30.08.2023: Die Tarifrunden für den Groß-, Einzel- und Versandhandel laufen bereits seit April 2023. Tarifverhandlungen ür den Handel werden in den verschiedenen Regionen geführt, sie haben unterschiedlichen Startzeiten. Erst seit Juni befinden sich auch Berlin und Brandenburg dabei, damit stehen nun alle Gebiete im Kampf um einen besseren Tarif. Viele Verhandlungsrunden haben insgesamt bereits stattgefunden.
Handelsverband bietet Reallohnverlust
Am Freitag, 25.8., war es die sechste Tarifverhandlung zwischen ver.di-Handel NRW und dem Handelsverband NRW. Sie endete wie die vorhergehenden ergebnislos und wurde vertagt auf den 17. Oktober! In weiteren Tarifgebieten stehen in den kommenden Tagen und Wochen weitere Verhandlungstermine an. Ob es eine Einigung geben wird, darüber kann man nur spekulieren.
"Die Streikbeteiligung hat sich noch einmal deutlich gesteigert."
In Berlin-Brandenburg wurde am 18. August kein neues Angebot von der Kapitalseite vorgelegt. Für ver.di ist dies eine "Provokation auf ganzer Linie". "Die Streikbeteiligung hat sich heute im Vergleich zu den vorherigen Streiks noch einmal deutlich gesteigert. Die Arbeitgeber sollten sich gut überlegen, ob sie mit ihrer Forderung nach Reallohnsenkungen ihre Beschäftigten weiter so provozieren wollen", erklärt dazu die ver.di Fachbereichsleiterin Handel Berlin-Brandenburg Conny Weißbach. Auch hier soll nun am 17. Oktober weiter verhandelt werden. [1]
Bis heute liegen alle "Angebote" des Handelsverbands weit unter den ver.di-Forderungen. In den letzten Verhandlungen in Berlin-Brandenburg wurden 5,3 % nach 3 Nullmonaten ab Oktober 50 Euro mehr für Auszubildende und eine Inflationsausgleichsprämie von 450 Euro für 2023, ab Juli 2024 dann 3,1 Prozent geboten. Umgerechnet auf Euro-Beträge sind es statt 2,50 Euro nur um die 0,90 Cent. Nach Berechnungen der Gewerkschaft sind dies mehr als 200 Euro Reallohnverlust für eine Vollzeitstelle. Dieses unseriöses Angebot wurde von den Tarifkommissionen abgelehnt!
Die Forderungen der Gewerkschaft ver.di Handel wurden vor dem Beginn der Verhandlungen in den einzelnen Tarifgebieten und dann bundesweit diskutiert und abgestimmt. Für die Beschäftigten im Einzelhandel soll eine Erhöhung der Stundenlöhne um 2,50 Euro, in Baden-Württemberg 15 %, ein rentenfestes Mindesteinkommen von 13,50 Euro pro Stunde und eine Erhöhung der Ausbildungsvergütung um 250,- Euro erkämpft werden, die Laufzeit zwölf Monate betragen. Mit diesen Forderungen soll dem Verlust durch Inflation mit Preissteigerungen entgegengetreten werden. Gerade im Handel gilt es bereits heute, die für viele Beschäftigte drohende Altersarmut abzuwenden.
Kein Mindestlohn unter 14 Euro! Oder doch?
Bereits bei der Bekanntgabe der Forderungen zur diesjährigen Tarifrunde wurde kritisch gefragt, ob die Forderung nach 13,50 Euro Mindeststundenlohn angesichts der Preissteigerungen nicht zu gering ist. Spätestens bei der Lektüre der gerade ins Haus geflatterten ver.di-Zeitung "publik" stellt sich den Gewerkschaftsmitgliedern wahrscheinlich diese Frage erneut. Auf der Titelseite wird groß aufgefordert "14 Euro mindestens!" Im Artikel wird die Begründung geliefert. Darunter sollte dann wohl keine Forderung mehr gültig sein.[2]
In Bayern wurden die von der Tarifkommission gestellten Forderungen durch eine Befragung bestätigt, an der rund 6.000 Kolleg:innen aus über 500 Betrieben teilgenommen haben. In einer Pressemitteilung schreibt ver.di-Handel Bayern am 8.5.23 zur Befragung: "Dort geben 76 % der Befragten an, Probleme zu haben, mit ihrem derzeitigen Gehalt den Lebensunterhalt zu bestreiten. 87 % schätzen ein, dass ihre Rente aus dem derzeitigen Gehalt nicht vor Altersarmut schützt. 68 % unterstützen eine überproportionale Anhebung der unteren Einkommen und 84 % fordern die Allgemeinverbindlichkeit der Tarifverträge im Einzelhandel."
Eine Festgeldforderung wurde in früheren Tarifkämpfen noch von einigen Mitgliedern als "ungerecht, weil es geringere prozentuale Erhöhung für höhere Entgelte bedeutet" kritisiert. Inzwischen hat sich das Bewusstsein der Mehrheit der gewerkschaftlich organisierten Kolleginnen und Kollegen anscheinend verändert. Die Festgelderhöhung des Tarifs ist nicht nur ein Schritt zum Schließen der Schere zwischen höher und niedrigeren Gehaltsgruppen, sondern kann auch den gemeinsamen solidarischen Kampf weiter stärken.
Mit der bereits in vergangenen Jahren bei ver.di-Handel diskutierten Angleichung der Tariflaufzeiten, betreffend Beginn und Ende, ist es bisher noch nicht deutlich vorangekommen. Diskutiert wird bereits seit einigen Jahren, zumindest einen gemeinsamen Startpunkt der Verhandlungen zu bekommen und damit auch den bundesweiten Kampf der Beschäftigten zu stärken. Da müssen jedoch nicht nur die Kolleginnen und Kollegen in den Tarifgebieten überzeugt sein, sondern in den Verhandlungen auch die im HDE vertretenen Unternehmen und Konzerne. Und die Voraussetzungen müssen klar sein, d.h. es dürfen keine Nachteile für die Beschäftigten entstehen. Es wäre sicher kein einfaches Unterfangen, dies ohne Verluste für die Mitglieder umzusetzen.
"Beinfreiheit" für das Kapital
Es kann wohl als Nebelkerze gewertet werden, wenn es in einer Pressemitteilung des HDE heißt: "Wenn die ver.di-Landeskommissionen aus der Bundeszentrale weiter so wenig Verhandlungsspielraum bekämen, müsse man für die Zukunft über eine zentrale Aushandlung des Einzelhandelstarifs im Bund nachdenken. (…) Wenn es aber gegen Ende der Verhandlungen darum geht, tragfähige Lösungen zu finden, haben alle Arbeitgeberkommissionen die notwendige Beinfreiheit. Genau das fehlt auf der ver.di-Seite. Die gewerkschaftlichen Länderkommissionen scheinen regelrecht entmündigt", so HDE-Tarifgeschäftsführer Steven Haarke. [3]
Damit wird auf die unter Gewerkschaftsmitgliedern kontrovers laufende Diskussion um dezentrale oder zentrale Tarifverhandlungen und Abschlüsse gezielt. Dieser Versuch der Spaltung der Tarifbereiche bei ver.di Handel ist durchschaubar.
Die vom HDE gelobte "Beinfreiheit" auf der Kapitalseite des Verhandlungstisches bewegt sich allerdings nur im Rahmen des im Verband Vereinbarten: "unser letztes Angebot, nach dem die tariflichen Löhne und Gehälter über die Laufzeit von 24 Monaten um insgesamt rund 8,5 Prozent steigen würden", so Haarke. "Wir haben sogar klar signalisiert, dass wir für einen Abschluss bereit wären, das Angebot noch etwas zu justieren." [3]
Große Ausschläge nach oben oder gar die Annahme der ver.di-Forderungen sind nicht gemeint, so große Schritte mit Beinfreiheit sind da dann doch nicht gern gesehen.
Von ver.di und den aktiven Mitgliedern wird richtig eingeschätzt, dass nur der Kampf den Forderungen Nachdruck verleiht.
Das bedeutet, dass seit Ende April bis heute ständig in diesem Land Beschäftigte aus dem Einzel- und Versandhandel, aber auch aus dem Großhandel, vor den Betrieben und auf der Straße sind. Einbezogen sind alle Branchen des Handels wie Textil, Lebensmittel, Möbel, Spielwaren, ... . In allen Bundesländern werden die Tarifkommissionen in den Verhandlungen von streikenden Kolleginnen und Kollegen unterstützt.
Komplizierte Bedingungen für die Mobilisierung
Trotz der großen Zahl an Beschäftigten, ist es nicht immer einfach, diese für eine Streikbeteiligung zu gewinnen. Ca. 2/3 arbeiten in Teilzeit, sind also oft schwer erreichbar für gemeinsame betriebliche Aktionen. Erschwerend kommen dann häufig die Arbeitszeiten am späten Abend hinzu und die persönlichen sozialen, familiären Voraussetzungen.
Auch die Struktur des Handels, in dem große Unternehmen zwar bundesweit auch über 20.000 Beschäftigte haben, diese jedoch in Filialen mit maximal 300 – 400 Personen arbeiten. In der Regel liegen die Beschäftigtenzahlen in Filialen sehr deutlich darunter.
Es erstaunt also nicht, dass oftmals die Streiks im Handel öffentlich nicht so wahrgenommen werden, weniger mediale Darstellung finden und daher leider in der Regel auch weniger Solidarität aus der Bevölkerung erfahren.
Das scheint zumindest teilweise in diesem Tarifkampf anders zu laufen.
Nach den letzten ergebnislosen Verhandlungen zeigen die Mitglieder ihren Willen, für einen guten Tarifabschluss auch in den nächsten Wochen in den Streik zu treten.
Inzwischen wird deutlich gemacht, dass auch die "heilige Kuh des Handels" kein Tabu mehr ist. "Sollte die Tarifrunde bin ins Weihnachtsgeschäft gehen, sind wir darauf vorbereitet", erklärte ver.di-Verhandlungsführer Bert Stach. Gleichzeitig hofft er aber auf eine baldige Lösung in dem Tarifkonflikt und führt aus, "einzelne Arbeitgeber haben inzwischen die Entgelte bereits vorab angehoben oder einseitige Zusagen über Steigerungen von bis zu deutlich über 10 Prozent gemacht – klar erkennbar über den bisherigen Angeboten. Das zeigt, dass die Arbeitgeber auch durch unsere Streiks unter Druck geraten." [4]
Sinkende Tarifbindung
Nicht vom Tisch ist für die Beschäftigten auch die seit einigen Jahren umkämpfte Forderung nach Allgemeinverbindlichkeit (AVE) der Tarifverträge. Alle Unternehmen des Einzelhandels sollen danach, egal ob sie Mitglied im Arbeitgeberverband sind oder nicht, an den Tarifvertrag gebunden sein. Das passt einigen Unternehmen gar nicht, selbst im HDE gibt es die Möglichkeit zur Mitgliedschaft ohne Tarifbindung. In einigen Regionen hatten Unternehmen versucht, per einstweiliger Verfügung Streiks zu verbieten und als Grund die AVE-Forderung genannt. Diese Klagen wurden von den Gerichten abgelehnt.
Im Handel ist die Tarifbindung immer weiter gesunken. Inzwischen sind nur noch 28 Prozent der Unternehmen und Konzerne im Einzel-und Versandhandel tarifgebunden, in einigen Gebieten sogar darunter. Der überwiegende Teil der 3 Millionen Beschäftigten in diesem Bereich, auch der Gewerkschaftsmitglieder, hat Arbeitsverträge ohne Tarifanspruch. Das bedeutet oft, für bis zu einem Drittel unter dem Tarifabschluss zu arbeiten. Die Sonderzahlungen, Arbeits- und Urlaubsregelung sind auch zum Vergessen.
Streik wirkt
Solange der HDE sich nicht bewegt, wird es dem Vernehmen nach auch keine Einigung im Tarifkampf im Handel geben. Die Kundschaft wird sich darauf einstellen müssen, auch in den nächsten Wochen mit reduzierter Beratung und vor leeren Regalen im Laden zu stehen. Wenn es ganz gut läuft, werden die Streikenden dafür sorgen, dass Geschäfte wegen Streik geschlossen sind. Das alles ist jetzt bereits in einigen Regionen Realität, es kann sich durchaus ausweiten.
Der Westen hat am 28.8. berichtet: "Vor allem Rewe in NRW beklagt, dass Milchprodukte derzeit echte Mangelware wären, berichtet "wa.de". Somit stehen wohl auch immer mehr Kunden vor leeren Regalen. Der beliebte Supermarkt benennt aber auch ganz klar einen Schuldigen für die Misere: die Gewerkschaft Verdi. Deren Streik im Lebensmitteleinzelhandel stecke hinter den fehlenden Produkten. Daher ist auf einem Schild bei Rewe in NRW jetzt Folgendes zu lesen: "Derzeit bestreikt Verdi den Lebensmitteleinzelhandel in NRW. Aufgrund dessen kann es aktuell leider zu Fehlartikeln im Sortiment kommen." [5]
Bei IKEA gibt es Hinweise: "Das Einrichtungshaus wird vom 22.8. - 26.8. bestreikt. … Bitte hab Verständnis, dass es evtl. zu leichten Verzögerungen kommen kann." und auch "Vom 22.8. bis 26.8. ist leider keine Click & Collect – Abholung möglich", "Unsere Gastronomie bleibt geschlossen".
Das zeigt: Streik wirkt!
Noch besser wirkt er, wenn wir solidarisch sind und dort, wo gerade gestreikt wird nicht in den Laden gehen, sondern uns zu den Streikenden stellen und sie unterstützen und zeigen: Ohne euch kein Geschäft!
txt: Bettina Jürgensen
Anmerkungen
[4] handel-nord.verdi.de, 16.8.23: Intensivierung der Streiks im Handel für die nächsten Monate geplant
[5] https://www.derwesten.de/region/rewe-nrw-milchprodukte-streik-verdi-kunden-regal-a-id300631618.html