22.08.2012: Auch in der öffentlichen Wahrnehmung meldet sich in Deutschland die Krise langsam zurück. Derweil Regierung, SPD, Grüne und Unternehmerverbände samt ihnen höriger Medien den zehnten Jahrestag der Verkündigung der Hartz-Vorschläge feiern und ein Bild von Deutschland als dem Hort von Stabilität und Wachstum zeichnen. Als Beleg für den „Erfolgskurs“ wurden die Arbeitslosenzahlen strapaziert. Doch die Julizahlen von 2,876 Mio. sind nur des Eisbergs Spitze. Dessen verborgenen Teil offenbaren Zahlen der Bundesagentur für Arbeit, die in den Medien selten eine Rolle spielen. So weist der Julibericht eine Unterbeschäftigung von 3,847 Mio. Menschen aus. Die Differenz rührt z. B. daher, dass in der Zahl von 821 000 Beziehern von Arbeitslosengeld I nicht alle grundsätzlich Bezugsberechtigten enthalten sind. Arbeitsunfähig Erkrankte, Teilnehmende an Weiterbildungsmaßnahmen, Erwerbslose in oft unbezahlten Praktika, in „Ein-Euro-Jobs“, mit Sperrzeiten und ein Großteil der über 58-Jährigen bleiben statistisch außen vor. Jede Grippewelle schönt die Statistik!
Gravierender ist „die Zahl der Bezieher von Arbeitslosengeld II in der Grundsicherung (SGB II)“. Sie lag laut BA bei 4,48 Mio. Damit gelten 8,2 Prozent aller über 54 Mio. Menschen im erwerbsfähigen Alter als „hilfsbedürftig“. Von den ALG-II-Beziehern erscheinen aber nur 1,991 Mio. statistisch als Arbeitslose. Von den 41,7 Mio. Erwerbstätigen sind nur noch rund 28,95 Mio. (69,4 Prozent) sozialversicherungspflichtig beschäftigt, viele davon prekär.
Alleine die Zahlen aus dem Presseinfo der BA lassen den Schluss zu, dass das wahre Ausmaß von Arbeitslosigkeit mindestens doppelt so hoch ist wie die mit viel Tamtam gefeierte Zahl von 2,876 Mio. Zeitgleich zum großen Tamtam über Schröders und Hartz‘ Großtaten wurden Zahlen des Statistischen Bundesamts veröffentlicht. Danach sind sogar 7,4 Mio. Menschen unterbeschäftigt. Benannt werden u. a. zwei Millionen in Teilzeit und eine „Stille Reserve“ von 1,2 Mio., die mehr oder überhaupt arbeiten möchten, um über die Runden zu kommen. Überwiegend betroffen sind hier die Frauen. Bemerkenswert ist allerdings, dass diese Statistik über „Erwerbstätige und ungenutztes Arbeitskräftepotenzial“ von 63 Mio. Erwerbsfähigen im Alter von 15 bis 74 (!) Jahren ausgeht. Arbeit-bis- 80-Clement, hör ick dir trapsen?
Die Hartzgesetze schufen die Voraussetzung für einen weiter wachsenden Billiglohnsektor in Deutschland, in dessen Folge die Reallöhne in zehn Jahren um 4,5 Prozent sanken, zeitgleich Millioneneinkünfte und Milliardenvermögen rasant wuchsen. Auch die deutsche Exportwalze wurde so geschmiert. Hartz IV richtet sich nicht allein gegen Erwerbslose, es diszipliniert auch die Arbeitenden. Wenn Lohnkürzungen oder unentgeltliche Arbeitszeitverlängerungen als einzige Alternative zu Entlassungen dargestellt werden, geht die Angst um vor dem 365 Tage kurzen Weg ins staatliche Verarmungsprogramm.
Diese Angst ist ein Knebel, der Protest zu oft verstummen lässt, eine Fessel, die Gegenwehr häufig verhindert. Hartz II und IV schwächten auch die Gewerkschaften. Und wo es gelang, durch gesetzliche Regelungen, Tarifverträge und Betriebsvereinbarungen partielle Verbesserungen durchzusetzen, starten die Unternehmer nun mit Werkverträgen die nächste Angriffswelle.
Ja, Hartz IV ist eine Erfolgsgeschichte! Aber nur für die oberen zehn Prozent, deren Vermögen am letzten Sonntag mit 4.737.872.545.716 Euro auf der Reichtumsuhr angezeigt war. Für Arbeitende und Arbeitslose, Gewerkschaften, linke Parteien und nicht zuletzt für uns Kommunistinnen und Kommunisten kann das Fazit aber nur lauten: die Hartz-Gesetze müssen weg! Und auch da rettet uns kein höh‘res Wesen, auch das können wir – mit Millionen anderer in den Betrieben und auf den Straßen – nur gemeinsam tun.
Gastkolumne von Volker Metzroth (aus der UZ vom 24.08.12)