erste gemeinsame Höhepunkte vor Krisenhintergrund: „Die Ernte droht“ mit verhaltener Wut bei so viel Schweigen. „Ich ging im letzten Mai“, das Kai vom Vater aussuchte, zeichnet „hinterm Horizont“ die Kraft großer widerständiger Aktionen mit der Hoffnung, „dass es vielleicht noch mal gelingt“. Mit verhaltenen Sprachbildern und etwas unverbindlicher zielt Kai Degenhardts eigenes Lied „Tag im Mai“ in eine ähnliche Richtung.
Frank Viehweg, bekannt aus der DDR Liedermacherszene, überzeugte zu Degenhardts Musik und eigenem Text mit einem zeitgemäßen Plädoyer für „unsere Sache“. Nach Karatschs Methode fragte auch Viehweg nach, wie es heute um Vorbilder wie Rudi Schulte, Mutter Mathilde, Joß Fritz bestellt ist. Dass das für ihn Grundfragen sind, wurde anhand der nachfolgenden Hirnverkleisterungsparodie „Hier wo ich lebe“ deutlich. Franz Josef Degenhardt kam öfter auf das erste erfolgreiche historische Beispiel der Pariser Kommune zurück. Die gestandene Sängerin Joana sang das poetische Barrikadenlied „Kirschenzeit“, und Konstantin Wecker in vorsichtiger eigener Anpassung sein „Weiter im Text!“ Neu und elektrisierend wie immer wirkte das nachfolgende „Empört euch!“ Prinz Chaos II. pfefferte den indirekten Aufruf, sich Nazis überall entgegenzustellen, entsprechend mit der „Ballade vom Edelweißpiraten Nevada Kid“. Der in Berlin lebende Daniel Kahn vereint die besten Traditionen amerikanischer und jüdischer Musik und begeisterte mit „The Good Old Bad Old Days“ als wirksamen Kontrast zu Degenhardts „Die alten (d.h. toten) Lieder“.
Mit sehr persönlich wirkenden Bezügen zu FJD gestalteten sowohl Jan Degenhardt als auch Hannes Wader das bewegende Finale. Jans „Mantel aus Brokat“, ein Titel aus seiner preisgekürten neuen CD, greift im stummen Dialog offenbar das vom Vater mitunter bemühte Bild vom Traumritt zu vergessenen Orten von Schlachten und Schluchten, zu einer mit Geld flüchtenden Widerstandskämpferin mit Berufsnamen Sandra auf. Franz Josef Degenhardts herrliches Totstellen als „Fuchs auf der Flucht“ spiegelt eine Gewissheit von Unsterblichkeit. Hannes Wader ehrte den „alten Freund“ nicht nur mit dem symbolträchtigen Lied vom Weißkirschenbaum aus eigener Feder. Er gestaltete „Reiter wieder an der schwarzen Mauer“ als historisch-widerständiges Zechen-„Gemälde“ zum letzten großen Degenhardt-Titel.
Das letzte Wort behielt aber Karatsch selbst. Vom Band ertönte das genießerisch- fröhliche „An der Quelle“ mit der Aufforderung „Spielt weiter, ihr Musikanten, auch wenn es donnert, blitzt und kracht“. „Ist die Feier dann zu Ende und sie kommt schließlich zu mir, diese endgültige Wende, öffne ich die schwarze Tür.“
Text: Hilmar Franz (Vorabdruck aus der UZ vom 23.12.11) Fotos: mami