SOLIDARISCH IST MAN NIE ALLEINE |
Statement, das eine Mai-Rede werden wollte, aber nicht konnte …Der 1. Mai 2020: Wahrlich ein besonderer Tag der Arbeit.
Was für ein 1. Mai!
Als Bewegung mit einer mehr als 150jährigen Geschichte haben wir ja schon viel erlebt:
Aber dass der globale Kapitalismus in ein künstliches Koma versetzt wird, ist historisch einmalig.
Und alles steht auf dem Kopf:
- Versammlungsverbote statt Groß-Kundgebungen
- Abstand halten statt zusammenstehen
Und: Solidarität meint nicht: unterhaken und Seit an Seit kämpfen, sondern: Hände waschen und den Handschlag verweigern.
Das alles ist bitter, aber wohl unumgänglich!
Die Pandemie eindämmen und möglichst bald überwinden – das ist das Gebot der Stunde!
Aber, Kolleginnen und Kollegen, ganz ehrlich: Ihr fehlt mir!
Ich bin nicht Gewerkschafter geworden, um am Tag der Arbeit in einem leeren Raum in eine Kamera zu reden.
Ich bin Gewerkschafter, um gemeinsam mit Euch für gute Arbeit und eine gute Gesellschaft zu kämpfen.
Gerade am 1. Mai!
Aber: Klagen ist keine Strategie – seien wir solidarisch und zuversichtlich!
Die Gewerkschaftsbewegung hat historisch schon ganz andere Krisen gemeistert.
Mit Solidarität in und aus der Krise
Ja, gerade in der Corona-Krise ist Solidarität angesagt!
Wir haben einiges erreicht:
- milliardenschwere Hilfsprogramme;
- großzügigere Freistellung bei Krankheit und Kinderbetreuung;
- eine verbesserte Grundsicherung
Und nicht zuletzt die erleichterte und besser ausgestattete Kurzarbeit. Rund 720 000 Betriebe haben sie beantragt – eine gigantische Zahl!
Ich weiß: Für viele ist sie mit unerträglichen Einkommenseinbußen verbunden – trotz betrieblicher, tariflicher und jetzt - hoffentlich bald auch - gesetzlicher Aufstockung.
Aber bisher konnten damit drohende Massenentlassungen weitgehend verhindert werden.
Erneut hat sich gezeigt:
Ein verlässlicher Sozialstaat ist mehr wert, als er kostet.
Was aber gar nicht geht, ist das Spielen auf eigene Rechnung.
- Wenn das Arbeitszeitgesetz dereguliert wird, um den 12-Stunden-Tag und die 60-Stunden-Woche zu erleichtern – dann stinkt das nach einem Geschenk für die Wirtschaftslobby.
- Und wenn neoliberale Hardliner mit fadenscheinigen Argumenten gegen die ungeliebte Grundrente schießen, dann sagen wir: nicht mit uns!
Die Verteilung der Krisenlasten hat eine heftige soziale Schlagseite.
Das muss korrigiert werden!
Anerkennung für Pflegekräfte, Verkaufspersonal und LKW-Fahrer durch klatschen auf dem Balkon – das ist in Ordnung.
Aber angemessene Tariflöhne, gute Arbeitsbedingungen, mehr Personal und eine Rente, von der man leben kann – das ist viel besser!
Das haben sie verdient, und dafür kämpfen wir: in und nach der Krise!
Infektionsschutz im Betrieb – da darf es kein Wackeln geben
Allmählich fahren einige Betriebe die Produktion wieder hoch, in anderen war sie gar nicht unterbrochen.
Gut so – viele warten darauf, dass es weitergehen kann.
Aber Vorsicht!
Der Schutz der Gesundheit unserer Kolleginnen und Kollegen muss weiter oberste Priorität haben!
Ein paar Tücher vor dem Gesicht und ein paar Desinfektionsspender in der Kantine – das reicht nicht!
Der Arbeitgeber hat für ausreichenden Infektionsschutz zu sorgen. Durch technische, organisatorische und persönliche Maßnahmen.
Und ehrlich gesagt: Die Kosten interessieren mich dabei nur am Rande!
Denn: Schnelle Profite zu Lasten der Gesundheit – das geht gar nicht!
Abstand und Hygiene sowie ein präventiver Arbeits- und Gesundheitsschutz sind ein Muss!
Da darf es kein Wackeln geben!
Die Weichen neu stellen
Ja, Kolleginnen und Kollegen,
ich kann sie ja verstehen, diese Sehnsucht nach der schönen alten Zeit vor der Krise.
Aber ich sage auch: Der Vor-Krisen-Kapitalismus taugt nicht als Vision für eine gute Zukunft:
- Wachsende Kluft zwischen Arm und Reich;
- Prekäre Arbeit und Niedriglöhne;
- Rechtsradikalismus und Fremdenfeindlichkeit;
- die Kapitulation Europas vor der Migrationsfrage;
- und nicht zuletzt die drohende Klima-Katastrophe – alles schon vergessen?
Nein, Kolleginnen und Kollegen,
die Krise nachhaltig zu meistern heißt auch: die Weichen neu stellen!
Nicht zurück zum Alten, sondern her mit dem Neuen.
Das bedeutet:
- Ausbau der Sozialkassen zu universellen Bürger- und Erwerbstätigenversicherungen;
- Umbau von Industrie und Infrastruktur, um durch E-Autos, Bahnen und anderen Verkehrsträgern Mobilität naturverträglich zu organisieren.
- Ran an eine Wirtschaft, die wächst, wo gesellschaftlicher Bedarf ist und die auf Wachstum verzichtet, wo es die Natur überfordert.
- Und her mit einer fairen Verteilung von Einkommen, Vermögen und Lebenschancen!
Starke Schultern müssen mehr tragen
Die Hilfsmaßnahmen kosten Milliarden.
Der Corona-Sturm hat den Unsinn der "Schwarzen Null" einfach weggeblasen. Die Schuldenbremse wurde außer Kraft gesetzt. Und der Bund nahm für dieses Jahr zusätzliche Kredite von 156 Mrd. auf.
Gut so!
Doch das ist längst nicht das Ende der Fahnenstange:
Die Staatseinnahmen und die Einnahmen der Sozialkassen werden schrumpfen.
Die Ausgaben für die Arbeitsmarkt- und Gesundheitspolitik werden weiter steigen.
Da stellt sich doch die Frage: Wer bezahlt das alles?
Schon machen die Ersten die Sozialausgaben als Feld einer "Nach-Corona-Kürzungspolitik" aus.
Viele der Mitgliedsfirmen träumen davon, die ausgefallenen Stunden bei Kurzarbeit nacharbeiten zu lassen.
Und die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände schießt aus allen Rohren gegen die angeblich aus dem Ruder laufenden Kosten der Kurzarbeit – obwohl die Arbeitgeber mit den erstatteten Sozialversicherungsbeiträgen den dicksten Brocken selbst kassieren.
Das ist Heuchelei pur – kein Zweifel.
Aber es könnte der Ton der kommenden Kämpfe sein.
Hier sind frühzeitige und vor allem klare Botschaften angesagt:
- Wer seinen Profit aus der Krise ziehen will, der stößt auf unseren entschiedenen Widerstand.
- Die Kosten der Krise müssen solidarisch verteilt werden:
- Starke Schultern müssen mehr tragen!
- Eine Solidar-Abgabe auf hohe Vermögen und Erbschaften mag neoliberale Hardliner das Gruseln lehren.
Ich sage: sie ist ein Gebot der Stunde - sie muss kommen!
Solidarität global denken
Ja, es geht um faire Verteilung von Einkommen, Vermögen und Lebenschancen!
Bei uns im kapitalistischen Norden, aber auch im globalen Süden.
Kein Zweifel, Infektionsschutz und sozial-ökologische Reformen bei uns in Deutschland sind unverzichtbar!
Aber Solidarität ist von ihrem Wesen her internationalistisch.
Wird sie in den Grenzen der Nationalstaaten eingemauert, verkümmert sie.
Wir müssen den Blick über den Gartenzaun der eigenen Sorgen öffnen.
Einmal nach Europa:
Die am meisten von der Krise gebeutelten Staaten wie Italien, Spanien, Frankreich brauchen die Unterstützung der EU.
In ihrem und in unserem Interesse.
Ökonomisch ist die EU längst zu einer Schicksalsgemeinschaft zusammengewachsen.
Scheitert die Solidarität, dann scheitert Europa.
Und das trifft nicht zuletzt den Exportweltmeister Deutschland.
Aber wir müssen auch in den globalen Süden blicken:
Vielen Ländern steht der Höhepunkt der Pandemie noch bevor. Und viele dürften nicht ausreichend vorbereitet sein.
Die internationale Hilfsorganisation Oxfam sagt:
Ein "Globaler Plan für öffentliche Gesundheit und Nothilfe" in der Corona-Krise würde 160 Mrd. US-Dollar kosten. Damit ließen sich die Gesundheitsbudgets in den 85 ärmsten Staaten der Welt verdoppeln und weltweit zusätzlich 10 Millionen Gesundheitshelfer einsetzten.
In einer Welt, in der täglich an den Finanzmärkten x-Milliarden Dollar verzockt werden, dürfte das doch kein Ding der Unmöglichkeit sein!
Es fehlt nicht an Geld, es fehlt am politischen Willen!
Hier nicht kleinlaut zu kapitulieren, ist Aufgabe einer Gewerkschaftsbewegung, die ihrem internationalistischen Erbe treu bleiben will.
Festung Europa
Und schließlich sind da die Orte am Rande der Festung Europas, die Flüchtlingslager auf Lesbos, Kos und anderen Inseln.
Wir müssen begreifen:
Schmutzige Deals mit einem Autokraten wie Erdogan sind keine Lösungen!
Sie erzeugen unvorstellbare Not für die Betroffenen und Abhängigkeiten für die europäischen Demokratien!
Die Aufnahmekapazitäten der EU-Mitgliedstaaten sind noch lange nicht erschöpft – Europa kann mehr, viel mehr Menschen aufnehmen!
Und wir sollten darauf beharren.
Es bleibt dabei: Refugees welcome!
Rein in die Gewerkschaften – her mit dem guten Leben
Ja, Kolleginnen und Kollegen,
die neue Normalität sollte nicht die alte sein.
Wir wollen nicht zurück zu sozialer Ungleichheit, Rechtsradikalismus und Klimakrise.
Wir wollen nach vorne, in eine Gesellschaft, in der nicht Markt und Profit, sondern Nachhaltigkeit und Demokratie die Richtung weisen.
In Kurzfassung heißt das: Weniger Kapitalismus, mehr Solidarität.
Wir wollen die Krise überwinden und die Lebensbedingungen der Menschen verbessern.
Hier und anderswo in der Welt.
Corona hat erneut gezeigt:
Wenn’s ernst wird, dann haben freie Märkte und neoliberale Ideologie nichts zu bieten.
Dann braucht es politische Eingriffe und Alltagssolidarität - und starke Gewerkschaften!
Das kommt nicht von alleine.
Starke Gewerkschaften mit engagierten Mitgliedern und Solidarität als historischen Kompass – nie war das so wertvoll wie heute!
Also, rein in die Gewerkschaften, Einfluss nehmen und gemeinsam für ein besseres Leben kämpfen.
Wie seit mehr als 150 Jahren.
Es lohnt sich!
Hoch lebe der 1. Mai!
Hans-Jürgen Urban, geschäftsführendes Vorstandsmitglied der IG Metall
Frankfurt/M., im April 2020
Quelle: https://hans-juergen-urban.de/