Wirtschaft

28.07.2011: Das Aufschwung-Schöngerede der Bundesregierung hat in den vergangenen Tagen einen doppelten Dämpfer erhalten. Verdienstmäßig geht der Aufschwung total an der Masse der Erwerbstätigen vorbei, stellt das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) in einer Studie fest (Vergleichsstudie 19.7.11). Vor allem die unteren Einkommensgruppen mussten in den vergangenen 10 Jahren und selbst in Boom-Zeiten erhebliche Reallohnverluste hinnehmen (vgl. Artikel Deutschland wächst nur noch für die Reichen).

Bliebe aber noch das „Wunder auf dem Arbeitsmarkt“ (Bild-Zeitung) – so viel Beschäftigung wie nie, so wenig Arbeitslose wie selten. Die Bundesregierung faselt zeitweise gar von absehbarer Vollbeschäftigung. Das vielgepriesene Jobwunder, entpuppt sich jedoch mehr und mehr als die wundersame Vermehrung von prekären und Billig-Jobs, wie aus einer Pressemitteilung des Statistischen Bundesamtes (19.7.11) hervorgeht. Danach waren von den 322.000 zusätzlichen Beschäftigungen im Jahr 2010 243.000 atypische Arbeitsplätze. „Damit trug die atypische Beschäftigung gut 75% zum Gesamtwachstum der Zahl abhängig Beschäftigter zwischen 2009 und 2010 bei“ (destatis). Unter „atypischer Beschäftigung“ werden nach der Definition des Statistischen Bundesamtes alle abhängig Beschäftigten verstanden, die eines oder mehrere der folgenden Kriterien aufweisen: Befristung, Teilzeitbeschäftigung mit 20 oder weniger Stunden, Zeit-/Leiharbeitsverhältnis, geringfügige Beschäftigung. Die Zunahme atypischer Beschäftigung zwischen 2009 und 2010 wiederum ist hauptsächlich auf den Zuwachs von Personen in Zeitarbeitsverhältnissen zurückzuführen.  Die Zeitarbeit trug mehr als die Hälfte (57%) zum gesamten Beschäftigungsanstieg bei. „Vor allem Zeitarbeit und befristete Beschäftigung wurden von den Unternehmen als Mittel genutzt, um flexibel auf die konjunkturellen Veränderungen zur reagieren“. Im Klartext: Die Konzerne gehen gezielt zu einer Strategie des schnellen „Hire and Fire“ über.

Atypische Beschäftigung im Vormarsch

Die atypische Beschäftigung ist in den vergangenen 15 Jahren auf Kosten des Normalarbeitsverhältnisses stark angestiegen. Unter einem Normalarbeitsverhältnis ist eine ungeförderte, sozialversicherungspflichtige, unbefristete Vollzeitbeschäftigung außerhalb der Leiharbeit zu verstehen. Nach Ansicht des Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung bei der Bundesagentur für Arbeit (IAB; 3.3.2011) ist zwar „das Normalarbeitsverhältnis kein Auslaufmodell“, die vom IAB vorgelegten Zahlen beweisen jedoch, dass es zumindest stark erodiert:

  • Befristete Beschäftigung: Fast jede zweite Neueinstellung ist befristet (46 Prozent, ohne Auszubildende). Vor zehn Jahren war es weniger als jeder dritte. Es gibt heute rund 2,7 Millionen befristet Beschäftigte und damit rund eine Million mehr als Mitte der neunziger Jahre.
  • Teilzeitbeschäftigung: Die Teilzeitbeschäftigung hat sich – ohne die geringfügige Beschäftigung – in den letzten 15 Jahren verdoppelt: von 4,35 Millionen auf 8,7 Millionen.
  • Geringfügige Beschäftigungsverhältnisse bis 400 Euro: Hier gibt es erst ab 1999 zuverlässige Daten. Seitdem hat die Zahl um mehr als 1,1 Millionen auf 4,8 Millionen zugenommen.
  • Leiharbeit: Die Leiharbeit hat sich seit 1994 verfünffacht: Von 140.000 auf knapp 800.000. „Mittlerweile nähern wir uns der Million“ (IAB).

Insgesamt ergibt sich daraus die Gesamtzahl atypischer Beschäftigungsverhältnisse von 17,2 Millionen, über sieben Millionen mehr (+ 73%) als Mitte der neunziger Jahre.

Eigentlich ist noch eine knapp Million Menschen aus der Zahl der Selbständigen hinzuzufügen, die seit 1994 um 900.000 wuchs. Denn „der Zuwachs beruht auf der deutlichen Zahl der Solo-Selbständigen ohne Mitarbeiter“, schreibt das IAB. Es sind also im wesentlichen Schein-Selbständige, die eigentlich atypischer Beschäftigung zugerechnet werden müssten. Addiert man sie hinzu, dann zählt das Heer des Prekariats heute über 18 Millionen – fast 50 Prozent der abhängig Beschäftigten (einschließlich der 0,9 Millionen Scheinselbständigen sind das 36,8 Millionen Menschen).

Auch diese Zahlen sind aufschlussreich: Fügt man zu den 18 Millionen prekär Beschäftigten noch das Arbeitslosenheer von über fünf Millionen hinzu (registrierte Arbeitslose im Jahr 2010 3,2 Millionen + Stille Reserve ca. 1,8 Millionen), dann ergibt das über 23 Millionen Menschen, die keine oder nur prekäre Arbeit haben. Das ist weit mehr als die Hälfte aller Erwerbspersonen (43,3 Millionen) in Deutschland.

„Atmende Unternehmen“, bei denen der Belegschaft die Luft ausgeht

Diese Millionenheere versuchen Unternehmer und Konzerne in vielfacher Weise für ihre Zwecke ins Feld zu führen. Der prekäre Beschäftigungsbereich ist der Kern des ausgeweiteten Niedriglohnsektors, aber Zugleich die Speerspitze bei der Lohndrückerei im Bereich der Normalarbeitsverhältnisse. Nach Berechnungen des DGB verdient gut eine Million Vollzeitbeschäftigte weniger als 1000 Euro brutto im Monat. Mit Ausnahme von Deutschland und Japan sind die Reallöhne in allen kapitalistischen Industrieländern von 2000 bis 2009 gestiegen; in Deutschland dagegen sind sie um 4,5% gesunken. Die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) schreibt dazu: „Neben den moderaten Tarifabschlüssen der vergangenen Jahre sind die Ausweitung des Niedriglohnsektors und die Zunahme atypischer Beschäftigungsformen – wie Zeitarbeit und 400-Euro-Jobs – wesentliche Gründe für das schlechte Abschneiden Deutschlands“.  Die prekäre Beschäftigung dient zudem als Rammbock, um tarifierte Arbeitsbedingungen und Arbeitszeitvereinbarungen aufzubrechen bzw. als Einfallstor, um diese zu umgehen. Das zeigt sich am deutlichsten bei dem roll-back gegenüber der 35-Stunden-Woche.

Mit der prekären Beschäftigung wird der Warencharakter der Arbeitskraft gewissermaßen auf die Spitze getrieben. Das Kapital kann sie optimal in den Takt des Betriebes einpassen und problemlos, risikolos und kostengünstig wieder entfernen. Prekär Beschäftigte, allen voran die Zeitarbeiter, sind gewissermaßen die just-in-time-Arbeitskräfte des modernen kapitalistischen Betriebs. Soziologen sprechen von „flexiblen Zweitbelegschaften“, die von den Firmen aufgebaut werden. Sie ermöglichen das „atmende Unternehmen“, bei dem der Belegschaft immer mehr die Luft ausgeht.

Bleibt zum Schluss festzuhalten: Der gewachsene Niedriglohnsektor, die Armee des Prekariats, sind nicht einfach zufällig entstanden. Sie waren von der Politik so gewollt. Insbesondere die Arbeitsmarktreformen von Rot-Grün unter Kanzler Schröder mit den Hartz-Gesetzen und der Agenda 2010, bei gleichzeitiger Verweigerung gesetzlicher Mindestlöhne, zielten auf eine Ausdehnung des Niedriglohnsektors und eine totale Flexibilisierung der Ware Arbeitskraft. Der Standort Deutschland sollte noch wettbewerbsfähiger gemacht werden, damit Konzerne aus Deutschland den Weltmarkt aufrollen können. Die Folge war denn auch, dass die Exportwalze aus Deutschland in schwächeren und Peripherie-Ländern heimische Produktion platt machte und hier zu Lande Arbeitnehmer aber zunehmend mit Kaufkraftverlusten und sinkenden Lebensstandard zu kämpfen haben und ihre Arbeitsplätze prekärer werden.

Text: Fred Schmid, isw

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