Interview mit Ingar Solty über den Appell «HET BOЙHE – Nein zum Krieg!»
Ingar Solty gehört neben Jan Dieren, (MdB, SPD), Klaus Dörre, (Soziologe, Universität Jena), Julia Schramm (Mitglied des Bundesvorstands von DIE LINKE) und Andrea Ypsilanti (Sprecherin Institut Solidarische Moderne) zu den Initiator*innen des Appells «HET BOЙHE – Nein zum Krieg! Demokratie und Sozialstaat bewahren statt Hochrüstung im Grundgesetz!»
Der Appell «HET BOЙHE – Nein zum Krieg! Demokratie und Sozialstaat bewahren statt Hochrüstung im Grundgesetz!» wurde am 22. März veröffentlicht. Unter den Erstunterzeichner*innen finden sich zahlreiche Prominente aus Politik, Gewerkschaft, Wissenschaft und Kultur, darunter Bela B., Corinna Harfouch, Katja Riemann, Anette Frier, Max Uthoff, Konstantin Wecker, Hans-Jürgen Urban, Sebastian Hotz, Margot Käßmann, die Bundessprecher*innen der Grünen Jugend Sarah-Lee Heinrich und Timon Dzienus, Gregor Gysi und Dagmar Enkelmann. (siehe kommunisten.de: Appell gegen deutsche Aufrüstungspläne)
Ingar Solty ist Referent für Außen-, Friedens- und Sicherheitspolitik des Instituts für Gesellschaftsanalyse der Rosa-Luxemburg-Stiftung.
Frage: Was hat euch motiviert, diesen Appell zu verfassen?
Ingar Solty: Am 24. Februar hat Russland unter Präsident Putin mit fadenscheinigen Begründungen das Nachbarland Ukraine überfallen und mit einem blutigen Krieg überzogen. Am darauffolgenden Sonntag bin ich, wie viele der Mitinitiator:innen, aus Empörung über diesen Krieg und das Blutvergießen in Berlin auf die Straße gegangen. Rund um diesen Tag haben wir die größten Antikriegsdemonstrationen seit dem 15. Februar 2003 erlebt. Damals gingen in Deutschland und weltweit Millionen Menschen auf die Straße (ich selbst auch), um gegen den bevorstehenden völkerrechtswidrigen Angriffskrieg der USA und ihrer «Koalition der Willigen» und den «Krieg gegen den Terror» zu demonstrieren, der fast eine Million Menschenleben gekostet und allein in den USA über acht Billionen US-Dollar verschlungen hat. Diesmal richteten sich nun die Proteste gegen Putins Angriffskrieg. Während der Demonstration in Berlin sah man viele verschiedene Ausdrucksformen des Friedenswillens. Vor allem zwei Emotionen dominierten: die Empörung über den russischen Angriffskrieg und die Angst um Frieden und Sicherheit in ganz Europa. Von der Bühne und auf Plakaten wurde einerseits an Russland die Forderung erhoben, das Blutvergießen in der Ukraine unverzüglich zu beenden und an den Verhandlungstisch zurückzukehren; zugleich wurde vor einer weiteren Eskalation des Konflikts womöglich mit deutscher Beteiligung gewarnt.
Frage: Gab es noch einen weiteren Anlass?
Ingar Solty: Die von Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) verkündete «Zeitenwende» beziehungsweise das, was Außenministerin Annalena Baerbock (Bündnis 90/Die Grünen) als «außenpolitische 180-Grad-Wende» bezeichnet hat. Noch am selben Tag der Berliner Demonstration fand ja, wenige hundert Meter entfernt, im Deutschen Bundestag eine denkwürdige Debatte statt, bei der Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) eine Hochrüstungsmaßnahme im Umfang eines Kredits über 100 Milliarden Euro für die Bundeswehr noch in diesem Jahr verkündete und eine Änderung des Grundgesetzes, die dies «einmalig» möglich machen soll. Zugleich wurde die Erfüllung des 2-Prozent-BIP-Ziels der NATO an Rüstungsausgaben proklamiert. Bei alledem versicherte der Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) seiner Klientel, dass die Schuldenbremse ab 2023 aber eingehalten werde. Die «schwäbische Hausfrau», die da eins und eins zusammenzählt, weiß natürlich, dass diese Rechnung ohne den Wirt gemacht worden ist und dass die Zeche für die Rüstung bald von Otto und Lieschen Meier bezahlt werden muss. Schon jetzt hat Lars Feld, ehemaliger Wirtschaftsweiser und heute Wirtschaftsberater von Lindner, im «ZDF heute journal» betont, dass man wegen des Bundeswehr-«Sondervermögens» «das ein oder andere in der Legislaturperiode (…) nicht realisieren» könne. Konkret nannte er das Rentenniveau und andere «strukturelle Mehrausgaben im Sozialbereich». In den nächsten 10-15 Jahren sei die jetzt stattfindende Verschuldung «abzutragen».
Frage: Was kritisiert ihr konkret?
Ingar Solty: Man sollte annehmen, dass einem derart radikalen Kurswechsel eine breite gesellschaftliche Diskussion vorausgehen muss, ob man diese Richtungsentscheidung will oder nicht. Immerhin handelt es sich hier um eine fundamentale Abkehr von den Prinzipien bundesdeutscher Außenpolitik seit dem Ende des Zweiten Weltkriegs, die auch innenpolitisch für die Bevölkerung sehr folgenreich sein wird. Das Gegenteil ist aber hier der Fall: Es gab weder eine breite öffentliche Debatte darüber, noch gab es wenigstens eine lange parlamentarische Debatte-. Ja, es gab nicht einmal eine innerparteiliche Willensbildung dazu: Tatsächlich scheint Scholz‘ 100 Milliarden-Plan nur mit Bundesfinanzminister Christian Lindner (FDP) und dem konservativen Oppositionsführer Friedrich Merz (CDU/CSU) abgesprochen gewesen zu sein, denn selbst die Fraktionsvorsitzenden der Regierungsparteien sowie die Kabinettskollegen Robert Habeck und Annalena Baerbock (beide Bündnis 90/Die Grünen) sollen nicht informiert gewesen sein oder das gesamte Ausmaß der Pläne nicht gekannt haben. Dieser autoritäre Vorgang ist aber einer Demokratie im höchsten Maße unwürdig. Es braucht eine breite gesellschaftliche Debatte zu dieser Frage.
Frage: Alle sind sich einig, der Krieg muss schnellstmöglich beendet werden…
Ingar Solty: Selbstverständlich. Putins Angriffskrieg und das fürchterliche Blutvergießen in der Ukraine sind durch nichts zu rechtfertigen. Dieser Krieg muss sofort gestoppt werden. Die zentrale Frage muss sein: Was ist der beste und schnellste Weg, dieses Blutvergießen unverzüglich zu beenden? Wie verhindert man eine weitere Eskalation? Wie gelingt es, Russland an den Verhandlungstisch zurückzuholen? Von diesem alternativlosen Ende her muss gedacht werden, damit die Ukraine nicht in ein weiteres Syrien, also in einen – aus einer Bürgerkriegssituation entstandenen – Stellvertreterkrieg der Großmächte, verwandelt wird. Das würde dann nicht über Zehntausende, sondern Millionen Tote bedeuten, und dann würden wir auch über mehr als die bereits jetzt zehn Millionen zur Flucht gezwungenen und notleidenden Menschen reden.
(…)
Frage: Sie unterstellen, dass die NATO-Staaten den Ukraine-Konflikt nur instrumentalisieren, um die Rüstungsetats zu erhöhen. Wie kommen Sie darauf?
Ingar Solty: Das ist ein entscheidender Punkt: Die Hochrüstungspläne der Bundesregierung haben mit all diesen Überlegungen oder einer wahrgenommenen Zäsur in Folge des russischen Angriffs auf die Ukraine nichts, aber auch gar nichts zu tun! Erstens muss man vorsichtig sein, die Situation in der Ukraine nicht mit der Anschaffung neuer Waffensysteme durch die Bundeswehr zu vermischen. Denn selbst wenn man davon überzeugt ist, dass Waffenlieferungen an die Ukraine der beste Weg sind, das Blutvergießen und eine weitere Eskalation zu verhindern – ich bin das nicht –, muss man sich ja klarmachen: Die Waffen, die jetzt in den nächsten Jahren angeschafft werden sollen, sind ja überhaupt nicht für die Ukraine bestimmt. Sie werden also auch keinen Einfluss auf den Kriegsverlauf nehmen. Die 100 Milliarden Euro Sondervermögen für die Bundeswehr, die diesbezügliche Grundgesetzänderung und die Orientierung auf eine Steigerung der Rüstungsausgaben auf «Jahr für Jahr mehr als zwei Prozent des Bruttoinlandsprodukts» stehen in einem zeitlichen, aber nicht zwangsläufig in einem logischen Zusammenhang zu Putins Krieg in der Ukraine.
Dass hier das Leiden der ukrainischen Bevölkerung als eine günstige Gelegenheit ausgenutzt wird, um längerfristige Aufrüstungsziele umzusetzen, ist dabei keine These, sondern eine schlichte Tatsache: Die jetzt geplante Aufrüstung war längst Leitlinie der Vorgängerregierung der «Ampel»-Koalition. Selbst als im März 2020 die Corona-Pandemie die große Rezession beschleunigte, erheblichen wirtschaftlichen und sozialen Schaden anrichtete und die Probleme unseres auf Kante genähten Gesundheitssystems aufzeigte, betonten Regierung und der damalige Außenminister Heiko Maas (SPD) das Festhalten am sogenannten Zweiprozentziel. Auch die Anschaffung von modernen Kampfflugzeugen und von bewaffnungsfähigen Drohnen ist im Koalitionsvertrag der «Ampel»-Koalition festgelegt. Dieser wurde jedoch schon im November 2021 besiegelt, also lange bevor im Dezember die erste Warnung des CIA vor einer möglicherweise bevorstehenden Invasion Russlands in der Ukraine kam. Die aktuelle Politik ist damit im höchsten Maße unehrlich.
(…)
Frage: Der Generalinspekteur der Bundeswehr sagte, die Bundeswehr sei nicht zur Landesverteidigung in der Lage, braucht es da nicht mehr Geld und Waffen für die Bundeswehr?
Ingar Solty: Zunächst einmal muss man festhalten, dass Deutschland längst annähernd so viel für Rüstung ausgibt, wie Russland. Nun mag man argumentieren, dass das Verhältnis gemäß Kaufkraftparitäten und vor dem Hintergrund umgerechnet geringerer Personalkosten der russischen Armee nicht gleich ist. Man muss sich aber eben auch klarmachen, dass Deutschland nur eines von insgesamt 30-NATO-Ländern ist. Wie gesagt: Das Abschreckungsargument zieht nicht.
Hinzu kommt, dass diese Form der Aufrüstung mit konventionellen Waffen stattfindet im Kontext von atomaren Blöcken, deren Waffensysteme bedeuten, dass man sich gegenseitig mit Vernichtung bedroht – und das muss auch Russland einkalkulieren, sollte es u.U. damit rechnen, dass eine kurzzeitige konventionelle Rüstungsüberlegenheit etwa gegenüber den baltischen Staaten von den USA und der NATO nicht mit einem atomaren Erstschlag oder wenigstens langfristigen Stellvertreterkriegen beantwortet werden würde, die Russland niemals verkraften könnte, schon jetzt in der Ukraine nicht, wo sich dies abzeichnet. Das neue globale Wettrüsten seit einem knappen Jahrzehnt ist ein Problem, welche gigantischen gesellschaftlichen Ressourcen hier verbrannt werden, die wir dringend für zivile Ziele – Überwindung von globaler Armut Hunger und sozialer Unsicherheit, Pandemien, Eindämmung der laufenden Klimakatastrophe – brauchen. Es ist aber zugleich ein Problem, dass diesem «Gleichgewicht des Schreckens» flankiert mit Konfrontationsrhetoriken aller Seiten die reale Gefahr eines atomaren Kriegs innewohnt. Die Frage ist: Wann steigt man wie aus einer solchen Spirale aus? Auch mit Russland wird man – dann hoffentlich ohne Putin, wenn sich die Antikriegsbewegung in Russland zu einer ernsthaften Gefahr für seine Macht entwickelt – in Zukunft über eine eurasische Friedensordnung reden müssen. Die Festlegung aber auch eine dauerhafte Aufrüstungs- und Konfrontationsspirale ist gefährlich und strukturell nichtnachhaltig, wie Klaus Dörre sagt.
Frage: Viele Menschen sehen den Krieg in der Ukraine als «Zeitenwende». Muss diese nicht zwangsläufig eine «180 Grad-Wende» der Außenpolitik nach sich ziehen, wie Außenministerin Annalena Baerbock sie fordert?
Ingar Solty: Es ist richtig, dass der Ukrainekrieg viel verändert. Russland hat das Budapester Memorandum von 1994 jetzt nach der Krim-Annexion zum zweiten Mal gebrochen. Es ist damit hinfällig geworden. Die legitimen Sicherheitsinteressen der osteuropäischen Staaten, die wir häufig vergessen und die sich, wie gesagt, aus den historischen Erfahrungen ja nicht nur mit Preußens und Deutschlands Ostpolitik von der dreifachen polnischen Teilung im 18. Jahrhundert über die Kolonisations- und Versklavungspläne bis 1945 ergeben, sondern eben auch aus den Erfahrungen mit dem zaristischen und sowjetischen Russland – von der besagten Teilung bis zum Hitler-Stalin-Pakt, Katyn usw. –, diese legitimen Sicherheitsinteressen werden in einer zukünftigen Friedensordnung in Europa berücksichtigt werden müssen und das bedeutet, dass es zusätzlich zu erneuerten Sicherheitsgarantien durch Russland eben auch flankierende Sicherheitsgarantien für die Ukraine durch die USA geben muss. Diese könnten die die Ukraine als ein Cordon sanitaire quasi zum NATO-Mitglied und Nicht-NATO-Mitglied zugleich machen, wie dies ja auch vom ukrainischen Präsidenten Selenskij für Verhandlungen angeboten worden ist. Ein Zurück zum alten Status Quo kann es jedenfalls in dieser Form nicht geben. Die Tragödie in Europa ist, dass heute wieder das Recht des Stärkeren und die Logik des Militärischen dominiert. DIE LINKE hat eine europäische Sicherheitsarchitektur unter Einschluss Russlands gefordert, aber offensichtlich hat auch Russland unter Putin an eine solche Option, an ein «gemeinsames Haus Europa» nicht mehr geglaubt. Der Ukrainekrieg ist jedoch nicht, wie hierzulande häufig behauptet, bloß ein ukrainisch-russischer Konflikt, bei dem Deutschland, die USA usw. nur quasi als neutrale Schiedsrichter und ohne eigene geopolitische, geoökonomische usw. Interessen am Rand stehen.
(…)
Frage: Weshalb fällt es so viel leichter in Rüstungsaufgaben Geld zu investieren, als in die Bekämpfung von Hunger und anderen Fluchtursachen?
Ingar Solty: Das ist eine gute Frage. Es ist eine Frage von Prioritäten. Der Bundesregierung, die als Fortschrittskoalition gestartet ist, sind mehr Kampfflugzeuge und bewaffnungsfähige Drohnen für zukünftige Auslandseinsätze der Bundeswehr – denn darum geht es – offenbar wichtiger als die Überwindung von Altersarmut, Kinderarmut und prekären Beschäftigungsverhältnissen, wichtiger als die Überwindung von Personalnotstand in Krankenhäusern, Gesundheitsämtern, Schulen und Universitäten, wichtiger als Investitionen in die seit Jahrzehnten vernachlässigte Infrastruktur, in den öffentlichen Wohnungsbau, um dem Mietenwahnsinn Herr zu werden, und in die Kultur, wichtiger auch als der Ausbau eines bezahlbaren Öffentlichen Personen-Nahverkehrs, um die Klimaziele einzuhalten. In der Coronakrise hieß es: Pflegekräfte, Lehrerinnen und Lehrer, öffentliche Beschäftigte usw. seien systemrelevant. Damals blieb es beim Gratis-Applaus. Heute kommt noch der Schlag ins Gesicht dazu: Seht, es ist immer genug Geld da, halt nur nicht für Euch!
(…)
Frage: Wie soll es jetzt mit dem Aufruf weitergehen? Kann eine neue Friedensbewegung, gleichzeitig gegen Putins Krieg und dennoch gegen Hochrüstung sein?
Ingar Solty: Ja, das kann sie. Das muss sie auch. Dabei müssen wir die breite gesellschaftliche Debatte über die Richtung, in die Deutschland sich außen- und innenpolitisch entwickeln soll, nachholen, die es eigentlich vor Scholz‘ Ankündigung hätte geben müssen. Dazu werden auch wir von «Der Appell» nach Kräften beitragen.
Auszüge aus einem Interview, das bereits am 25. März auf der Internetseite der Rosa Luxemburg Stiftung veröffentlicht wurde.
Das vollständige Interview befindet sich hier:
https://www.rosalux.de/news/id/46202/demokratie-und-sozialstaat-bewahren-statt-hochruestung-im-grundgesetz
Den Appell unterzeichnen: https://derappell.de/