16.07.2019: Seit gut vier Jahren gilt in Deutschland ein allgemeiner Mindestlohn – doch nach wie vor erhalten ihn viele Beschäftigte nicht.
Zum 1. Januar 2015 wurde der gesetzliche Mindestlohn in Höhe von 8,50 Euro flächendeckend in Deutschland eingeführt. Zum 1. Januar 2017 wurde er auf 8,84 Euro und zum 1. Januar 2019 auf 9,19 Euro erhöht. Das Gesetz sieht jedoch eine Reihe von Ausnahmen vor. Diese betreffen insbesondere Langzeitarbeitslose, ungelernte Jugendliche unter 18 Jahren sowie bestimmte Gruppen von Praktikant*innen und Auszubildenden.
Aber nicht nur diese Gruppen erhalten weniger Lohn. Das Deutschen Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hat jetzt in einer Untersuchung festgestellt, dass viele Firmen weniger zahlen, als gesetzlich vorgeschrieben ist. Rund 1,3 Millionen anspruchsberechtigte Beschäftige wurden im Jahr 2017 in ihrer Haupttätigkeit unterhalb des Mindestlohns bezahlt- "selbst bei einer konservativen Schätzung", wie das DIW schreibt. Hinzu kommen rund eine halbe Million Personen, die in einer Nebentätigkeit weniger als 8,84 Euro bekamen. Diese Zahlen sind das Ergebnis einer direkten Abfrage des vertraglichen Stundenlohns.
In einer eigenen Berechnung kommt das DIW sogar auf rund 2,4 Millionen Beschäftigte - 7,7% aller Beschäftigten -, deren berechneter vertraglicher Stundenlohn unter der Mindestlohnschwelle lag. "Zieht man den berechneten tatsächlichen Stundenlohn inklusive eventueller Überstunden heran, so erhöht sich die Zahl der Betroffenen auf 3,2 Millionen", heißt es weiter. Aktuellere Angaben als 2017 gibt es bisher nicht.
Insbesondere bei Frauen und ausländischen Beschäftigten, jungen Lohnabhängigen bis 24 Jahren und solchen im Rentenalter, Beschäftigten ohne Schulbildung und Beschäftigten in Ostdeutschland wird der Mindestlohn nicht eingehalten. Überdurchschnittlich hoch ist die Nichteinhaltung bei befristet Beschäftigten und bei Beschäftigten in Klein- beziehungsweise Kleinstbetrieben, so das DIW. Die Gefahr, unterhalb des gesetzlichen Mindestlohns bezahlt zu werden, ist laut DIW besonders in Bars, Restaurants und Hotels hoch. Aber auch Firmen des Einzelhandels, des Reinigungsgewerbes und der Leiharbeit verweigern vielen Beschäftigten den Mindestlohn.
Das DIW verweist auch auf die Erfahrungen des Zolls, der die Einhaltung des Mindestlohns in Deutschlands kontrolliert, die zeigen, dass vielfach gegen den Mindestlohn beziehungsweise gegen die Dokumentationspflichten zur Arbeitszeiterfassung verstoßen wird. Mehr Stichprobenkontrollen könnten die Lage verbessern. Allerdings dürften auch künftig viele Firmen mit der schlechten Bezahlung durchkommen. Zum einen gibt es flächendeckende und intensive Kontrollen des Zolls mangels Personal bisher praktisch nicht. Zum anderen beschweren sich die Beschäftigten nicht, aus Angst, den Job zu verlieren.
Mit dem Urteil des Europäischen Gerichtshofs vom 14. Mai 2019, das die Unternehmen verpflichtet, die gesamte Arbeitszeit ihrer Beschäftigten zu erfassen, könnten auch Beschäftigte im Niedriglohnbereich ihre Arbeitsrechte inklusive des Anspruchs auf Zahlung des Mindestlohns besser durchsetzen. Doch die Unternehmen und das Wirtschaftsministerium wehren sich gegen die Umsetzung des Urteils.
Das DIW schlägt zudem eine Zertifizierung von Unternehmen vor, die die Arbeitszeit nachvollziehbar dokumentieren. In Anlehnung an andere anerkannte Siegel könnte eine solche "Fair Pay"-Plakette dazu beitragen, dass sich mehr Unternehmen als bisher an den Mindestlohn halten.
Quelle: DIW Wochenbericht 28/2019, "Mindestlohn: Nach wie vor erhalten ihn viele anspruchsberechtigte Beschäftigte nicht"