Interview mit Ibrahim Bilmez, Mitglied des Anwaltsteams von Öcalan
15.02.2022: Dreiundzwanzig Jahre sind seit dem 15. Februar 1999 vergangen, als der türkische Geheimdienst - in einem Akt internationaler Piraterie - Abdullah Öcalan in Nairobi festnahm, unter Drogen setzte und in die Türkei verschleppte. Die Bilder des Gründers und Führers der Kurdischen Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) mit verbundenen Augen und in Handschellen gingen um die Welt. Die Türkei verurteilte ihn zur Todesstrafe, die später in lebenslange Haft umgewandelt wurde. Eine Insel im Marmarameer wurde in ein Gefängnis für einen einzigen Gefangenen umgewandelt. Ibrahim Bilmez, ein Mitglied des Anwaltsteams von Öcalan, sagt im Interview, wenn die PKK nicht mehr als terroristisch eingestuft wird, ist der Weg frei für eine demokratische Lösung der Kurdenfrage mit Öcalan als erstem Gesprächspartner.
"Öcalan muss freigelassen werden, aus rechtlichen Gründen, aus ethischen Gründen angesichts seiner Friedensbemühungen und aus politischen Gründen: die Lösung der kurdischen Frage ist für die gesamte Region von grundlegender Bedeutung."
Ibrahim Bilmez, Anwalt von Abdullah Öcalan
Frage: Wie lange ist es her, dass Sie Öcalan besucht haben? Die Türkei schickt Ihnen immer wieder Anfragen für ein Treffen zurück.
Ibrahim Bilmez: Über ihn und die drei anderen Gefangenen, die auf der Insel Imrali festgehalten werden, gibt es keine Neuigkeiten. Die letzten datieren auf den 20. März 2021, die letzten physischen Treffen auf 2019. Wir bitten darum, zweimal pro Woche zu Besuch kommen zu dürfen, sowohl für das Anwaltsteam als auch für die Familie. Die türkischen Behörden akzeptieren das nie. Vor 2011 fand mittwochs ein einstündiges Treffen pro Woche statt. Früher konnten wir im Durchschnitt 20 bis 25 Mal im Jahr auf die Insel fahren, aber die Wetterbedingungen haben uns oft daran gehindert.
Von 1999 bis 2009 war Öcalan der einzige Häftling im Imrali-Gefängnis und wurde dort völlig isoliert. Auf Druck der internationalen Öffentlichkeit überstellte die Türkei dann weitere PKK-Gefangene dorthin. Auf der Insel gibt es keine zivilen Gebäude, Häuser oder Dörfer. Schon vor der Ankunft von Öcalan war es ein "offenes" Gefängnis, wie in Yılmaz Güneys Film Yol zu sehen ist: Die Gefangenen durften das Gefängnis verlassen. Seit 23 Jahren ist dies nicht mehr der Fall: Nicht einmal Fischer dürfen sich den Ufern von Imrali nähern.
Frage: Wann haben Sie ihn das letzte Mal getroffen?
Ibrahim Bilmez: Am 27. Juli 2011. In jenem Jahr wurden wir bei der größten Operation gegen Anwälte in der Türkei verhaftet: 45 Verhaftungen, darunter auch wir, die Anwälte von Öcalan. Bei der Verhandlung wurde gesagt, dass ich ihn zwischen 2004 und 2011 52 Mal getroffen habe, als ob dies ein Beweis für ein Verbrechen wäre. Unter dem Vorwurf der Zugehörigkeit zu einer terroristischen Vereinigung und zur Pkk-Führung wurden wir zweieinhalb Jahre lang eingesperrt. Das Verfahren läuft noch, aber die Akteure haben gewechselt: Der Staatsanwalt, der Richter und einige an den Ermittlungen beteiligte Polizisten wurden wegen Terrorismus verhaftet, weil sie dem Netzwerk von Imam Gülen angehören sollen.
Öcalans Odyssee zwischen Moskau, Rom, Nairobi und der Gefängnisinsel ImraliAm 9. Oktober 1998 wurde Abdullah Öcalan aufgrund des Adana-Abkommens aus Syrien ausgewiesen, nachdem die Türkei Syrien mit Krieg gedroht hatte. Über Zypern reiste er nach Russland, wo ihm das Parlament politisches Asyl gewährte. Trotzdem versuchte er, in Griechenland oder in einem anderen westeuropäischen Land politisches Asyl zu erhalten. Am 12. November 1998 holte der italienische Parlamentsabgeordneten Ramon Mantovani, außenpolitischer Sprecher der Partei Rifondazione Comunista, Abdullah Öcalan in Moskau ab und reiste mit ihm nach Rom, wo er noch auf dem Flughafen verhaftet und unter Hausarrest gestellt wurde. Bereits eine Woche später hob das Berufungsgericht in Rom den Hausarrest auf. Versuche Öcalans, in Europa politisches Asyl und Unterstützung für die Einleitung eines Friedensprozesses und einer politischen Lösung des kriegerischen Konflikts in der Türkei zu erhalten, schlugen fehl. Der Druck der US-Regierung und der Türkei auf den von den europäischen Staaten alleine gelassenen italienischen Präsidenten D’Alema sowie der psychische Druck brachten Öcalan dazu, am 16. Januar 1999 Italien zu verlassen. "Öcalan kam nach Italien, um politisches Asyl zu beantragen. Er wurde jedoch durch Drohungen der Regierung von D'Alema zum Verlassen unseres Landes gedrängt, die ihm zu verstehen gaben, dass sie ihm den Schutz entziehen würden. Öcalan schlug eine friedliche Lösung des Kurdenkonflikts innerhalb der Grenzen der Türkei vor. Er hoffte, dass Italien in der internationalen Gemeinschaft dafür werben werde. Stattdessen wurde ihm politisches Asyl verweigert, und es herrschte die Logik des Gehorsams gegenüber den Vereinigten Staaten, wie mir von Regierungsvertretern mitgeteilt wurde", so Ramon Mantovani. Und weiter: "US-Außenministerin Madeleine Albright bat um die Auslieferung von Öcalan an die Türkei, wohl wissend, dass er von Italien nicht ausgeliefert werden konnte, da in der Türkei die Todesstrafe galt. Aber auf diese Weise konnte die Regierung dazu gedrängt werden, kein Asyl zu gewähren. Und so war es auch".[1] Die italienischen Berater und Rechtsanwälte rieten Öcalan davon ab, Italien zu verlassen. "Es war rechtlich unmöglich, ihn auszuweisen, weil ein Asylantrag anhängig war", sagt Luigi Saraceni, ein Mitglied des italienischen Anwaltsteams, das Öcalan von seiner Ankunft in Rom bis zu seiner Verhaftung in Kenia am 15. Februar 1999 begleitete. Am 15. Februar 1999 wurde er in Nairobi (Kenia) nach dem Verlassen der griechischen Botschaft vom türkischen Geheimdienst und mit der Hilfe der CIA gekidnappt, unter Drogen gesetzt und in die Türkei verschleppt. Erst nach seiner Verschleppung in die Türkei gewährte ihm ein italienisches Gericht politisches Asyl. Luigi Saraceni in einem Interview mit il manifesto am 15. Februar 2019: "Es gab keine Verschwörung, sondern einen präzisen, erklärten, entschlossenen politischen Willen der Regierungen der Türkei, der USA und Israels, ihn zu fassen. Es handelte sich um einen Akt der internationalen Piraterie: Es war keine Verhaftung, sondern eine Entführung. Aber es ist passiert, weil Öcalan Italien verlassen hat. Wenn er nicht gegangen wäre, wäre es nicht passiert. Es stimmt, dass wir ununterbrochen von acht Geheimdiensten überwacht wurden, aber D'Alema [damaliger italienischer Premierminister] wusste, dass er ihn nicht ausweisen konnte, es war rechtlich unmöglich, ihn auszuweisen, weil ein Asylantrag anhängig war. Die italienische Regierung hatte versucht, ihn an Deutschland 'auszuliefern', das einen Haftbefehl ausgestellt hatte, aber Berlin lehnte dies wegen der Anwesenheit von einer Million Kurden und einer Million Türken auf seinem Territorium ab. Er konnte wegen der Todesstrafe nicht in die Türkei überstellt werden. Wäre Öcalan in Italien geblieben, wäre das Schlimmste gewesen, hier vor Gericht gestellt zu werden." [2] Am 29. Juni 1999 wurde Öcalan vor dem Staatssicherheitsgericht in Ankara wegen Hochverrats zum Tode verurteilt. Das Urteil wurde unter anderem auf europäischen Druck hin nicht vollstreckt und 2002 mit der Abschaffung der Todesstrafe in lebenslange Haft umgewandelt. Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) hat in letzter Instanz am 12. Mai 2005 das Verfahren gegen Öcalan als unfair bezeichnet. Öcalan wird seit dem 15. Februar 1999 auf der Gefängnisinsel İmralı im Marmarameer festgehalten, die ersten Jahre war er in Einzelhaft. Seit dem 15. November 2009 befindest sich Öcalan nicht mehr in Einzelhaft, sondern ist mit einigen weiteren Häftlingen inhaftiert. Trotz seiner Isolierung auf der Gefängnisinsel ist Öcalan nach wie eine Schlüsselfigur bei der Lösung des türkisch-kurdischen Konflikts. Die PKK wurde 2002 auf Antrag der Türkei von der Europäischen Union auf die Terrorliste gesetzt. Das höchste Gericht der EU, der Gerichtshof in Luxemburg, entschied 2018, dass die PKK zwischen 2014 und 2017 zu Unrecht auf die EU-Terrorliste gesetzt worden war. Konkrete Auswirkungen hat das Urteil aber nicht. Als die Gültigkeit der Terrorismuseinstufung vor belgischen Gerichten geprüft wurde, wurde im Jahr 2020 festgestellt, dass die PKK rechtlich nicht als terroristische Organisation angesehen werden kann, da sie eine Partei in einem bewaffneten Konflikt ist, wodurch sie dem Kriegsrecht unterliegt. |
Frage: Können Sie Imrali beschreiben?
Ibrahim Bilmez: Um nach Imrali zu gelangen, verließen wir den Hafen von Gemlik in Bursa um 5 Uhr morgens. In Gemlik führte die Gendarmerie die erste Durchsuchung durch: In einer Reihe gingen wir durch den Metalldetektor, der immer piepte. Sie zogen uns aus und untersuchten in einem Raum unseren ganzen Körper, sogar unseren Mund und unsere Haare. Sie sagten, sie würden nach Sprengstoff suchen, aber es war offensichtlich, dass sie uns nur demütigen wollten. Wir bestiegen ein kleines Boot, die Imrali 9, für eine zweistündige Fahrt. Auf der Insel wurden wir zwei weiteren Durchsuchungen unterzogen, eine am Hafen und eine 200 Meter entfernt am Eingang des Gefängnisses, obwohl wir immer in Begleitung von Gendarmen waren. Nach den Kontrollen warteten wir in einem Raum von etwa 12 Quadratmetern. Nebenan befand sich ein weiterer, etwa gleich großer Raum, der Sitzungsraum. Dahinter befand sich die Zelle von Öcalan.
"Die Türkei baute ein Gefängnis um ihn herum und schickte andere Gefangene dorthin, so dass man in Europa nicht mehr von Isolation sprechen konnte".
Mauro Palma, ehemaliger Präsident des Europäischen Komitees zur Verhütung von Folter
Frage: Unter welchen Bedingungen hat Öcalan gelebt, zumindest solange Sie ihn treffen konnten?
Ibrahim Bilmez: Durch das kleine Fenster des Raums, in dem die Besuche stattfanden und der so klein war wie seine 12 Quadratmeter große Zelle mit sehr hohen Wänden konnte man nur den Himmel sehen, sonst nichts.
Einmal fuhr eine Anwaltin nach Imrali, und Öcalan kratzte beim Fenster ein Grasbüschel heraus, das im Beton gewachsen war. Er gab es ihr, um es den Genossen draußen zu bringen. Am Ausgang beschlagnahmten es die Gendarmen. Bis 2004 waren die Treffen mit uns Anwälten vertraulich. Dann führten sie ein Gesetz ein, das es dem Staat erlaubte, mit seinen Vertretern anwesend zu sein. Sie standen mitten unter uns und nahmen das ganze Gespräch auf.
Bevor wir eintraten, wurden wir gewarnt: nicht länger als 60 Minuten und kein Körperkontakt. Bis zum Eintreffen anderer Gefangener hatte Öcalan zehn Jahre lang keinen Kontakt zu anderen Personen als den Wachen. Ein Jahrzehnt lang waren die einzigen Stimmen, die er von anderen Menschen hörte, die unsrigen. Trotzdem sah ich ihn selten in schlechter Stimmung. Innerhalb weniger Minuten nach Beginn der Sitzung schien es, als wären wir nicht mehr dort, sondern allein und frei.
Frage: In diesen 23 Jahren gab es auch eine Phase der "Öffnung" des Staates, als der Friedensprozess unter der Leitung von Öcalan aus dem Gefängnis heraus begann. Hat sich in dieser Phase etwas verändert?
Ibrahim Bilmez: Nach unserer Verhaftung begannen die Verhandlungen. Damals reisten sowohl eine Delegation des türkischen Staates als auch eine Delegation der damaligen BDP (Partei für Frieden und Demokratie, Vorläuferin der HDP) zu einem Treffen mit Öcalan. Die gleichen Gefangenen, die nach Imrali gebracht wurden, um die totale Isolation zu durchbrechen, waren PKK-Kader, die an den Verhandlungen teilnahmen, eine Art Sekretariat. Damals gab man ihm auch einen Fernseher, der nur staatliche Sender empfing.
Wir schicken ihm jeden Monat Bücher, Zeitschriften und Zeitungen, aber wir wissen nicht, ob und wann sie ihm gegeben wurden. Wir wissen jedoch, dass sie, wenn etwas zur kurdischen Frage veröffentlicht wurde, es mit einer Schere herausgeschnitten wurde. Er hat sich jedoch eine große Fähigkeit zur politischen Analyse bewahrt und kennt die Geschichte des Nahen Ostens sehr gut. Ich erinnere mich an einige seiner Vorhersagen, die uns damals undenkbar erschienen, dann aber tatsächlich eingetreten sind. Wie das Massaker von Shengal: Er schlug schon vor dem Syrienkrieg vor, Vorkehrungen zum Schutz der Jesiden zu treffen.
Frage: Die Kampagne für die Freilassung von Öcalan wird von der Kampagne zur Streichung der PKK von der Liste der terroristischen Vereinigungen begleitet. Dies sind zwei eng miteinander verbundene Themen. Gibt es eine Priorität?
Ibrahim Bilmez: Als Anwälte ist es unser Ziel, Öcalan zu befreien, und wir können uns nicht an Kampagnen beteiligen, die von anderen Organisationen organisiert werden. Aber wir unterstützen sie mit unserer Arbeit, indem wir Informationen und Material bereitstellen. Die Kampagne zur Streichung der PKK von der schwarzen Liste ist mit der Kampagne zur Befreiung von Öcalan verbunden. Wenn er nicht mehr als Terrorist betrachtet würde, wäre der Weg frei für eine friedliche Lösung der Kurdenfrage mit Öcalan als erstem Gesprächspartner. Dies sind Ziele, die sich gegenseitig verstärken. Deshalb ist die europäische demokratische öffentliche Meinung für beide Kampagnen wichtig. Öcalan ist auch eine Chance für die Türkei, für den Staat und für die Gesellschaft im Allgemeinen, eine friedliche und demokratische Lösung zu finden.
Frage: Gibt es außer der HDP noch andere Parteien in der Türkei, die sich für seine Freilassung einsetzen?
Ibrahim Bilmez: Seit 1999 und während der gesamten Dauer des Prozesses wurde der türkischen Öffentlichkeit das Bild von Öcalan als einem Monster, der Wurzel allen Übels, aufgezwungen. Dies hat zu Vorurteilen und zwei Extremen geführt: Die Kurden sehen ihn als Retter, während ein großer Teil der türkischen Öffentlichkeit ihn für den schlimmsten aller Terroristen hält.
Doch mit der Zeit, als sein Denken in der Zeit des Friedensprozesses die Gesellschaft erreichte, begann dieses Vorurteil zu bröckeln und unvorstellbare Dinge geschahen. So wurde beispielsweise eine Rede, die Öcalan zu Newroz hielt, von türkischen Fernsehsendern ausgestrahlt, ohne dass es zu einem Eklat kam. Zu diesem Zeitpunkt hat der demokratische Teil der türkischen Gesellschaft, die linken, aber auch die sozialdemokratischen Parteien, dieses Vorurteil aufgegeben. Es wurde sogar erwogen, die Strafe in Hausarrest umzuwandeln.
Das Problem liegt in der schwarzen Propaganda des Staates und in der Instrumentalisierung von Öcalan durch die türkischen Regierungen: Die AKP (Erdogans Partei) hat den Friedensprozess als Wahlkampfinstrument genutzt, wie bei der Wahl im Juni 2015, um sich als treibende Kraft für eine Lösung zu präsentieren. Als sie dann aber ihre absolute Mehrheit an die boomende HDP verlor, beschloss sie, den Verhandlungsprozess abzubrechen.
Das Interview führt Chiara Cruciati für die italienische kommunistische Tageszeitung il manifesto.
il manifesto, 10.02.2022: «La via per la pace: Ocalan libero e Pkk fuori dalla black list»
eigene Übersetzung
Anmerkungen
[2] il manifesto, 15.2.2019: "L’asilo politico di Apo è valido, scandaloso il silenzio italiano"
https://ilmanifesto.it/lasilo-politico-di-apo-e-valido-scandaloso-il-silenzio-italiano/