11.11.2021: Kürzlich veröffentlichte das Transnational Institute Amsterdam den Bericht "Digitaler Kolonialismus, eine Analyse der europäischen Handelsagenda“. Nelsy Lizarazo interviewte Sofía Scasserra, um die Kernpunkte des Berichts zu erörtern. Sofia Scasserra ist assoziierte Forscherin beim Transnational Institute (TNI) in Amsterdam und spezialisiert auf digitale Wirtschaft, Arbeit und Entwicklung. Sie ist Forscherin am World Labor Institute der Universidad Nacional Tres de Febrero (UNTREF) in Argentinien. Außerdem ist sie Beraterin der internationalen Gewerkschaftsbewegung und des argentinischen Senats.
Nelsy Lizarazo: Erinnere uns daran, wovon wir eigentlich sprechen, wenn wir von digitaler Wirtschaft reden, und dann an die zentralen Aspekte der von der Europäischen Union angenommenen Strategie.
Sofía Scasserra: Wenn wir über die digitale Wirtschaft sprechen, gibt es viele Dinge, die die Leute gerne vorstellen. Es gibt viele Themen, die auf die Tagesordnung kommen, und wir sehen immer dieses Bild von Robotern und künstlicher Intelligenz, als wäre das die digitale Wirtschaft.
Die Realität sieht jedoch so aus: wenn wir zum Kern dessen gehen, was auf dem Spiel steht, wenn wir über internationale digitale Architektur sprechen, sehen wir, dass es sich um ein ganzes System handelt, das sich selbst reguliert und sich selbst zusammenfügt, um digitalen Kapitalismus ausüben zu können.
Wir haben also einen neuen Rohstoff, nämlich die Daten, die wir produzieren, wenn wir Computer und Mobiltelefone und so weiter benutzen. Diese Daten werden dann mit Hilfe von Algorithmen übersetzt, um unser Verhalten vorhersagen zu können, es vorwegnehmen zu können, um Verbraucher:innen, Arbeitnehmer:innen und Bürger:innen im Allgemeinen beeinflussen zu können.
Das heißt, an jedem Ort, an dem wir unsere Bürgerrechte ausüben und unser Leben gestalten, gibt es einen Algorithmus, der diese Daten nimmt und versucht unser Verhalten vorhersagt, um es zu beeinflussen.
Das passiert bereits jeden Tag. Darüber hinaus haben wir Technologie und technologische Entwicklungen in einem solchen Ausmaß eingebürgert, dass wir uns dessen nicht mehr bewusst sind. Mit anderen Worten, es ist normal, nach etwas auf Google zu suchen und davon auszugehen, dass die Art und Weise, wie uns die Ergebnisse angezeigt werden, die beste Art und Weise ist, wie diese Ergebnisse sein sollten, aber wir fragen uns nie, ob diese Ergebnisse das Produkt von jemandem ist, der dafür zahlt oder ob Google denkt, dass sie die besten für mich sind, selbst wenn jemand, der nach den gleichen Worten sucht, andere Informationen erhält.
Millionen von Dollar werden so durch Technologieunternehmen gemacht. Es handelt sich also um eine digitale Wirtschaft, deren Architektur auf der Idee von Daten als Ware und Algorithmen als eine neuen Form von Mehrwert basiert, wirtschaftlichen Wert zu erschließen und durch vorausschauende Algorithmen einen Gewinn zu erzielen.
Nelsy Lizarazo: Wenn man über dieses Thema spricht, hört man immer von den Giganten der USA, den digitalen Konzernen aus dem Silicon Valley, und China, dem Konkurrenten. Weniger bekannt ist, dass die Europäische Union auch in diesem Wettbewerb steht, sie ist auch im Spiel. Erzähle uns von den Kernpunkten des Berichts über die Europäische Union.
Sofía Scasserra: Die Idee ist offensichtlich der Kampf um die Vorherrschaft, der zwischen den beiden "Giganten“ stattfindet, die Sie erwähnt haben. Nun ist die EU dabei, eine Architektur von Normen und Spielregeln für die digitale Wirtschaft zu schaffen, und zwar hauptsächlich aus zwei Gründen, die im Bericht hervorgehoben werden.
Der erste Grund ist die immense Lobbyarbeit amerikanischer Unternehmen in der Europäischen Union, damit der Gesetzgeber einen supranationalen Rahmen von Regeln schaffen kann, der den Unternehmen zugute kommt, die bereits an der Spitze der digitalen Wirtschaft stehen.
Und der zweite fundamentale Grund ist, dass mit dem 5G-Netz die intelligente Fertigung immer häufiger wird. Mit anderen Worten: Ein gewöhnlicher Kühlschrank ist nicht dasselbe wie ein Kühlschrank, der mir vorschlägt, was ich kaufen soll, mich warnt, wenn mir die Milch ausgeht oder mir sagt, wo ich in der Nähe meiner Wohnung einkaufen kann.
Ein anderes Beispiel ist der Unterschied zwischen einer gewöhnlichen Türklingel an einem Haus, und einer, die von einem Mobiltelefon aus bedient werden kann, mit einer eingebauten Kamera, damit ich von irgendwo auf der Welt sehen kann, wer an der Tür klingelt.
Und es ist nicht dasselbe, einen Bus an einer normalen Haltestelle zu nehmen, wie von einer, an der man weiß, dass ich auf einen bestimmten Transport warte und mir sagt, wie schnell der Bus ankommt.
All diese Dinge, die Smart Homes, Smart Houses und das Internet der Dinge genannt werden, sind aus 5G-Netzen entstanden, und das erfordert eine enorme Aufrüstung des Produktionssektors hin zu einem smarten Sektor. Mit anderen Worten, derselbe Kühlschrank, den ich herstelle und verkaufe, benötigt einen Computer, einen Chip, ein Internet-Netzwerk und so weiter.
Und um diese vorausplanende Geräte herstellen zu können, also den Chip, der mir sagt, ich müsse Milch kaufen, oder dieses Produkt ist im Laden zwei Blocks von meinem Haus entfernt im Sonderangebot erhältlich, muss ich Daten sammeln, um die Algorithmen zu speisen, die mir den Kauf von Dingen oder eine bestimmte Bushaltestelle vorschlagen.
Sie wissen auch, dass in der Europäischen Union viele Produkte wie Autos hergestellt werden, und wenn dort nicht auf smarte Technologie umgestellt wird, werden sie obsolet. Mit anderen Worten, die Europäische Union hat zwei Optionen: Entweder veralten ihre Produkte oder sie beginnt, die Produktion an ausländische Unternehmen auszulagern. Dies würde zu einer wirtschaftlichen Abhängigkeit zwischen der Europäischen Union, den übrigen nordamerikanischen Konzernen und China führen.
Was die EU also anstrebt, ist die Modernisierung ihrer verarbeitenden Industrie durch die Einführung smarter Dienstleistungen. Dafür braucht sie Hegemonie in der digitalen Wirtschaft, Rohstoffe, Daten und Infrastruktur.
Und woher nimmt sie diese Daten, diese Infrastruktur? Nun, indem Freihandelsabkommen geschlossen werden, um Daten aus anderen Ländern zu extrahieren, egal ob sie aus dem globalen Süden oder aus verschiedenen Sektoren kommen. So kann sie damit beginnen, die riesige Datenmenge zu produzieren, die es braucht, um die Fertigungsindustrie auf den neuesten Stand zu bringen.
Der Kampf findet also zwischen zwei Ländern statt, und das ist zweifellos richtig. Aber es stimmt, dass es auch andere Akteure gibt, die versuchen, in die digitalen Ketten dieses Sektors einzudringen, und in dieser Hinsicht spielt die Europäische Union eine Rolle.
Digital colonialism. Analysis of Europe’s trade agendaTransnational Institute, 06 October 2021 Hier laden: https://www.tni.org/files/publication-downloads/digital-colonialism-report-tni_en.pdf |
Nelsy Lizarazo: Was können wir als Region tun?
Sofía Scasserra: Es ist wichtig, diese Freihandelsabkommen, die auf Geheiß der Europäischen Union und anderer Länder ausgehandelt werden, nicht zu unterzeichnen, um die Souveränität unserer Staaten zu wahren und um Regeln aufstellen zu können, die Nein sagen. Wir wollen, dass die Datenverarbeitung in unserem Land bleibt und die Daten unser Land nicht verlassen.
Das ist eine Frage der Souveränität und auch der digitalen Industrialisierung. Wenn das Rohmaterial im Land bleibt und vor Ort verarbeitet wird, generiere ich viele positive externe Effekte innerhalb Lateinamerikas. Es geht auch darum, die Souveränität unserer Rohstoffe zu wahren, denn wir kennen die extraktivistische Geschichte, die wir jahrhundertelang hatten.
Nelsy Lizarazo: Kommen wir zum nächsten Thema, nämlich den Folgen der EU-Strategie für unsere Region und vor allem für das tägliche Leben der Menschen in Lateinamerika. Wie wirkt sich das auf die Bürger:innen aus?
Sofía Scasserra: Was derzeit passiert, ist, dass sich die alte Geschichte des Kolonialismus auf der Ebene der Daten wiederholt.
Die Frage ist, wie viele Gelegenheiten wir als Lateinamerika noch verpassen werden und wie wenig das für die allgemeine Bevölkerung sichtbar ist. Denn wenn sie das Gold von Potosí nehmen, oder wenn sie den Stahl nehmen, oder wenn sie den Fisch nehmen, dann sehen wir das Schiff, auf dem sie es mitnehmen, aber die Daten sind nicht greifbar, wir sehen sie nicht, und es scheint, als hätten wir sogar akzeptiert, dass sie es wegnehmen.
Es ist sogar logisch, und viele Leute sagen ja auch: Nun, wenn Zoom, den wir benutzen, nordamerikanisch ist, dann ist es normal, dass sie die Daten nehmen, die wir in diese Plattform eingeben. Allerdings können wir Zoom sagen, dass alle in Lateinamerika produzierten Daten in einer Public Cloud in der Region verarbeitet und gespeichert werden müssen.
Auf diese Weise werden Spielregeln auferlegt, das ist die Macht der Staaten, und das ist es, was wir nicht sehen können. Außerdem haben die Daten eine besondere Eigenschaft, die andere Rohstoffe nicht haben. Zum Beispiel das Silber von Potosí, wenn ich es habe, dann hast du es nicht. Daten hingegen können ohne Kosten unendlich kopiert werden.
Im Hinblick auf die Souveränität und den Erhalt von Rohstoffen kann zur Gewinnung und zum Zugang zu Daten also gesagt werden: – wenn Sie wollen, können Sie die Kopie mitnehmen, aber das Original muss hier bleiben -, denn diese Daten können für Staaten von großem Wert sein, da öffentliche Politiken, nationale Unternehmen und Wertschöpfungsketten daraus entwickelt werden können. Wie viel sind beispielsweise die Informationen von Uber wert, um ein Verkehrssystem in einer Stadt zu entwickeln, um ein intelligenteres, integrierteres öffentliches Verkehrssystem zu entwickeln?
Wie viel sind die Daten verschiedener Technologieunternehmen wert? Sehen Sie, was passierte, als die Quarantäne begann. Google konnte anhand der Mobilitätsdaten von Mobiltelefonen in einer Stadt erkennen, ob wir in Quarantäne waren oder nicht. Google bestimmte also den Grad der Aktivität in einer Stadt, ob die Quarantäne eingehalten wurde oder nicht.
Als Google diese Daten an Organisationen und Länder zur Verfügung stellte, hatte die Quarantäne gerade begonnen. Nun, schauen Sie, wie wertvoll diese Daten waren und wir mussten warten, bis Google sie veröffentlichte. Wären diese Daten jedoch auf souveräne Weise gespeichert worden, hätten diese Informationen früher ausgetauscht werden können, in diesem Fall aus Gründen der öffentlichen Gesundheit. Google wäre dazu verpflichtet gewesen, ohne dass wir an seine Großzügigkeit gebunden wären.
Nelsy Lizarazo: Sofia, du sagst sehr interessante Dinge, und das weckt uns auf, denn wenn private Unternehmen diese Daten nutzen, ist es Intelligenz, nicht Marketing, sondern Datenverarbeitung, die unser Leben verbessern wird. Wenn ein Staat dies jedoch tut, sagen sie nicht dasselbe. Als die Quarantäne begann, wurde uns erzählt, dass die chinesische Regierung die Bevölkerung über ihre Handys kontrolliere, dass es wie eine Diktatur wäre und dass es absolute Kontrolle bedeute. Worauf ich hinaus will, ist, dass es eine Subjektivität gibt, in der Staaten, die Informationen nutzen, mit Technologie unterdrücken.
Sofía Scasserra: Diesen Diskurs gibt es schon seit vielen Jahren, man sagt, der Staat sei mangelhaft, er sei bürokratisch. Innovation sei die Schöpfung des Privatsektors, aber es ist bekannt, dass das iPhone zu 70% in Staatseigentum ist, also ist das ein Mythos. Wir müssen also diesen Kulturkampf fortsetzen und wissen, dass es diesen Diskurs immer geben wird. Er hat immer existiert und wird nie aufhören zu existieren.
Nelsy Lizarazo: Schließlich muss auch gesagt werden, dass das Narrativ der Degradierung des Öffentlichen, um das Private aufzuwerten, in allen Bereichen zu finden ist, in der Bildung, im Gesundheitswesen… in allen Bereichen.
Sofía Scasserra: Es wird immer so dargestellt, das Gute ist das Private und das Öffentliche ist das Bürokratische, das Langsame, das nicht funktioniert.
Nelsy Lizarazo: Welche Alternativen haben wir?
Sofía Scasserra: Die Abkommen, die auf supranationaler Ebene unterzeichnet werden, haben einen großen Einfluss auf unser Leben und multilaterale, bilaterale, regionale Freihandelsabkommen werden ständig unterzeichnet.
Es scheint also, dass der Neoliberalismus nach und nach mit Abkommen zur Eliminierung des ländlichen Raums vorankommen will. Und das ist ein Thema, das nicht auf der Tagesordnung steht.
Du sprichst darüber mit den Menschen, und niemand weiß, wie sehr Freihandelsabkommen und -verträge den Alltag der Menschen beeinflussen. Und wir können nicht anfangen, von einem souveränen Staat, von sozialer Gerechtigkeit, von einer anderen und alternativen Wirtschaft zu träumen, wenn wir ein supranationales Architektursystem haben, das vorschreibt, dass die Spielregeln neoliberal sind und dass der technologische Leviathan unseren Volkswirtschaften Spielregeln aufzwingt.
Ich denke, dass es wichtig ist, die Menschen für dieses Thema zu sensibilisieren, weil eine supranationale digitale Wirtschaft über unseren Köpfen entsteht, und wenn wir etwas tun wollen, wird es zu spät sein, falls es nicht schon zu spät ist, weil Technologieunternehmen eine vorher nie gesehene Macht haben.
Ich denke, dass es hier wichtig ist, erstens kein Freihandelsabkommen zu unterzeichnen, zweitens die Union und das lateinamerikanische Allianz der Völker und das Bewusstsein aller zu fördern und drittens den Cyberaktivismus als eine Form des sozialen Protests zu verstehen, der Grenzen überschreitet, damit wir uns zusammenschließen und Verbindungen knüpfen können, die uns zu neuen Formen des Widerstands in der Region führen können und uns in die Lage versetzt, um von all dieser lateinamerikanischen Abhängigkeit weg an andere Alternativen zu denken.
Zum Beispiel, neulich versagte WhatsApp und es schien, als wären wir alle abgeschnitten, als wären wir alle ohne Internet; aber nein, nur eine Plattform ist ausgefallen und das Problem ist, dass es sich um ein Monopol handelt. Und wenn wir verstehen, dass es andere Technologien gibt, dann ist es auch eine Form des Widerstands gegen Monopolisierung.
Sofia Scasserra ist assoziierte Forscherin beim Transnational Institute (TNI) in Amsterdam und spezialisiert auf digitale Wirtschaft, Arbeit und Entwicklung. Sie ist Forscherin am World Labor Institute der Universidad Nacional Tres de Febrero (UNTREF) in Argentinien. Außerdem ist sie Beraterin der internationalen Gewerkschaftsbewegung und des argentinischen Senats.
Das Gespräch führte Nelsy Lizarazo. Die Übersetzung aus dem Englischen wurde von Alina Kulik vom ehrenamtlichen Pressenza-Übersetzungsteam erstellt.
Das Interview wurde von pressenza - International Press Agency übernommen; Lizenz Creative Commons 4.0.:
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