Ein Kommentar von Leo Mayer
04.03.2017: Fake News verunsichern das Land. Im Innenministerium wird überlegt, ein Abwehrzentrum gegen Desinformation einzurichten. Facebook will mit Faktencheckern vorgehen und inkriminierte Meldungen mit einem Warnhinweis versehen. CDU und CSU fordern in einem Positionspapier, dass "alle Nutzer, die mit Fake News konfrontiert worden sind", über "ihre Richtigstellung obligatorisch informiert werden". Da dürfte es Innenminister Thomas de Maizière als Ersten treffen. Steht er doch Donald Trump nicht nach im Verbreiten von Falschmeldungen. Deshalb hier im Vorgriff einige Richtigstellungen:
Im Dezember 2015 erweiterte Thomas de Maizière die unter Flüchtlingsgegnern beliebte Syrer-Kategorisierung um eine weitere Rubrik: den 'falschen Syrer'. 30 Prozent der Geflüchteten geben sich fälschlicherweise als Syrer aus, behauptete er damals im Bundestag.
Doch es ist der Innenminister, der hier fälscht und lügt.
In der Antwort auf eine Kleine Anfrage der Bundestagsabgeordneten Ulla Jelpke (DIE LINKE) teilt das Ministerium mit, im Jahr 2016 seien 295.006 syrische Dokumente geprüft worden. In 285.834 Fällen habe es nichts zu beanstanden gegeben. Um Fälschungen handelte es sich in 6.664 Fällen. Das heißt, nicht 30, sondern nur 2,3 Prozent sind 'falsche Syrer' mit syrischen Dokumenten. Bezieht man aber - wie de Maizière es tut - die Zahl gefälschter syrischer Dokumente auf die Gesamtzahl der Geflüchteten (491.097), dann schrumpft die Zahl der 'falschen Syrer' auf magere 1,4 Prozent. Meilenweit entfernt von den 30 Prozent des Thomas de Maizière; eine Fake News eben. Dabei gibt es vermutlich noch weniger 'falsche Syrer', denn die europäische Grenzschutzagentur Frontex geht davon aus, dass sich hinter 80 Prozent der gefälschten syrischen Pässe dennoch echte Syrer verbergen. Denn wenn man in die Flucht getrieben wird, dann kann man sich nicht immer vorher gültige Ausweispapiere besorgen.
Im Juni 2016 behauptet der Innenminister, dass von Ärzten "70 Prozent der Männer unter 40 Jahren vor einer Abschiebung für krank und nicht transportfähig erklärt werden". Das kann nicht sein, sagte er. Ist es auch nicht. Nach Zahlen des Bundesamtes für Migration und Flüchtlinge (BAMF) werden nicht 70 Prozent der Deportationen aufgrund von ärztlicher Krankschreibung ausgesetzt, sondern nur ein Prozent.
Im September 2016 verkündete de Maizière, dass er Flüchtlinge künftig wieder nach Griechenland zurückschicken will. Europa habe viel unternommen, um die Situation in Griechenland zu verbessern. "Das muss dann auch Folgen haben und dazu führen, dass entsprechend der Dublin-Verordnung Flüchtlinge auch wieder nach Griechenland zurückgeschickt werden können." Das was de Maizière sage habe "nichts mit der Realität zu tun" und sei "inakzeptabel", erklärte der griechische Migrationsminister Ioannis Mouzalas. Von den von der EU für 2016 beschlossenen Umsiedlung von 33.000 Flüchtlingen seien nur 3.000 umgesiedelt worden. Mehr als 50.000 Flüchtlinge sitzen in Griechenland fest - in einem Land das von den Gläubigern unter Führung der deutschen Regierung ausgeblutet worden ist. (Foto: Flüchtlingslager auf den griechischen Inseln im Winter 2015/16)
Afghanistan ist sicher – zumindest der Norden des Landes und "auch in Kabul kann man nicht sagen, dass dort insgesamt die Lage so unsicher ist, dass man die Leute da nicht hinschicken könnte“, sagte de Maizière und begann im Dezember mit den Sammeldeportationen afghanischer Flüchtlinge zurück in ihr Heimatland. Zurück in den Krieg. Denn "hier herrscht Krieg. Die Zahl der zivilen Opfer steigt. Die Kurve ist eindeutig", sagte Franz Michael Mellbin, Botschafter der EU in Afghanistan. Allein im ersten Halbjahr 2016 wurden 1.600 Menschen bei Kämpfen am Boden, aber auch durch Selbstmordanschläge und improvisierte Sprengkörper getötet. 3.565 Zivilisten wurden verletzt. Das UN-Flüchtlingswerk (UNHCR) spricht von der höchsten Zahl ziviler Opfer seit 2009. In 31 von 34 Provinzen gab es bewaffnete Kämpfe. (Foto rechts: de Maizière in Afghanistan, Bundeswehr, CC-BY 2)
Einer der Abgeschobenen ist der 23-Jährige Atiqullah. Schon zwei Wochen nach seiner Ankunft wird er in Kabul bei einem Selbstmordanschlag verletzt. Gemessen an dem Blutbad mit 21 Toten und 41 Verletzten ist er noch glimpflich davon gekommen. Sicheres Kabul? Die Fakten passen nicht zu den Szenarien "sicherer Gebiete in Afghanistan".
Aber wie bei Verbreitern von Fake News üblich, wollte de Maizière seine Falschmeldung nicht richtigstellen. Im Gegenteil. Er bietet "alternative Fakten". Die normale zivile Bevölkerung sei zwar Opfer, aber nicht Ziel von Anschlägen der Taliban", sagte er den ARD-Tagesthemen. Er meint wohl, da stirbt es doch viel leichter bei einem Bombenanschlag. Im nächsten Satz beschloss er diese offensichtlich absurde Behauptung mit dem infamen Satz "Das ist ein großer Unterschied." Es handelt sich hier nicht um einen Versprecher, sondern um den bewussten Versuch, die Öffentlichkeit zu manipulieren, um die Proteste gegen die Deportation von Menschen in ein Kriegsgebiet zu dämpfen. (Foto: ARD)
"Hinreichend sicher" sei die Lage trotzdem, schob der Innenminister dann nach. Außerdem sei ein Drittel der Abgeschobenen Straftäter, sagte de Maizière. Zwar gibt es da keinen Zusammenhang, aber Stimmung lässt sich machen. Die Tagesschau recherchierte: Da ist der 22-jährige Matiullah, der im Dezember abgeschoben worden war. Angeblich hat er in Deutschland eine Bewährungsstrafe erhalten. Stimmt nicht. Fake News. Er hatte lediglich die Auflage, an einer Konfliktberatung teilzunehmen. Nützt ihm wahrscheinlich jetzt wenig, wenn er in einen Angriff der Taliban gerät.
Dass die Gefahr durch Terroristen unter den Flüchtlingen echt ist, das hat der Anschlag in Berlin gezeigt. Oder Chemnitz. Der mutmaßliche Terrorist, ein Syrer, wurde von anderen Syrern gefasst und der Polizei übergeben. Die Gefahr durch Terroristen unter den Flüchtlingen ist echt. Was aber folgt daraus?
Für Thomas de Maizière der Generalverdacht gegen Muslime und Flüchtlinge. Man "könne nicht sagen, es gibt zwischen Flüchtlingen und Terrorismus keinen Zusammenhang", formuliert de Maizière. Also schärfere Sicherheitspolitik, mehr Überwachung, eine "neue Sicherheitsstruktur" mit einer "echten Bundespolizei", eine noch rigidere Flüchtlingspolitik, neue Möglichkeiten für die Abschiebehaft. Alles in allem für de Maizière eine weitere Möglichkeit, um Flüchtlinge zu diskreditieren und Demokratie einzuschränken.
Doch aus welcher Ecke Gefahr für Leib und Leben wirklich kommt, das geht aus einer Antwort des Bundesinnenministeriums auf eine parlamentarische Anfrage hervor. Für das vergangene Jahr zählt de Maizières Ministerium 3.533 Angriffe auf Flüchtlinge, Unterkünfte, freiwillige FlüchtlingshelferInnen und Hilfsorganisationen. Demnach gab es 2.545 Angriffe auf Flüchtlinge außerhalb ihrer Unterkünfte, 988 Angriffe auf Flüchtlingsheime und 217 Attacken auf Hilfsorganisationen oder freiwillige FlüchtlingshelferInnen. Dabei wurden 560 Menschen verletzt, unter ihnen 43 Kinder. "Das sind nahezu zehn Taten am Tag", sagt Ulla Jelpke, innenpolitische Sprecherin der Linksfraktion, und stellt die rhetorische Frage: "Muss es erst Tote geben, bevor die rechten Gewalttaten als ein zentrales Problem der inneren Sicherheit eingestuft werden und ganz oben auf der Agenda der Innenpolitik stehen?" Jelpke forderte, dass "wenigstens die Bundesregierung damit aufhört, durch immer neue Gesetzesverschärfungen im Asylbereich weiter den Eindruck zu erwecken, Flüchtlinge seien eine Bedrohung". Das Gegenteil sei der Fall, sagte Jelpke. "Nazis bedrohen Flüchtlinge und damit auch unsere Demokratie."
"Offensichtliche Falschmeldungen können strafbar sein - dem muss nachgegangen werden«, sagte de Maizière im Januar. Im Innenministerium wird überlegt, ein "Abwehrzentrum gegen Desinformation" einzurichten. Chef: Thomas de Maizière. Keine Fake News.
"Wir sollten nicht der Schiedsrichter beim Thema Menschenrechte für die ganze Welt sein."
(Thomas de Maizière zur Lage in der Türkei in der Passauer Neuen Presse, 5.3.2016)
Über Thomas de Maizière und die Mitverantwortlichen seiner Politik ist damit alles gesagt. Der Biedermann schlägt die Brücke von der Regierungsbank ins rechtsextreme Lager. Mit seinen Fake News bedient er die Stammtische und liefert der AfD die Vorlagen. Da helfen keine Warnhinweise bei Falschmeldungen, da hilft keine Facebook-Sperre. Thomas de Maizière und die VertreterInnen dieser Politik müssen aus dem politischen Verkehr gezogen werden.
Deshalb ist für die Bundestagswahl ein unabdingbares Kriterium der Einsatz für ein humanes Flüchtlingsrecht, für ein "Ende des Sterben-lassens“ und für sichere Fluchtwege, für eine Politik, die die "imperiale Lebensweise" endlich hinterfragt und Schluss macht mit dem Wohlstandschauvinismus der reichen Länder. Machtpolitik und das Schielen auf WählerInnenstimmen dürfen nicht über das Leiden der Menschen gestellt werden. Eine solche politische Haltung kann sich auf das solidarische Handeln der Vielen – vielleicht der gesellschaftlichen Mehrheit – stützen und dazu beitragen, dass der Wunsch nach Veränderung siegt.
Schaffen wir das Lager der Solidarität!