11.09.2023: Achtzehn Monate Regierung durch die Generation der Studentenbewegungen; der verfassungsgebende Prozess im Sande steckengeblieben; ein Land, das fünfzig Jahre nach Pinochets Putsch tief gespalten ist. Chile, wann ist die Nacht zu Ende? Interview mit Claudia Heiss.
Federico Nastasi von il manifesto sprach mit Claudia Heiss, Direktorin der politikwissenschaftlichen Fakultät der Universidad de Chile und Forscherin für politische Theorie und Konstitutionalismus. In ihrer jüngsten Forschungsarbeit Gender and deliberative constitution-making vergleicht sie die Erfahrungen von Frauenorganisationen in Chile und Europa bei der Schaffung von Gesetzen. Die 51-jährige Heiss ist feministische Akademikerin und war Mitglied der Comisión Técnica para el proceso constituyente, die 2019 die Verfassungsänderungen ausarbeitete, die den Beginn des aktuellen Verfassungsgebungsprozesses ermöglichten.
Am 11. September sind es 50 Jahre seit dem Militärputsch, der das Experiment des "chilenischen Weges zum Sozialismus" beendete. Wie erleben Sie diesen Jahrestag?
Claudia Heiss: Es ist ein trauriger Jahrestag. Wir befinden uns in einer Zeit der geringen Unterstützung für die Demokratie, wie die jüngste Umfrage von 'Latinobarómetro' zeigt. In Chile, wie in fast ganz Lateinamerika, ist die Unterstützung für die Demokratie zurückgegangen (-2% seit 2020) und die Unterstützung für autoritäre Regime hat zugenommen (+4%). Die Tagesordnung wird heute von Fragen der öffentlichen Ordnung und der Forderung nach Sicherheit beherrscht. Die Befürworter des Staatsstreichs haben zugenommen, die Menschen interpretieren die Vergangenheit entsprechend der Gegenwart neu. Der Weg der Demokratie ist ein holpriger Weg.
Im September 2022 - drei Jahre nach dem sozialen Aufruhr, bei dem die Menge rief: "Pinochets Verfassung wird fallen", und zwei Jahre nach dem Plebiszit, bei dem fast 80 % für ihre Abschaffung stimmten - lehnte die Mehrheit der Chilenen den Verfassungstext ab, den die von den Bürgern gewählte Versammlung ausgearbeitet hatte und der die Charta Pinochets ersetzen sollte. Seitdem ist ein alternativer Weg eingeschlagen worden, ein Expertenausschuss hat einen neuen Verfassungstext ausgearbeitet. Wie weit ist dieser Prozess gediehen?
Claudia Heiss: Mit der Pandemie, der Inflation und der Sicherheitskrise ist das Pendel nach rechts ausgeschlagen. Im Zentrum Santiagos kann man immer noch die Spuren der Proteste von 2019 sehen, es gibt geschlossene Geschäfte und Schäden an städtischen Räumen. Selbst viele, die den Aufruhr unterstützt hatten, wollten nach einiger Zeit zur Normalität zurückkehren. Im März 2023 errang die rechtsextreme Partido Republicano eine Mehrheit im Verfassungsrat, dem Gremium, das den von der Expertenkommission ausgearbeiteten Verfassungstext überarbeiten muss. Dieser Text wird am 17. Dezember zur Volksabstimmung vorgelegt. Und den Umfragen zufolge wird er abgelehnt werden.
Die alte Verfassung wurde abgelehnt, bleibt aber in Kraft, eine neue kann nicht geschrieben werden. Gibt es in Chile ein Verfassungsproblem oder ist es nur eine akademische Debatte?
Claudia Heiss: Es gibt ein Legitimationsproblem, aber man muss sagen, dass die aktuelle Verfassung nicht mehr die der Diktatur ist. Es hat Fortschritte gegeben, die den demokratischen Raum vergrößert haben. Aber sind diese Fortschritte die dreißig Toten und 400 Verletzten wert, die der Aufruhr 2019 hinterließ?
Es wurde angenommen, dass der soziale Aufruhr von 2019, der soziale Protest, der den Prozess zur Überwindung der während der Militärdiktatur verabschiedeten Verfassung auslöste, der chilenischen Demokratie neues Blut einhauchen könnte.
Claudia Heiss: Die Kraft des Protests von 2019 prallte auf die Fähigkeit des Systems, institutionelle Antworten zu geben. Die fortschrittlichen Fragen waren zu zahlreich. Die Ablehnung der neuen Magna Carta stellten das chilenische Szenario völlig auf den Kopf und verändert - wie der von Mario Benedetti populär gemachte Satz - alle Fragen, auf die wir Antworten zu haben glaubten. Die Feministinnen haben jahrelang mit Ressentiments zu kämpfen gehabt. Denken Sie daran, dass es bis 2004 keine Scheidung gab, dass man bis 2017 nicht legal abtreiben konnte. Wir hatten eine verfassungsgebende Versammlung mit Vertretern für einzelne Themen, eine Zivilgesellschaft, die die politische Klasse ersetzen wollte, aber nicht die Kraft dazu hatte. Die Bewegungen hatten einen anti-politischen Antrieb, und wenn eine Bewegung anti-politisch ist, ist es schwierig, ihr eine politische Antwort zu geben.
Wie fällt die Bilanz der Regierung Boric in diesen 18 Monaten in Moneda aus?
Claudia Heiss: Die Arbeit der Regierung hat enorme Hindernisse zu überwinden, sie ist ein typischer Fall einer Exekutive ohne parlamentarische Mehrheit. Aber es ist noch mehr. Die chilenische Rechte verweigert den Dialog, und mit dem Prozess der Verfassungsgebung ist sie noch aggressiver geworden als in der Vergangenheit. Die Regierung ist ständigen Angriffen des Großkapitals und der Mainstream-Presse ausgesetzt.
So weit die Schwierigkeiten. Was sind die Ergebnisse?
Claudia Heiss: In der Außenpolitik hat sich Boric als linker Präsident profiliert, der sich nicht um jeden Preis ideologisch mit der Linken verbündet, wie im Fall der Verurteilung der Menschenrechtsverletzungen in Nicaragua. Und dann die konkreten Ergebnisse in der Sozialpolitik und bei den sozialen Rechten: die Fonasa Zero-Copay (kostenlose Gesundheitsfürsorge für Arme) und die Förderung der psychischen Gesundheit; die Erhöhung des Mindestlohns auf 500 Tausend Pesos (ca. 530 Euro), die durch die Inflation aufgeweicht wurde; die Verkürzung der Arbeitswoche auf 40 Stunden. Und konkrete Ergebnisse in Bezug auf die Unterhaltspflicht, ein Aushängeschild der feministischen Agenda.
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Boric regiert zusammen mit einer Generation, die in den Studentendemonstrationen ihren Ursprung hat. Das Bündnis, das ihn unterstützt, die Frente Amplio (FA), ist ein Bruch mit der Linken des Übergangs zur Demokratie in den 1990er Jahren, der Concertación. Die FA-Generation warf der alten Generation vor, zu gemäßigt zu sein. Was ist aus dieser Kritik geworden?
Claudia Heiss: Die Kritik hat sich abgemildert. "Es ist einfacher, soziale Missstände aufzuzeigen, als sie zu lösen", sagte Präsident Boric vor der UNO. Die FA ist jetzt die Elite, und es gibt eine Annäherung an einige der eher linksgerichteten Sektoren der alten Concertación, wie die Partido Socialista. Die Concertación war eine breitere Koalition, mit einem Pol, der mit rechten Geschäftsleuten verbunden war. Die FA scheint mir mehr links orientiert zu sein, wie z.B. die Option für universelle öffentliche Dienstleistungen und für die Beteiligung der Bevölkerung zeigt.
übernommen von il manifesto, 9.9.2023
eigene Übersetzung
Video: Salvador Allende: Der Kampf geht weiter!
https://youtu.be/CAiQCQB0MNc
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