25.11.2020: Die Stadt München verbietet, dass in städtischen Räumen über die BDS-Kampagne diskutiert wird. Doch mit diesem Verbot habe der Stadtrat unzulässig die Meinungsfreiheit eingeschränkt, hat nun der Bayerische Verwaltungsgerichtshof in einem am 19. November bekannt gegebenen Urteil festgestellt. kommunisten.de hat mit dem Kläger Klaus Ried gesprochen.
Vorgeschichte: Kritik an der israelischen Besatzungspolitik ist in München durch einen Stadtratsbeschluss empfindlich eingeschränkt worden. In seinem Beschluss vom Dezember 2017 hat der Stadtrat die gegen die israelische Besatzungspolitik gerichtete Kampagne "Boycott, Divestment, Sanctions" (BDS) als antisemitisch gebrandmarkt. Die Stadt München verbietet, dass in städtischen Räumen über die BDS-Kampagne diskutiert wird. Doch mit diesem Verbot habe der Stadtrat unzulässig die Meinungsfreiheit eingeschränkt, hat nun der Bayerische Verwaltungsgerichtshof in einem am 19. November bekannt gegebenen Urteil festgestellt.
Kläger ist der Münchner Klaus Ried. Er wollte 2018 Räume im Stadtmuseum mieten, um unter dem Titel "Wie sehr schränkt München die Meinungsfreiheit ein?" über jenen Beschluss zu diskutieren. Die Stadt lehnte ab, weil zu erwarten sei, dass über BDS gesprochen werde, dafür gebe es keine Räume.
kommunisten.de sprach mit Klaus Ried:
Frage: Der Bayerische Verwaltungsgerichtshof hat nun nach einem über zwei Jahre laufenden Verfahren sein Urteil gesprochen und die Stadt München dazu verpflichtet, für eine Diskussionsveranstaltung einen Raum zur Verfügung zu stellen. Wie kamst du als Privatmensch dazu, diesen ziemlich aufwändigen Prozess gegen die Stadt München zu führen?
Klaus Ried: Ich war mir mit einer Reihe von Bekannten – darunter Mitglieder der Jüdisch-palästinensischen Dialoggruppe – darin einig, es sei nicht hinzunehmen, dass wichtige Zeitzeugen immer wieder daran gehindert wurden, in München über Themen im Zusammenhang mit dem sogenannten Nahostkonflikt zu berichten, immer verknüpft mit dem Vorwurf, es handele sich um antisemitische Agitation. Beispielsweise wurde 2009 ein Vortrag des israelischen Politikwissenschaftlers Ilan Pappe im Pädagogischen Institut der Stadt München verhindert, indem die Stadt kurzfristig die vereinbarte Vermietung des Raums widerrief. Ähnlich erging es 2010 dem Politikwissenschaftler Norman Finkelstein aus den USA, für dessen geplante Vorträge ebenfalls kurzfristig der Saal im Amerikahaus gekündigt wurde. In städtischen Räumen wie z.B. im Gasteig und EineWeltHaus kam es zu den meisten Behinderungen. Sie stellten die Stadtverwaltung immer häufiger vor die schwierige Aufgabe, die Auftritte überwiegend israelischer oder jüdischer Autoren als antisemitisch zu verleumden und zu behindern.
Frage: Dann brachte eine Gruppe von Stadträten der CSU und SPD 2017 im Stadtrat einen Antrag ein und brachte den Stein ins Rollen.
Klaus Ried: Richtig! Dieser Antrag schien der Rathausspitze jedoch unzureichend, weshalb eine dem Oberbürgermeister unterstehende Fachstelle beauftragt wurde, einen beschlussreifen Antrag vorzubereiten, der dann im November dem Verwaltungsausschuss des Stadtrats zur Vorentscheidung vorgelegt wurde. Dort wurde er von fast allen Parteien pathetisch verteidigt und mit den wenigen Gegenstimmen von der Linken, der ÖDP und einigen Abweichlern bei den Grünen beschlossen. Die Vollversammlung des Stadtrats brauchte das nur noch absegnen. Damit war München deutschlandweit Vorreiter in einer Serie von kommunalen Behinderungen der Solidaritätsbewegung.
Frage: Was macht den undemokratischen Charakter dieses Beschlusses aus? Es wird ja behauptet, der Beschluss sei ein Beitrag gegen Antisemitismus.
Klaus Ried: Der Beschluss vom 13. Dezember 2017 ist zunächst einmal eine gigantische Heuchelei. Für die Auseinandersetzung mit antisemitischem Gedankengut liefert er keinerlei Beitrag, ist er geradezu kontraproduktiv. Er reiht sich vielmehr ein in die weltweite Strategie des israelischen Ministeriums für strategische Angelegenheiten gegen die zivilgesellschaftliche BDS-Bewegung (boycott, divestment, sanctions). Diese wird von weit über 100 palästinensischen Organisationen getragen und versucht, den Staat Israel mit friedlichen Mitteln zur Einhaltung der UN-Beschlüsse zum Palästina-Konflikt zu zwingen, wie z.B. zur Beendigung der Besatzung und die Beachtung der Menschenrechte.
Abgesehen davon ist der Beschluss für unsere Demokratie brandgefährlich. Er verfügt einen totalen städtischen Boykott aller Aktivitäten, die irgendwie mit dem sogenannten Nahostkonflikt zu tun haben: Ein Verbot von Raumvermietungen und Zuschüssen mit der Begründung, es könne ja immer auch über die BDS-Bewegung gesprochen werden. Das gilt selbst für Veranstaltungen, die sich neutral oder sogar ablehnend mit BDS befassen! Damit geht der Beschluss über alle vergleichbaren Restriktionen in anderen Kommunen hinaus.
Bei der großen Zahl städtischer Räume für die öffentliche Nutzung und bei der großen Zahl von Initiativen, die von der Förderung durch die Stadt abhängen, kommt das einem öffentlichen Maulkorb gleich. Die Wirkung beschränkt sich nicht nur auf alle kommunalen Bereiche, sondern unter anderem auch auf die Gastronomie, die den Beschluss als eine Art Kompass versteht und sich ihrerseits wiederholt weigerte, Veranstaltungsräume zu vermieten.
Aber der Stadtratsbeschluss ist nicht nur wegen der unmittelbaren Sanktionen eine massive Bedrohung des kulturellen Lebens in München. Eine Besonderheit ist auch seine geradezu fanatische Diktion. Der Beschlusstext ist in eine 11-seitige Rechtfertigung eingebettet, die in ihrer Willkür und Bösartigkeit alles in den Schatten stellt, was mir bisher in politischen Debatten untergekommen ist. Er schafft ein Klima der Verdächtigung und üblen Nachrede gegenüber allen Kritiker*innen der israelischen Besatzungspolitik. Der Vorwurf des "Antisemitismus" liegt gewissermaßen überall in der Luft. Insbesondere erschwert der Stadtratsbeschluss die öffentliche Diskussion über die laufenden und geplanten Annexionen in palästinensischen Gebieten und die Suche nach einem friedlichen Ausweg aus der Sackgasse, der von Palästinenser*innen und Israelis auszuhandeln wäre und der die Menschenrechte aller beachtet.
Die Unterdrückung einer freien Diskussion ist kein Beitrag zur Bekämpfung des Antisemitismus. Das genaue Gegenteil ist der Fall: Dogmen und Vorurteile können nicht durch Verweigerung einer Diskussion aufgelöst werden. Die amtliche Behinderung eines Meinungsaustauschs erweckt den Eindruck, es wirkten finstere Mächte, die eine demokratische Meinungsbildung verhindern wollen. Sie untergräbt die Grundpfeiler der Demokratie.
"Mit Hunderten von jüdischen und israelischen Gelehrten beobachte ich, wie das politische System in Deutschland rapide die freie Rede erodiert, wenn es um Israel und Palästina geht, und wie der öffentliche Diskurs in Diffamierung und Rufmord abgleitet."
Amos Goldberg, Professor an Hebräischen Universität Jerusalem und Spezialist für die Erforschung des Holocaust, in einem "Appell aus Israel an meine deutschen Freunde", 23.7.2019
https://www.fr.de/meinung/appell-meine-deutschen-freunde-12851166.amp.html
Frage: Wie kam es dann zu dem Konflikt, der zum Prozess führte?
Klaus Ried: Mit dem Stadtratsbeschluss war allen Personen und Gruppen, die sich jemals kritisch zur Politik Israels geäußert oder kritische Veranstaltungen organisiert hatten, der Zugang zu kommunalen Räumen versperrt. Ein Kreis Betroffener, der sich schon während der Beratungen im Stadtrat gebildet hatte, beriet, welche Möglichkeiten der Gegenwehr ergriffen werden können. Eine unmittelbare gerichtliche Überprüfung des Stadtratsbeschlusses erschien nicht praktikabel. Es blieb also nichts anderes übrig, als den Praxistest zu machen. Wir planten eine Podiumsdiskussion zum Thema "Wie sehr schränkt München die Meinungsfreiheit ein? - Der Stadtratsbeschluss vom 13.12.2017 und seine Folgen". Dazu wollten wir auch ein Mitglied des Stadtrats einladen, das den Beschluss verteidigte. Die Aktivengruppe beauftragte mich mit der Aufgabe, einen städtischen Saal anzumieten. Wie erwartet, wurde der Antrag auf Vermietung eines freien Saals unter Hinweis auf den Stadtratsbeschluss abgelehnt. Wir mussten vor Gericht ziehen.
Frage: Wie kann es denn zu dem von Dir behaupteten willkürlichen Beschluss kommen? Die Stadtverwaltung kann sich doch die Vorwürfe des Antisemitismus nicht aus den Fingern saugen?
Klaus Ried: Die besondere Schärfe ist sicherlich den engen Kontakten zwischen der Stadtverwaltung und der bekannt intoleranten Israelitischen Kultusgemeinde in München mit ihrer Vorsitzenden Charlotte Knobloch geschuldet. Aber all das wäre substanzlose Polemik, wäre da nicht die sogenannte "Arbeitsdefinition Antisemitismus" der IHRA (International Holocaust Remembrance Alliance). Nach mehrjährigen Meinungsverschiedenheiten zwischen den EU-Staaten wurde im Sommer 2016 in Bukarest unter undurchsichtigen Umständen von 10 der 27 EU-Staaten ein aus zwei Sätzen bestehender Text beschlossen, der seither als allgemein gültiger Maßstab zur Beurteilung von Antisemitismus gilt, auch für die Bundesregierung und den Bundestag. Er lautet (in der allgemein anerkannten deutschen Übersetzung): "Der Antisemitismus ist eine bestimmte Wahrnehmung von Juden, die sich als Hass gegenüber Juden ausdrücken kann. Der Antisemitismus richtet sich in Wort und Tat gegen jüdische oder nicht-jüdische Einzelpersonen und / oder deren Eigentum, sowie gegen jüdische Gemeindeinstitutionen oder religiöse Einrichtungen."
Die Pressemitteilung, mit der dieser Beschluss veröffentlicht wurde, enthielt dann noch Erläuterungen mit 11 Beispielen von Antisemitismus, die aber nicht Beschlusslage sind.
Dennoch wird im Stadtratsbeschluss der Eindruck erweckt, die Gesamtheit dieser Texte mitsamt Erläuterungen und Beispielen sei die international anerkannte Arbeitsdefinition Antisemitismus. Neben diesem formalen Makel ist aber noch viel schwerwiegender: Diese sogenannte Definition ist nicht nur äußerst unbestimmt, sondern auch unvollständig. Man sollte deshalb von einer Nicht-Definition sprechen. Ihre Schwammigkeit macht sie zum idealen Werkzeug der politischen Diffamierung. Ihre Installierung auf internationaler Ebene muss als genialer Schachzug gewertet werden. Der seit ihrer Veröffentlichung angerichtete politische Schaden ist inzwischen unübersehbar. Trump will ja nun die BDS-Bewegung auch in den USA verfolgen lassen. Was man bei entsprechend böswilliger Absicht daraus machen kann, wird auf 11 Seiten des Stadtratsbeschlusses durchdekliniert, und zwar in einer so stümperhaften Weise, dass alle Gesetze der Logik auf der Strecke bleiben. Zahlreiche Jurist*innen und Politikwissenschaftler*innen haben den Beschluss inzwischen abqualifiziert. Am bekanntesten ist das Gutachten des Dr. Peter Ullrich von der TU Berlin, das er 2019 im Auftrag der Rosa-Luxemburg-Stiftung erstellte und mit dem Ergebnis "kaum zur Anwendung geeignet" abschloss.
Das Entscheidende ist: Die Beliebigkeit dieser Nicht-Definition gibt einen – wenn auch dürftigen – Aufhänger für die Polemik gegen die BDS-Bewegung. Ohne sie hinge die hysterische Kampagne gegen die Solidaritätsbewegung mit Palästina wegen angeblichen Antisemitismus in der Luft.
Frage: Und wie sieht nun der Inhalt des Urteils aus?
Klaus Ried: Das Gericht hatte zwischen zwei Rechtsgütern abzuwägen: Einerseits dem Grundrecht auf freie Meinungsäußerung, das in unseren Breitengraden ohne Versammlungsraum kaum ausgeübt werden kann. Andererseits dem Selbstverwaltungsrecht der Kommunen, das in den Gemeindeordnungen gesetzlich festgelegt ist. Dabei handelt es sich um eine demokratische Errungenschaft, die das Bürgertum im 19. Jahrhundert gegen die Willkür des Adels und der Königshäuser durchsetzen konnte. Kommunen können auf dieser Rechtsgrundlage für die Bedürfnisse ihrer Bürger Einrichtungen wie Versammlungsräume zur Verfügung stellen und in eigener Verantwortung betreiben.
Die Frage war also, ob die Stadt München festlegen durfte, ein bestimmtes Thema – hier speziell die Befassung mit BDS – von der öffentlichen Debatte auszuschließen, indem sie ihre Räume für diesen Zweck sperrt.
Das Verwaltungsgericht München entschied diese Grundsatzfrage 2018 in erster Instanz zu Gunsten des kommunalen Selbstverwaltungsrechts und hielt das Grundrecht der Meinungsfreiheit für nicht tangiert, da wir die Diskussion auch in Räumen privater (aber teurer) Vermieter durchführen könnten. Sozusagen als Zugabe wurde die Möglichkeit der Berufung ausgeschlossen und musste in einem eigenen Rechtszug erst erstritten werden; ein Schritt, der zumeist abgeschmettert wird.
Frage: Der Bundestag hat doch auch in unrühmlicher Weise mitgemischt?
Klaus Ried: So ist es. Mitten in unser schwieriges Verfahren der Zulassung der Beschwerde (für die zweite Instanz) platzte im Mai 2019 die Maxi-Koalition im Bundestag mit ihrem Antrag "Der BDS-Bewegung entschlossen entgegen treten – Antisemitismus bekämpfen". Der Beschluss fordert zwar ebenso ein Raumverbot, richtet es aber wesentlich vorsichtiger als der Münchener Stadtrat gegen "Organisationen, die sich antisemitisch äußern oder das Existenzrecht Israels in Frage stellen".
BDS-Beschluss des Bundestages Am 17. Mai 2019 hat der Deutsche Bundestag den Antrag der großen Koalition, der Grünen und der FDP mit der Überschrift "Der BDS-Bewegung entschlossen entgegentreten – Antisemitismus bekämpfen" angenommen. Der Bundestag postuliert in seinem Beschluss pauschal, Argumentationsmuster und Methoden der BDS-Bewegung seien antisemitisch. Er verurteilt die BDS-Kampagne, denn es handele sich hier um "antisemitische Äußerungen und Übergriffe, die als vermeintliche Kritik an der Politik des Staates Israel formuliert werden". Er unterstellt, dass solche Kritik "tatsächlich aber Ausdruck des Hasses auf jüdische Menschen und ihre Religion" sei. "Im Kampf gegen Antisemitismus hilft das nicht", erklärten 16 Nahost-Expert*innen in einer gemeinsamen Stellungnahme. Angesichts der bundesdeutschen Realität wäre eine andere Stoßrichtung zielführender im Kampf gegen Antisemitismus gewesen, heißt es. "Antisemitische Straftaten verzeichneten in den vergangenen Jahren deutlichen Zuwachs und gehen ganz überwiegend auf das Konto von Rechtsextremen. Dagegen ist BDS hierzulande nach Einschätzung des Unabhängigen Expertenkreis Antisemitismus eine zu vernachlässigende Größe." Aufruf von 240 Jüdischen und Israelischen Wissenschaftlern an die Bundesregierung zu BDS und Antisemitismus "… Gerade auf Grund seiner Geschichte sollte Deutschland bezüglich eines Rückzugs von diesen demokratischen Grundnormen sehr vorsichtig sein. Abschließend ist festzustellen, dass die Vermischung von BDS und Antisemitismus den dringenden Kampf gegen Antisemitismus nicht fördert. Die antisemitische Bedrohung geht nicht von palästinensischen Menschenrechtsaktivisten aus, sondern vor allem von der extremen Rechten und von dschihadistischen Gruppen. Die Leugnung dieser Tatsache könnte Muslime und Araber dem bedeutenden Kampf gegen Antisemitismus entfremden und behindert die Herausbildung echter Solidarität zwischen Juden, Israelis, Muslimen und Arabern im Kampf gegen Antisemitismus und andere Formen von Rassismus. Sie sendet auch eine falsche Botschaft an diejenigen, die sich der Unterdrückung des palästinensischen Volkes mit gewaltfreien Mitteln widersetzen. |
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siehe auch kommunisten.de: |
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Der Verwaltungsgerichtshof konnte sich die Entscheidung mit Rücksicht auf sein Ansehen nicht so leicht machen. Im grundsätzlichen Teil seines Urteils entschied er unmissverständlich und gegen den politischen Mainstream: "Eine Gemeinde ist nicht befugt, Bewerbern allein wegen zu erwartender unerwünschter Meinungsäußerungen den Zugang zu ihren öffentlichen Einrichtungen zu verwehren." Und an anderer Stelle: "Für die von der Beklagten [Stadt München] vorgenommene Differenzierung zwischen Veranstaltungen, die sich mit den Inhalten, Themen und Zielen der BDS-Kampagne befassen, und allen sonstigen politischen Veranstaltungen fehlt ein verfassungsrechtlich tragfähiger Grund."
Und schließlich: "Eine solche Ungleichbehandlung der Einrichtungsbenutzer stellt einen schwerwiegenden Verfassungsverstoß dar, weil sie sich in einseitig benachteiligender Weise auf die Ausübung der grundgesetzlich geschützten Meinungsfreiheit auswirkt."
Der Verwaltungsgerichtshof hat damit das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung in einem aktuellen Fall gestärkt, nachdem die erste wegweisende Auslegung dieses Grundrechts im sogenannten Lüth-Urteil (1958) durch das Bundesverfassungsgericht schon eine Weile zurückliegt.
"... Es ist dem Gericht hoch anzurechnen, dass es der Versuchung widerstanden hat, sich dem politischen Mainstream anzupassen. Bekanntlich hat der Deutsche Bundestag am 17. Mai 2019 einen gemeinsamen Antrag von CDU/CSU, SPD, FDP und Bündnis 90/Die Grünen mit dem Titel 'BDS-Bewegung entschlossen entgegentreten – Antisemitismus bekämpfen' angenommen. Länder, Städte und Gemeinden sowie alle öffentlichen Akteure wurden aufgerufen, sich dieser Haltung anzuschließen. Bereits im Vorfeld hatten zahlreiche Städte beschlossen, der BDS-Kampagne jede finanzielle Unterstützung zu entziehen und die Vergabe von kommunalen Räumen zu verweigern. In dieser politisch aufgeladenen Situation bedarf es eines hohen Maßes an richterlicher Unabhängigkeit, sich sachfremden Einflüssen zu entziehen. Das 'Ried-Urteil' zeigt, dass sich der VGH streng am Recht orientiert hat. Damit hat er das Grundrecht auf freie Meinungsäußerung entscheidend gestärkt. Insofern ist das Urteil wegweisend für andere anstehende Verfahren. ... " Peter Vonnahme Richter am Bayerischen Verwaltungsgerichtshof i. R. https://www.heise.de/tp/features/Ein-Meilenstein-fuer-die-Meinungsfreiheit-4967833.html |
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Der Stadtratsbeschluss wird zwar im Urteil als "mit höherrangigem Recht nicht vereinbar und daher unwirksam" bezeichnet, ist deswegen aber noch nicht aufgehoben. Dies müsste der Stadtrat selbst tun.
So erfreulich das Urteil im grundsätzlichen Teil ist, so enttäuschend ist es in den praktischen Auswirkungen. Anstatt uns das Recht auf die Nutzung mehrerer geeigneter Räume zuzubilligen, verpflichtet es die Stadt nur dazu, für die geplante Veranstaltung einen bestimmten Saal zur Verfügung zu stellen, der am Stadtrand an der Endhaltestelle einer U-Bahn liegt, obwohl im Verfahren auch andere Räume beansprucht worden waren.
"Im Übrigen wird die Klage zurückgewiesen." Damit müssen wir uns die Vermietung für weitere Veranstaltungen und den Zugang zu anderen Räumen, die zentraler liegen, erneut erstreiten. Unter Verweis auf das erstrittene Urteil dürfte das zwar einfacher sein, aber es ist wieder mit viel Arbeit verbunden.
Frage: Oberbürgermeister Dieter Reiter hat ja sofort nach der Bekanntgabe des Urteils verkündet, es durch Revision beim Bundesverwaltungsgericht in Leipzig anfechten zu wollen. Was hältst du davon?
Klaus Ried: Nach allen mir bisher bekannten Einschätzungen von Jurist*innen wird er damit nicht durchkommen. Freund*innen in anderen Bundesländern hoffen sogar darauf, dass der Oberbürgermeister in Revision gehen wird. Sie hoffen auf das Urteil des obersten deutschen Verwaltungsgerichts, das ihnen auch in ihrem Bundesland Rechtssicherheit verschafft. Aber das würde für uns natürlich weitere Arbeit und bis zu zwei Jahre weitere Rechtsunsicherheit bedeuten, von der Lähmung der politischen Arbeit ganz abgesehen.
Die Fragen stellte Leo Mayer
Foto: Kampf der Ideen