08.10.2020: Wissen Sie, welches das mit großem Abstand am weitesten verbreitete Beteiligungsformat in Deutschland ist, fragt Jörg Sommer in einem Artikel über die Auswirkungen der Corona-Pandemie auf die demokratische Kultur. Es sind Betriebsversammlungen, die aber aktuell kaum noch stattfinden. Stephan Krull kritisiert, "dass die Regierungen und die Vollzugsorgane oft viel zu weit gegangen sind in den Einschränkungen", die mit der Corona-Pandemie begründet sind. "Wir müssen höllisch aufpassen, dass die 'neue Normalität' nicht ein autoritärer Staat ist, in dem die Grundrechte nach Belieben der Herrschenden zur Disposition stehen. Wir müssen unsere Grundrechte immer und jederzeit einfordern und verteidigen", schlussfolgert Krull.
In einem Artikel auf der Internetseite des "Berlin Institut für Partizipation" befasst sich Jörg Sommer mit der demokratischen Teilhabe in Zeiten von Corona. Er schreibt:
"Wissen Sie, welches das mit großem Abstand am weitesten verbreitete Beteiligungsformat in Deutschland ist?
Es ist weder die Planungszelle noch der Bürgerrat. Auch nicht die Bürgerhaushalte, obwohl sie in rund 80 Kommunen durchgeführt werden und sich alleine in Stuttgart über 50.000 Menschen beteiligten.
Tatsächlich sind es die Betriebsversammlungen. Auch wenn wir die in deutschen Betrieben stattfindenden Teilhabeprozesse gerne vergessen, obwohl sich fast die Hälfte der Menschen unseres Landes in der wachen Zeit ihrer Tage länger am Arbeitsplatz (und dem Weg dorthin) aufhält, als in den eigenen vier Wänden.
Tatsächlich dürfte für viele Bundesbürger*innen aktuell die Betriebsversammlung nahezu das einzige Teilhabeformat darstellen, an dem sie regelmäßig teilnehmen. Ein guter Grund also, uns die Auswirkungen der Corona Pandemie auf Teilhabestrukturen einmal auf der betrieblichen Ebene anzuschauen.
Dabei stellen wir schnell fest, dass es aktuell alles andere als vergnügungssteuerpflichtig ist, Betriebsrat zu sein. Denn zu Betriebsversammlungen lädt der Betriebsrat ein. Und das keineswegs aus freien Stücken. Er ist dazu verpflichtet, einmal pro Quartal eine Betriebsversammlung durchzuführen. Tut er das nicht, kann ihm das eine gerichtliche Absetzung einbringen.
Aktuell sind solche Versammlungen jedoch in vielen Unternehmen nur digital denkbar, denn jede/r Beschäftigte hat das Recht zur Teilnahme – kaum ein Betrieb jedoch Räumlichkeiten, in denen alle Beschäftigten unter Wahrung von Sicherheitsabständen und Hygieneregeln Platz finden. Deshalb sind solche Versammlungen nun auch, theoretisch, digital möglich.
Es bleibt aber bei der Theorie."
Jörg Sommer meint, dass in den vergangenen Monaten viel demokratische Teilhabe digitalisiert wurde und "spontan Möglichkeiten digitaler Demokratie geschaffen (wurden), die zuvor in Jahren nicht denkbar schienen. Man könnte also zu dem Schluss kommen, Corona hätte auch für unsere demokratischen Strukturen einen starken Schub gebracht. Nichts wäre falscher."
Für Sommer werde versucht, die "demokratischen Strukturen irgendwie durch die Pandemie zu bringen, getrieben von der Hoffnung, dass alles irgendwann wieder so wie früher werden könne." "Wird es nicht", schreibt er. "Denn unsere Demokratie wird längst digitalisiert. Allerdings von den falschen Akteuren. … Schon heute ist es so, dass die politische Meinungsbildung und der Diskurs weit überwiegend nicht auf Parteiveranstaltungen, in Bürgerversammlungen, an Infoständen stattfinden, sondern auf den digitalen Plattformen. Die aber gehören zu 100% Privatunternehmen mit privaten, kommerziellen Interessen. … Diese unkontrollierte Entwicklung in Verbindung mit einer langfristig analog bleibenden Demokratiekultur entwickelt sich zunehmend zu einem brisanten Sprengsatz für unsere Demokratie."
aus " Digital dank Corona?"
https://www.bipar.de/debatte/question/digital-dank-corona
Auch Stephan Krull befasst sich in einem Kommentar mit der Frage der Demokratie in Zeiten von Corona.
Wider die Aussetzung von Grundrechten
Eine Krankheit – eine Ursache – ein Heilmittel, das reicht als Begründung nicht aus. Die Pflichten und Lasten sind sehr ungleich verteilt.
Für eine neue, eine andere Normalität!
Im Zusammenhang mit den Maßnahmen der Bundesregierung und der Landesregierungen gibt es teils und zeitweise eine massive Einschränkung von Grundrechten. Diese Einschränkungen müssen ständig einer Überprüfung und einer Kritik unterzogen werden. Gegen unnötige oder überzogene Einschränkungen muss politisch und auf der Straße widersprochen werden.
Die Regierung soll regieren – aber es gibt in unserem Land richtigerweise und aus leidvoller Erfahrung eine im Grundgesetz verankerte Gewaltenteilung zwischen Regierung, Parlament und Gerichtsbarkeit. Die Pandemie jedoch wird von der Regierung bzw. von den Regierungen einschließlich der Landesregierungen genutzt bzw. missbraucht, um weitgehend und andauernd ohne parlamentarische Kontrolle zu regieren. Auf Grundlage des Infektionsschutzgesetzes wird seit Monaten durch "Verordnungen" regiert bzw. das Leben der Millionen Menschen in unserem Land bestimmt. Die unterschiedlichen Verordnungen im Zeitverlauf und in den einzelnen Ländern sind oft widersprüchlich und in sich nicht schlüssig. Dabei handelt es sich um schwerwiegende Eingriffe in Grundrechte: Das Recht auf Freizügigkeit (Ausgangssperren und Kontaktverbote), das Recht auf freie Entfaltung der Persönlichkeit, das Recht auf Versammlungsfreiheit unter freiem Himmel wie in geschlossenen Räumen (Demonstrationsverbote bzw. unsinnige oder widersprüchliche Auflagen), die Berufs- und Gewerbefreiheit, die Glaubensfreiheit, Einsatz der Bundeswehr im Innern und vieles mehr.
Manche Verordnung bzw. daraus abgeleitete polizeiliche Auflagen und Beschränkungen wurden gerichtlich überprüft und zurückgewiesen oder mussten durch Widersprüche außer Kraft gesetzt werden. Das macht deutlich, dass die Regierungen und die Vollzugsorgane oft viel zu weit gegangen sind in den Einschränkungen. Es ist Ausdruck einer höchst eingeschränkten Demokratie. Wenn dann noch Allmachtsphantasien von Ministern auf berechtigte Ängste und strikte Impfgegner treffen, entsteht ein brisantes gesellschaftliches Klima.
Ein zweiter Aspekt sind die sozialen Rechte von vielen Menschen, die in Frage gestellt oder missachtet werden – auch dabei handelt es sich um Grund- und Menschenrechte. Die Regierung schüttet Milliarden Euro aus, um die große Wirtschaft am laufen zu halten (Bazooka). Für HartzIV-Empfänger*innen, für Kinder, für Erwerbslose und Kurzarbeitende, für Soloselbständige und Kulturschaffende aber ist kaum bis gar kein Geld vorhanden. Mehr noch nutzen viele Unternehmen die Pandemie, um Staatsgelder oder Versicherungsleisten zu kassieren, schamlos Entlassungen und Betriebsverlagerungen durchzuziehen. Es werden Lohnkürzungen vorgenommen (zum Beispiel in Behindertenwerkstätten) und verlängerte Arbeitszeiten angeordnet, gar das Arbeitszeitgesetz zeitweise außer Kraft gesetzt und das Sonntagsarbeitsverbot umgangen. Viele Unternehmen leiden nicht unter der Krise, sondern verdienen sich eine goldene Nase. Während die Reichen reicher werden, werden die Armen schnell mehr und ärmer. In solchen Zeiten haben Verschwörungstheorien Konjunktur und die Suche nach Sündenböcken. Damit soll dann vom Versagen des Systems abgelenkt werden: Sowohl von den Engpässen im Gesundheitssystem wie auch der Krisenanfälligkeit des kapitalistischen Systems.
Wer im Einfamilienhaus mit Kinderzimmer, Terrasse und Garten wohnt, kommt wohl noch ganz glimpflich über die Zeit. In einer beengten Zwei- oder Dreizimmerwohnung ohne Balkon und zwei Kindern sieht das schon ganz anders aus.
So sind die Lasten der Krise sehr ungleich verteilt. Das naheliegende tut die Regierung in dieser Situation nicht – nämlich einen Lastenausgleich schaffen. Es gibt keine Vermögensabgabe, um die Kosten der Krise zu schultern, keine Gewinnabschöpfung, keine Vermögenssteuer und keine Erbschaftssteuer.
Wer hat, kann geben und muss geben!
Wenn so etwas nicht durchgesetzt wird, ist ganz klar, wer für die riesigen Kosten der Krise (bisher ca. 300 Milliarden Euro) aufkommen soll. Das läuft auf eine Verlängerung und Verstetigung der Missachtung von Grundrechten hinaus. Die Aufhebung der unsäglichen Schuldenbremse und die Ausschüttung von unbegrenzten Geldmengen für die Großkonzerne zeigt, was in unserem Land radikal veränderbar ist – im Guten wie im Schlechten, den Kapitalismus zu retten oder ihn zu überwinden.
In diesem Zusammenhang ist die veröffentlichte Meinung (Pressefreiheit) ein weiteres Problem. Einerseits alarmierende Berichte über die Pandemie-Entwicklung ohne auf die wirklichen Ursachen einzugehen – andererseits eine Berichterstattung, als ob wir so weitermachen könnten wie bisher, bestenfalls "zurück in die alte Normalität". Die "alte Normalität" beruht aber auf globaler Ausbeutung von Mensch und Natur und ist deshalb mit ursächlich für die Pandemie. Das, was sich wirklich in diesem Land abspielt, z.B. vielfältige Aktionen gegen Lohnraub, Entlassungen, Betriebsverlagerungen, Tarifflucht und Gewerkschaftsbashing, Aktionen für Klimagerechtigkeit und Menschlichkeit gegenüber Hilfsbedürftigen, kommt in Presse, Funk und Fernsehen oft gar nicht oder erst spät nachts vor. Diese Asymmetrie, dieses Missverhältnis zwischen Regierungsverlautbarungen und Lebenswirklichkeit, zwischen "denen da oben" und "uns hier unten" wird von den Menschen zurecht als verlogen, als Bevormundung und Meinungsmache empfunden.
Wir brauchen eine neue, eine andere Normalität. Dazu gehören kleinräumige Wirtschaftskreisläufe, lebenswerte Städte und Dörfer mit ausreichenden Angeboten für Kultur, ärztliche Versorgung, Lebensmittel, Arbeitsplätze und Mobilitätsangebote für alle Menschen, die dort leben. Die Krise lehrt uns, dass wir weniger Zeit für Erwerbsarbeit und mehr Zeit für uns selbst, für unsere Familien, Freunde, Sport und demokratische Beteiligung benötigen.
Wir müssen höllisch aufpassen, dass die "neue Normalität" nicht ein autoritärer Staat ist, in dem die Grundrechte nach Belieben der Herrschenden zur Disposition stehen. Wir müssen unsere Grundrechte immer und jederzeit einfordern und verteidigen.
Quelle: http://stephankrull.info/2020/10/02/wider-die-aussetzung-von-grundrechten/