28.01.2022: Corona verschärfe bestehende Ungleichheiten, sagt der Soziologe Stephan Lessenich. Die Pandemie zeige die Grenzen von Demokratie und Solidarität auf.
Covid-19 hat den Lauf der Welt jäh gestoppt. Nie war der Ruf nach gesellschaftlichem Zusammenhalt lauter. Während sich die meisten Menschen in unserem Land mittlerweile über wiedergewonnene Freiheiten freuen, stehen Einzelne mit ihren Ängsten am Rand. Drohen die Forderungen nach Solidarität zu verhallen?
Stephan Lessenich: Der Ruf nach Solidarität und gesellschaftlichem Zusammenhalt ist von Anfang an verhallt, da er nur im nationalen Rahmen gedacht war. Zusammenhalt ist immer ein zweischneidiges Schwert – dort, wo zusammen gehalten wird, wird immer auch gegen etwas oder jemanden zusammen gehalten – dies hat unter anderem die Diskussion über die Impfpriorisierung gezeigt. An der Oberfläche schien das Virus eine neue Sensibilität für Gefährdungen des Sozialen zu schaffen. Mit den wiedergewonnenen Freiheiten ist diese Zeit jedoch schon wieder an ihr Ende gekommen.
Welche Folgen hat dies für unsere Gesellschaft und das Miteinander in der Nach-Corona-Zeit?
Stephan Lessenich: Dies wird man erst in Zukunft sehen. Corona hat die Welt nicht besser gemacht – durch die Pandemie ist deutlich geworden, dass sozialer Zusammenhalt auch etwas Ausschließendes hat. Denken wir an die Diskussion über Homeoffice: Zwei Drittel der Deutschen haben gar keine Möglichkeit, ihre Arbeit von zu Hause aus zu erledigen – dies war also eine Phantom-Debatte. Nicht nur hier ist die Schieflage unserer Gesellschaft deutlich geworden. Die Pandemie wirft gerade ein Licht auf die vorhandenen Ungleichheiten.
Vor allem Querdenker gehen auf die Straße, um für ihre demokratischen Rechte und Freiheiten zu demonstrieren. Andere von den Folgen der Pandemie stark betroffene Gruppen wie Schulkinder, Solo-Selbstständige oder Pflegebedürftige werden kaum gehört. Was macht die Pandemie mit der Demokratie?
Stephan Lessenich: Die Pandemie hat auch ein Schlaglicht geworfen auf den Zustand der hiesigen Demokratie. Man muss den Querdenker-Irrsinn nicht teilen, aber der Eindruck ist richtig, dass die Exekutive lange Zeit einfach entschieden hat, ohne dass es eine parlamentarische Debatte gab. Hier wurden Entscheidungen schlicht dekretiert, von oben herab, eine Politik nach Gutsherren-Art. Das ist für die Demokratie ein Riesen-Problem. Die Frage, wie mit der Pandemie umgegangen werden soll, ist ein Indikator für den Mangel an öffentlicher Debatte. Fragen wie etwa nach der sozialen Bedeutung von Schulbildung in Deutschland wurden kaum gestellt. Die Schulschließungen waren eine Katastrophe für viele Schülerinnen und Schüler. Sie haben die Bildungsgräben weiter vertieft. Da hätte es frühzeitig eine politische Debatte geben müssen. Auch bei der Frage der Impfpriorisierungen hat sich ein riesiges Demokratie-Defizit in der Gesellschaft gezeigt: Nie wurde darüber diskutiert, wer als besonders gefährdet zu gelten hat.
Von Bildungsgräben haben Sie gerade schon gesprochen. Wer einen Laptop, einen eigenen Garten und einen festen Job hat und nicht auf die Hilfe Anderer angewiesen ist, kam besser durch die Pandemie als jemand, der sich all dies nicht leisten kann und auf Unterstützung Anderer angewiesen ist. Wie lassen sich diese Ungleichheiten überwinden?
Stephan Lessenich: Wir müssen die bestehende Demokratie demokratisieren. Ob Arbeit, Bildung oder Erziehung: Betroffene müssen Mitsprache haben, es muss selbstverständlich werden, dass Eltern oder Beschäftigte an ihrem Arbeitsplatz in Gestaltungsfragen mitgehört werden. Auch muss das Bildungssystem gerechter und das dreigleisige Schulsystem in Deutschland endlich überwunden werden, denn die sozialen Ungleichheiten werden damit immer wieder neu zementiert – wer in der Pandemie aufs Gymnasium ging, hatte wieder einmal die eindeutig besseren Karten.
Hephata heißt "Öffne Dich". Soziale Teilhabe von Menschen mit Beeinträchtigungen zu ermöglichen, ihnen Türen zu öffnen und selbst offen zu sein, gehört zu den Zielen der Hephata Diakonie. Der Lockdown hatte dies vor große Herausforderungen gestellt. Welche Schlüsse lassen sich aus solch einer Erfahrung heraus für die Zukunft ziehen?
Stephan Lessenich: Die Idee der Öffnung muss man ernst nehmen. Aber auch sie zeigt die Grenzen der Demokratie – Öffnungen gehen selten ohne neue Schließungen vonstatten, soziale Teilhabe-Chancen und Mitspracherechte sind Verteilungsfragen. Öffnung heißt auch das Annehmen der Menschen als Gleichberechtigte. Dies müsste auch für die zehn Millionen Nicht-Deutsche in unserem Land gelten, die im wahlberechtigten Alter sind, aber hier nicht wählen dürfen. Die Frage muss immer lauten, wer bleibt unberücksichtigt?
Wir Menschen des globalen Nordens leben auf zu großem Fuß zulasten des Planeten Erde und auf Kosten des globalen Südens, ist eine Ihrer Thesen. Globalisierung, Klimakrise, jetzt auch noch Corona-Krise – wie kann diese Erfahrung in konstruktives politisches Handeln übersetzt werden?
Stephan Lessenich: Zoonosen wie Covid-19 sind der Art und Weise geschuldet, in der unsere Wirtschaftsweise den Planeten Erde ruiniert. Gerade die jüngste Erfahrung hat gezeigt, dass es eine globale Verantwortung gibt: Wenn in anderen Weltregionen nur wenige Prozent der Bevölkerung geimpft sind, ist das ein humanitärer Skandal. Im Übrigen hört die Pandemie so niemals auf. Im Grunde ist es sowieso schon fünf nach zwölf: Um die Risiken einer erneuten Pandemie zu reduzieren, müssen wir umsteuern und die Art des Wirtschaftens, Produzierens und Konsumierens verändern.
Müssen wir Chancengleichheit neu definieren?
Stephan Lessenich: Es ist eine Fiktion, zu denken, dass es in dieser Gesellschaft gleiche Startchancen und Chancengleichheit gäbe – nehmen wir nur das Beispiel von migrantischen und Akademikerhaushalten. Eigentlich ist die Aufgabe ganz klar: Wir müssen denjenigen, die weniger haben, mehr geben. Und denen, die gut gestellt sind, wird man einige Chancen nehmen müssen. Da geht es schlicht um Umverteilung! Dies halte ich für eine vorrangige gesellschaftliche Aufgabe, die nicht von Einzelnen bewältigt werden kann. Da müssen die Institutionen ran.
Was wünscht sich Stephan Lessenich in diesen Zeiten persönlich?
Stephan Lessenich: Persönliches und Politisches kann ich für mich nur schwer trennen. Ich wünsche mir, dass gesellschaftlich mehr debattiert wird, und dass nicht nur Wissenschaftler und Politiker gehört werden, sondern dass die öffentliche Diskussion auch offen ist für andere Stimmen.
"... Die Folgen des Klimawandels werden zuerst und am stärksten von denen zu spüren sein, die in der Klassengesellschaft ganz unten stehen, die die wenigsten Ressourcen haben, mit diesen neuen Verhältnissen umzugehen – beispielsweise zu migrieren oder auch nur umzuziehen oder sich entsprechend auszurüsten gegen ein verändertes Klima. Das heißt, Klimawandel ist eine soziale Frage und spezifischer eine Klassenfrage. … |
Prof. Dr. Stephan Lessenich ist seit Sommer vergangenen Jahres neuer Professor an der Goethe-Universität in Frankfurt und Direktor des renommierten Instituts für Sozialforschung IfS.
Der Autor zahlreicher Bücher ("Nach uns die Sintflut", "Grenzen der Demokratie") tritt als neuer Direktor in die Fußstapfen bekannter kritischer Soziologen wie Horkheimer und Adorno. Lessenich, von 2013 bis 2017 Vorsitzender der Deutschen Gesellschaft für Soziologie, gilt als Wissenschaftler, der nicht nur lehrt, sondern sich auch in die politische Debatte einmischt.
Das Interview erschien bereits am 3. November 2021 auf der Internetseite nh24.de. Es fand im Vorfeld einer Veranstaltung der Arbeitsgemeinschaft Toleranz der Hephata Diakonie statt.
https://nh24.de/2021/11/03/die-demokratie-demokratisieren/
kommunisten.de bedankt sich bei nh24.de für die freundliche Genehmigung zur Veröffentlichung