Im Interview

Tarik Ali10.09.2021: Nach dem Anschlag auf das World Trade Centre in New York am 11. September 2001 eröffnete US-Präsident Bush den permanenten ″Krieg gegen Terror″. Das ″Costs of War″-Projekt der Brown Universität (USA) nimmt an, dass die Gesamtzahl der durch diese Kriege getöteten Menschen bereits Ende 2019 3,1 Millionen überstiegen hat, mehr als 37 Millionen Menschen wurden zu Flüchtlingen gemacht. Aber diese zwanzig Jahre sind nicht nur für die mit Krieg überzogenen Länder ″eine Katastrophengeschichte″, sondern auch für die USA und ihre europäischen Verbündeten, sagt Tarik Ali im Interview mit der Zeitung ″il manifesto″:

 

 

Zwanzig Jahre seit dem 11. September. Wie hat diese Zeit Ihrer Meinung nach unsere Welt neu definiert?

Es liegt auf der Hand, dass der Krieg gegen den Terrorismus mit dem Ziel geführt wurde, eine Welt in unter dem Einfluss der Vereinigten Staaten neu zu gestalten. Bush hat es gesagt, Condoleezza Rice hat es gesagt, der kürzlich verstorbene Kriegsverbrecher Donald Rumsfeld hat es gesagt... Sie haben das Wort Vorwand nicht benutzt, aber das Ereignis vom 11.9. war der Ausgangspunkt für eine Neuorientierung: Wir sind nicht nur hinter Bin Laden her, sondern wir wollen die Struktur dieser Länder verändern. Diese zwanzig Jahre sind also für die USA und ihre europäischen Verbündeten eine Katastrophengeschichte. Sechs verschiedene Kriege, Tausende von Milliarden Dollar ausgegeben, Millionen von Toten in der muslimischen Welt .. . Und eine politische und ideologische Niederlage für die Vereinigten Staaten und alle europäischen Führer, die diese Kriege unterstützt haben. Wir sollten ihr Ausmaß nicht unterschätzen. Seit zwanzig Jahren wird Afghanistan von den USA und der NATO besetzt und regiert. Das Ergebnis? Nichts. Sie haben Libyen zerstört, um Gaddafi loszuwerden, und heute wird Libyen von drei rechtsextremen dschihadistischen Gruppen regiert. Der Irak wird von Tag zu Tag fundamentalistischer und hat die soziale Infrastruktur, die unter Saddam bestand, nicht wieder aufgebaut. Syrien ist ein riesiges Chaos. Für den Westen war es ein ganzer Zyklus von Lektionen.

Daraus gelernt?

Nein. Niederlagen, Leid, Millionen Tote und Milliarden, die weggeworfen werden, und die USA fühlen sich immer noch als die dominierende Macht. Und die europäischen Länder hatten nichts Eigenständiges zu sagen, nur ein paar seltene, milde Kritiken. Nein, es ist keine gute Zeit für den Westen.

In "Clash of Fundamentalism" aus dem Jahr 2002 erzählen Sie von verschiedenen Fundamentalismen, und der erste ist der moderne Kapitalismus. Hat es seither eine Entwicklung gegeben? Ein Gewinner und ein Verlierer?

Kein Gewinner. Außer in Afghanistan, wo die Taliban gesiegt haben, und Al-Qaida, mit der die USA in Syrien und Libyen kollaborieren. Aber die USA sind sicherlich der Verlierer. Und man kann nicht sagen, dass die Menschen in der islamischen Welt irgendetwas gewonnen haben, sie leiden weiterhin unter den unterschiedlichsten Regimen wie in Syrien, Libyen, Jemen, Irak.
Das ist die wirkliche Geschichte, nicht das seit zwanzig Jahren in Afghanistan wiederholte "wir machen das gut". Die beste Afghanistan-Berichterstattung kommt nicht von CNN oder der BBC, sondern von Al Jazeera. Sie schicken Reporter ins Land, sie filmen, sie sprechen mit den Menschen, und so kann man sich ein Bild davon machen, warum gewöhnliche, nicht besonders fundamentalistische Menschen sich für die Taliban entschieden haben: weil die andere Seite die militärische Besetzung war.

Diese zwanzig Jahre "Demokratieexport" haben also nur dazu geführt, dass sich die Form unserer Demokratie verändert hat?

Ganz genau! Unsere Demokratie zu exportieren, war noch nie eine besonders gute Idee. Sie ist so sehr mit dem Großkapital verflochten, dass Banker und Politiker in Bezug auf Geld und dessen Verwendung kaum noch zu unterscheiden sind, und es ändert sich nicht viel, ob Mitte-Rechts oder Mitte-Links regiert. Italien und seine halbfaschistische Regierung sind eine kleine Ausnahme, aber im Gesamtbild gehen die Unterschiede gegen Null, ein Phänomen, das der Kapitalismus in zwei- oder dreihundert Jahren entwickelt hat. Es exportieren? Es konnte nicht funktionieren.

Auf der anderen Seite funktionierte eine verstärkte Kontrolle sehr gut.

Erinnern Sie sich an die Stasi? Horror, Millionen von Bürgern werden ausspioniert! Heute kann jedes westliche Land alle seine Bürger überwachen. Alle von ihnen.

Und Sie wissen das aus erster Hand: Ist die Special Branch [1] nicht schon seit Jahrzehnten hinter Ihnen her?

Der Untersuchungsausschuss der Regierung hat mir bereits sechs Kisten mit mich betreffenden Dokumenten schicken müssen, und das ist noch nicht alles. Eine sehr dumme Sache, man musste nur meine Artikel lesen und meine Reden hören. Es gibt einen Bericht aus den 1970er Jahren, in dem der verdeckte Ermittler schreibt, dass er mich bei einem Treffen an einer Hochschule "in intimem Kontakt" mit dem Vorsitzenden der Studentenvereinigung sah. Das war ein Mann! Das ist natürlich alles Schwindel, aber verstehen Sie das Niveau?

Und doch hatten wir keinen schlechten Anfang. Riesige Antikriegsdemonstrationen, die New York Times schrieb über die "zweite Supermacht der Welt"... Diese Zwanzigjährigen sind jetzt vierzig, einige von ihnen werden zur herrschende Klasse zählen. Was ist mit ihnen geschehen?

Die große weltweite Mobilisierung dauerte nur wenige Wochen. Als klar wurde, dass Regierungen, die in den Krieg ziehen, die Stimmen ihrer eigenen Bürger völlig ignorieren würden, gingen die Menschen nach Hause und sagten, das sei der Lauf der Welt. Die "Stop the War"-Bewegung ist nur noch in Großbritannien lebendig, wenn auch sicher nicht mehr in dem Umfang wie damals. Aber überall sonst ist sie zusammengebrochen. Viele Menschen sind demoralisiert und entpolitisiert, fühlen sich machtlos und gehen nach Hause. Wir zahlen noch heute dafür.

Haben wir Freiheit gegen Sicherheit eingetauscht, wie in Franklins berühmtem Unkenruf?

Die Art und Weise, in der der Westen die grundlegenden Menschenrechte für den so genannten Krieg gegen den Terror aufgegeben hat, ist schrecklich. In den meisten europäischen Ländern und in den USA, wo Obama noch weiter gegangen ist und dem Präsidenten das Recht eingeräumt hat, die Hinrichtung jedes amerikanischen Bürgers anzuordnen, der als Bedrohung angesehen wird, ist dies ein Rückfall in das Römische Reich. Dieser Krieg war für die politischen Rechte der westlichen Bürger sehr kostspielig. Und für welche Sicherheit? Anschläge in London, Frankreich, Spanien, Islamabad in Pakistan, Mumbay in Indien... Terroristische Anschläge haben zu- und nicht abgenommen.

Damals der Terrorismus, heute die Gesundheit, vielleicht bald der Klimawandel: Ist die Angst jetzt Teil unseres Lebens? Oder sind es unterschiedliche Ängste?

In dem Maße, wie die Demokratie schwindet, kann jede größere Krise genutzt werden, um mehr Kontrolle über das Leben der Bürger auszuüben. Das ist der Grund, warum so viele Menschen in Frankreich - meiner Meinung nach törichterweise - eine Bewegung gegen Impfstoffe und Sicherheitsverfahren ins Leben gerufen haben: Sie vertrauen ihrer Regierung nicht, sie vertrauen ihrem Staat nicht. In vielen Teilen der Welt wünscht sich ein großer Teil der Bevölkerung verzweifelt eine Impfung, arme und verzweifelte Menschen, die darum bitten, impft uns, wir wollen nicht so sterben. In Europa und den USA gibt es jedoch noch ein anderes Phänomen, das zu Mobilisierungen gegen Impfstoffe führt. Es ist ein Spiegel dessen, was in diesen Ländern im Hinblick auf den demokratischen Prozess geschieht. Und nach Covid wird die Angst vor den Auswirkungen des Klimawandels kommen, den keine Regierung in den Griff zu bekommen scheint. Denn es müssten globale und neuartige Pläne gemacht werden, und zwar in einem gigantischen Ausmaß.

 

Übernommen von il manifesto, 10.9.2021: Tariq Ali, «la storia di un disastro»
https://ilmanifesto.it/tariq-ali-la-storia-di-un-disastro/
eigene Übersetzung

Tarik Ali: Autor von Artikel im Guardian, im CounterPunch und in der New Left Review und gelegentlich in il manifesto; Bücher wie Clash of Fundamentalism (dt. Fundamentalismus im Kampf um die Weltordnung, 2002) , Bush in Babylon, The Obama Syndrome (das nächste kommt Ende des Monats heraus, die Parabel über Afghanistan in vierzig Jahren). 1947 in Lahore (Pakistan) geboren, organisierte er während seiner Studienzeit an der Punjab-Universität als Studentenrat öffentliche Demonstrationen gegen Pakistans Militärdiktatur. Von seiner prokommunistischen Familie aus den Händen der pakistanischen Militärdiktatoren befreit, emigrierte er nach London, wo er sich in der britischen Studentenbewegung engagierte und in der Bewegung gegen den Vietnamkrieg eine führende Rolle einnahm. Er zählte zu den Initiatoren des Weltsozialforums.

Anmerkungen:

[1] Vor kurzem hat eine britische Untersuchungskommission festgestellt, dass die Special Branch, eine Mischung aus Polizei und Geheimdiensten, ihn seit den 1960er Jahren ausspioniert hat. Als die Türme fielen, spionierte sie ihn immer noch aus.

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