Der Kommentar

ein Kommentar von Leo Mayer (Redaktion kommunisten.de)

10.11.2023: Volle sieben Minuten brauchte der deutsche Vizekanzler Robert Habeck von den Grünen, um in seiner mit englischen, arabischen und hebräischen Untertiteln versehenen Videobotschaft das Leid der Millionen von Zivilisten in Gaza zu erwähnen. Und das, nachdem die israelische Armee seit vier Wochen mit ihren Flächenbombardements mehr als 10.000 Menschen, darunter mindestens 4.100 Kinder, ermordet und eine ethnische Säuberung des Gaza von Palästinenser:innen in Gang gesetzt hat.

 

Der Gazastreifen ist zu einem "Friedhof für Kinder" geworden, sagen übereinstimmend UNO-Generalsekretär Antonio Guterres sowie der Generalkommissar der UNRWA, Philippe Lazzarini, und UNICEF-Sprecher James Elder.

"Es ist kein Krieg, sondern ein Völkermord, dem fast zweitausend Kinder zum Opfer gefallen sind, die nichts mit diesem Krieg zu tun haben", klagte Brasiliens Präsident Lula schon vor zwei Wochen.

"Die vollständige Belagerung des Gazastreifens in Verbindung mit undurchführbaren Evakuierungsbefehlen und erzwungenen Bevölkerungstransfers stellt eine Verletzung des humanitären Völkerrechts und des Strafrechts dar. Sie ist außerdem unsagbar grausam", stellten der UN-Sonderberichterstatter für das Menschenrecht auf sauberes Trinkwasser und sanitäre Einrichtungen, Pedro Arrojo Agudo, und die UN-Sonderberichterstatterin für die besetzten palästinensischen Gebiete, Francesca Albanese, in einer gemeinsamen Erklärung fest.

Der UN-Hochkommissar für Menschenrechte, Volker Türk, wirft sowohl der Hamas – die "Gräueltaten am 7. Oktober waren Kriegsverbrechen ebenso wie die anhaltende Geiselnahme" - wie auch Israel Kriegsverbrechen vor. "Die kollektive Bestrafung palästinensischer Zivilisten durch Israel stellt ebenfalls ein Kriegsverbrechen dar, ebenso wie die unrechtmäßige Zwangsevakuierung von Zivilisten." Es dürfe bei der Beschreibung der Situation keine doppelten Standards geben, sagte Türk.

Doppelte Standards zeichnen aber die Rede von Habeck [1] wie auch die Politik der Bundesregierung und die "Leitmedien" aus.

"Straßen übersät mit Leichen und notdürftig verscharrte Körper. Es ist von Frauen, Kindern und Alten die Rede, die unter den Opfern sind. Die Ermordung von Zivilisten ist ein Kriegsverbrechen. Die Täter und ihre Auftraggeber müssen zur Rechenschaft gezogen werden", sagte Bundeskanzler Scholz (SPD) über den russischen Krieg gegen die Ukraine.
Zu diesem Zeitpunkt (3. April 2022) wurden 1.417 getötete Zivilist:innen, darunter 201 Frauen und 62 Kinder als Opfer des russischen Angriffs gezählt.

Zu Gaza sagt Bundeskanzler Scholz: "Israel ist ein demokratischer Staat mit sehr humanitären Prinzipien, die ihn leiten. Und deshalb kann man sicher sein, dass die israelische Armee bei dem, was sie macht, die Regeln beachten wird, die sich aus dem Völkerrecht ergeben. Daran habe ich keinen Zweifel."
Zu diesem Zeitpunkt (26. Oktober 2023) waren bereits 7.028 Zivilist:innen, darunter 2.913 Kinder und 1.709 Frauen, Opfer der israelischen Bombardierungen geworden.

Der israelische Kriegsminister bezeichnete die Palästinenser:innen als "menschliche Tiere" und verkündete "wir handeln entsprechend". Er ordnete die totale Blockade und das Aushungern des Gazastreifens an. Die Infrastruktur - Krankenhäuser, Schulen, Bäckereien, Energie- und Wasserversorgung - wird seit dem systematisch zerstört.

Die UN-Organisationen WHO, UNRWA, UNFPA und UNICEF fordern in einer alarmierenden gemeinsamen Erklärung, die in deutschen Medien kaum Beachtung findet, eine sofortige Waffenruhe und betonen die Verpflichtungen der Konfliktparteien gemäß humanitärem Völkerrecht. Sie fordern besonderen Schutz für Kinder und betonen das Recht aller Zivilist:innen, einschließlich der Geiseln, auf medizinische Versorgung.

Alles kein Thema bei Habeck.

Dazu passt, dass sich Deutschland in der UNO gegen die von einer überwältigenden Mehrheit erhoben Forderung nach einer "humanitären Waffenruhe" stellte.

Erst jetzt, wo deutlich wird, dass sich außerhalb Israels und der westlichen Kernstaaten USA und Deutschland kaum jemand auf die Erzählung Netanjahus vom "Kampf zwischen den Kindern des Lichts und den Kindern der Dunkelheit" und der "Verwirklichung der Prophezeiung Jesajas“ [2] einlassen will, wo massive Mobilisierung im Globalen Süden, aber auch in den westlichen Hauptstädten, sowie die scharfen Äußerungen von Staatsoberhäupter wie Lula oder Gustavo Pedro aber auch von Regierungsmitgliedern in Irland, Belgien oder Spanien, die Aussetzung der diplomatischen Beziehungen einer wachsenden Zahl von Staaten Lateinamerikas zu Israel darauf hindeuten, dass sich hier ein veritabler Großkonflikt zwischen dem Westen und dem Globalen Süden andeutet, lenkt die US-Regierung und in ihrem Gefolge die Bundesregierung ein und fordern von Israel "humanitäre Feuerpausen".

"Zusammen mit unseren amerikanischen Freunden machen wir Israel immer wieder deutlich, dass der Schutz der Zivilbevölkerung zentral ist. Der Tod und das Leid, das jetzt über die Menschen im Gazastreifen kommt, sind schlimm" – mehr fällt Habeck in seiner Rede dazu nicht ein.

Allerdings nicht so schlimm, dass Habeck in einer neuen Video-Botschaft an die grüne Parteibasis nicht noch einen draufsetzen würde: "Im Grunde muss die Hamas zerstört werden, weil sie den Prozess des Friedens im Nahen Osten zerstört.“

Aber waren es nicht die Netanjahu-Regierungen, die den Friedensprozess und die Gründung eines Palästinenserstaates torpedierten – und die westlichen Staaten dabei untätig zusahen? Hat nicht Netanjahu während seiner Rede am 22. September 2023 bei der 78. Sitzung der Generalversammlung der Vereinten Nationen eine Landkarte gezeigt, die seine Version eines "New Middle East" darstellt. Dort existieren die palästinensischen Autonomiegebiete nicht mehr. Der Gazastreifen und das Westjordanland - insgesamt leben dort zusammengerechnet fast 5 Mio. Araber - sind beide im selben Blau gehalten wie das israelische Staatsgebiet. "From the river to the sea" auf israelische Art. Es ist nicht bekannt, dass Habeck, Baerbock oder ein anderes Mitglied der Bundesregierung protestiert hätte. Auch die Medien gingen kommentarlos darüber hinweg.[3]

Habeck bietet die "Perspektive einer Zweistaatenlösung" als Lösung an, die aber "wollen die Hamas und ihre Unterstützer, insbesondere die iranische Regierung nicht".

Aber waren es nicht die Netanjahu-Regierungen und die israelische Armee, die die jüdischen Siedler ermuntern und unterstützen, illegale Siedlungen im Westjordanland zu errichten und die palästinensische Bevölkerung zu terrorisieren und zu vertreiben?

Der Hochkommissar für Menschenrechte, Volker Türk, verlangte jüngst sofortige Maßnahmen zum Schutz der Palästinenser:innen im Westjordanland. Diese seien "täglich Gewalt durch israelische Sicherheitskräfte und Siedler, Misshandlungen, Verhaftungen, Vertreibungen, Einschüchterungen und Demütigungen ausgesetzt".

"Man redet über eine Lösung, als ob sie existiere", sagt der Redakteur der israelischen Zeitung Haaretz, Gideon Levy, in den Tagesthemen. "Wenn man 700.000 Juden im Westjordanland ansiedelt, dann ist damit die Zwei-Staatenlösung tot. Alles andere ist nur Gerede." [4]

"Israels Sicherheit ist deutsche Staatsräson" wiederholt Habeck die ständig vorgetragen Formel. Damit sie nicht zur "Leerformel" werde, erklärt Habeck, was er darunter verstehe. Dass "die Sicherheit Israels für uns als Staat notwendig ist". In der Sendung von Markus Lanz ergänzte er, dass Staatsraison "natürlich" auch heiße, "dass Israel militärischen Beistand bekommt. Waffenlieferungen, die angefragt werden, werden erfüllt werden."

Waffen aus Deutschland an eine ultrarechte, rassistische Regierung für ihren völkermörderischen Krieg im Gaza? Kurz gefasst: Es ist uns egal, was Israel tut, wir unterstützen es, und alles andere ist antisemitisch.

So nebenbei schreibt er dazu auch den Vernichtungskrieg der Nazis um. "Der Zweite Weltkrieg war ein Vernichtungskrieg gegen Juden, für das Naziregime war die Vernichtung des europäischen Judentums das Hauptziel."

Das Hauptziel der Nazis formulierten diese mit dem "Unternehmen Barbarossa": die Vernichtung des "Bolschewismus" und die Eroberung der Sowjetunion. Der gesamte europäische Teil der Sowjetunion sollte erobert, ihre politischen und militärischen Führungskräfte ermordet und große Teile der Zivilbevölkerung dezimiert und entrechtet werden. Mit dem Hungerplan, zu dem die totale Blockade Leningrads gehörte, wurde der Hungertod vieler Millionen von Kriegsgefangenen und Zivilisten einkalkuliert, und nach dem "Generalplan Ost" sollten großangelegte Vertreibungen folgen, um die eroberten Gebiete anschließend zu germanisieren.

Dies hat Habeck wahrscheinlich im Geschichtsunterricht sogar gelernt. Passt ihm aber nicht in die aktuelle politische Gemengelage. Da passt es besser, Putin vorzuwerfen, dass sich dieser "mit Vertretern der Hamas und der iranischen Regierung fotografieren" lässt. Dabei hatte er selbst keine Skrupel sich bei seiner tiefen Verbeugung vor dem Emir von Katar fotografieren zu lassen. Bekanntlich gewährt Katar Hamas-Kadern Unterschlupf. Auch Bundeskanzler Olaf Scholz hatte keine Skrupel, sich bei seinem Antrittsbesuch in Ankara mit Erdoğan fotografieren zu lassen. Dieser kommt sogar demnächst zum Staatsbesuch nach Deutschland. Dabei ist Erdoğan ein ausgewiesener Förderer der Muslimbrüder und der Hamas. Ganz abgesehen davon, dass er für seinen völkerrechtswidrigen Krieg in Nord- und Ostsyrien auf die dschihadistischen Hilfstruppen einschließlich des IS setzt.

Wenn der Satz "Die Sicherheit Israels ist unsere Verpflichtung" wirklich ernst gemeint wäre, dann müssten Habeck und die Bundesregierung dem israelischen Ministerpräsidenten Benjamin Netanjahu und seiner ultrarechten, rassistischen Regierung mit aller Kraft in den Arm fallen und mit aller Macht auf einen sofortigen Waffenstillstand, einem Ende der Belagerung des Gazastreifens, einem Ende der Siedlergewalt und der illegalen Besiedelung des Westjordanlandes und einem Ende der Apartheid in Israel drängen.

Denn eines ist sicher, die jüdischen Israelis werden niemals sicher sein, wenn die Palästinenser nicht sicher sind, und umgekehrt.

Oder wie der Präsident Kolumbiens, Gustavo Pedro, sagte:
"Israelische Kinder können nur dann ruhig schlafen, wenn auch palästinensische Kinder ruhig schlafen können. Und palästinensische Kinder können nur dann ruhig schlafen, wenn auch israelische Kinder ruhig schlafen können. Mit Krieg ist das nicht zu erreichen, sondern nur mit einem Friedensabkommen, das die internationale Legalität und das Recht der beiden Völker auf eine Existenz in Freiheit respektiert."

 

 

 

Fußnoten

[1]
Video: https://twitter.com/BMWK/status/1719757619471008148
Redemanuskript: https://www.bmwk.de/Redaktion/DE/Downloads/M-O/manuskripte-habeck-ueber-israel-und-antisemitismus-de.pdf

[2] https://www.gov.il/en/departments/news/excerpt-from-pm-netanyahu-s-remarks-at-the-opening-of-the-knesset-s-winter-assembly-16-oct-2023
https://twitter.com/disclosetv/status/1717232829766009086

[3] siehe kommunisten.de, 24.10.2023: 'From the river to the sea': Was bedeutet der Pro-Palästina-Spruch eigentlich?
https://kommunisten.de/rubriken/analysen/8938-from-the-river-to-the-sea-was-bedeutet-der-pro-palaestina-spruch-eigentlich

[4] tagesthemen 22:15 Uhr, 07.11.2023: ab Minute 15:54 Interview mit Gideon Levy (Haaretz)
https://youtu.be/fwmwogIXTfY


 mehr zum Thema

Internat Tag der Solidaritaet ++++++++++++++++++++++++++++++++

Farkha Festival Komitee ruft zu Spenden für die Solidaritätsarbeit in Gaza auf

CfD communist solidarity dt
zum Text hier
++++++++++++++++++++++++++++++++

Friedfertig statt kriegstüchtig – Strategien für eine Politik jenseits der KriegslogikLogo Friedensratschlag Kassel

Friedenspolitischer Ratschlag am 30. November und 1. Dezember 2024 in Kassel
Infos hier: https://friedensratschlag.de/


 

UNRWA Gazakrieg Essenausgabe

UNRWA Nothilfeaufruf für Gaza
Vereint in Menschlichkeit, vereint in Aktion

Mehr als 2 Millionen Menschen, darunter 1,7 Millionen Palästina-Flüchtlinge, zahlen den verheerenden Preis für die Eskalation im Gazastreifen.
Zivilisten sterben, während die Welt zusieht. Die Luftangriffe gehen weiter. Familien werden massenweise vertrieben. Lebensrettende Hilfsgüter gehen zur Neige. Der Zugang für humanitäre Hilfe wird nach wie vor verweigert.
Unter diesen Umständen sind Hunderttausende von Vertriebenen in UNRWA-Schulen untergebracht. Tausende unserer humanitären Helfer sind vor Ort, um Hilfe zu leisten, aber Nahrungsmittel, Wasser und andere lebenswichtige Güter werden bald aufgebraucht sein.
Das UNRWA fordert den sofortigen Zugang zu humanitärer Hilfe und die Bereitstellung von Nahrungsmitteln und anderen Hilfsgütern für bedürftige Palästina-Flüchtlinge.
Dies ist ein Moment, der zum Handeln auffordert. Lassen Sie uns gemeinsam für die Menschlichkeit eintreten und denjenigen, die es am meisten brauchen, die dringend benötigte Hilfe bringen.

Hilfswerk der Vereinten Nationen für Palästina-Flüchtlinge

Spenden: https://donate.unrwa.org/gaza/~my-donation


 

EL Star 150

Wir nutzen Cookies auf unserer Website. Einige von ihnen sind essenziell für den Betrieb der Seite, während andere uns helfen, diese Website und die Nutzererfahrung zu verbessern (Tracking Cookies). Sie können selbst entscheiden, ob Sie die Cookies zulassen möchten. Bitte beachten Sie, dass bei einer Ablehnung womöglich nicht mehr alle Funktionalitäten der Seite zur Verfügung stehen.