Im Interview

Kerem mit FotoapparatInterview mit Kerem Schamberger über Rojava als konkrete Utopie und einen neuen Internationalismus   

Frage: Der türkische Einmarsch in Rojava hat nicht nur eine in den letzten Jahren weitgehend friedliche Region zurück ins Chaos gestürzt, er bedroht auch eine neue, progressive Form partizipativer Demokratie. Was wurde in Rojava erreicht und was ist nun in Gefahr?

 

Kerem: Mit Rojava ist eine konkrete Utopie in Gefahr, die in den letzten Jahren unter größten Anstrengungen und Opfern im Nahen Osten realisiert wurde. In Rojava ist eine neue Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens jenseits von Patriarchat, Kapitalismus und Nationalismus entstanden. Diese konkrete Utopie wird vom türkischen Einmarsch im vergangenen Oktober bedroht, weil die Menschen, die versuchen diese Utopie zu realisieren, durch türkische Bombenangriffe und Bodentruppen vertrieben wurden und neue Machtstrukturen in den Gebieten, die seitdem von der Türkei besetzt sind, etabliert worden sind. Dort herrschen nun islamistische Kampfverbände und türkische Besatzungssoldaten. Ganz konkret in Gefahr ist auch eine wirkliche Frauenrevolution, die Befreiung der Frau aus fünftausend Jahren Patriarchat. Das ist dort natürlich nicht alles vollkommen perfekt und vollständig umgesetzt, es gibt viele Probleme und Rückschläge. Aber in den Gebieten, in denen die demokratischen Selbstverwaltungsstrukturen von Rojava sich etabliert haben, gab es immer größer werdende Bereiche, in denen Frauen relativ frei sein und über ihr eigenes Leben und ihr eigenes Schicksal bestimmen und entscheiden können. Gleichzeitig ist auch eine neue Form von Demokratie, eine Art Rätedemokratie von unten bedroht.

Frage: Rojava steht für einen alternativen Gesellschaftsentwurf, der die Themen Demokratie, Feminismus und Ökologie miteinander verbindet. Warum ist es so wichtig, dass diese Themen zusammenkommen, und was kann die progressive Linke aus Rojava lernen?

Kerem: Als alternativer Gesellschaftsentwurf macht Rojava deutlich, dass keine der Hauptfragen, also Kapital und Arbeit, Feminismus und Ökologie gegeneinander diskutiert werden können und das man nicht sagen kann, wir machen Revolution, lösen das widersprüchliche Verhältnis von Kapital und Arbeit auf und dann beschäftigen wir uns später mit Frauen und LGBTIQ-Fragen und noch später dann mit einer ökologischen Lebensweise. All diese Fragen, so schwierig und komplex sie auch sind, müssen gleichzeitig gedacht und angegangen werden, weil nur so eine wirkliche Emanzipation auf gesamtgesellschaftlicher Ebene möglich ist. Genau das können wir als Linke in Europa von Rojava lernen. Wir dürfen keine dieser Fragen hintenanstellen, sondern müssen alles in einer gesamtheitlichen Weise angehen. Genau das passiert in Rojava.

Zum Beispiel gibt es in Qamishlo auch eine Fridays For Future-Gruppe, die sich den globalen Protesten gegen die Klimakatastrophe angeschlossen hat. Es gibt große Bewegungen der Solidarität mit Geflüchteten, die in der Region leben und untergebracht werden müssen. Was wir davon lernen können, ist, dass diese Kämpfe nicht auseinander divergiert werden dürfen, sondern immer gemeinsam gedacht werden müssen. Fragen der Migration sind auch Folgen der Klimakrise, die Klimakrise ist eine Folge des Kapitalismus. Von dieser Herangehensweise der Menschen und der kurdischen Freiheitsbewegung dort vor Ort, können wir uns eine Scheibe abschneiden. Wir sind oft zu sehr in unseren Einzelkämpfen gefangen, ohne diese zu verbinden. Es gibt zwar Hoffnung machende Initiativen in der Klimagerechtigkeitsbewegung wie Ende Gelände, aber das müsste noch viel breiter und viel öfter so sein.

Frage: Steht Rojava für einen neuen Internationalismus? Eine neue Bewegung der transnationalen Solidarität der Vielen, die den Rahmen des Nationalstaats hinter sich lässt?

Kerem: Rojava steht für einen neuen, nicht mehr paternalistischen Internationalismus, wie er in den 1960er, 1970er und 1980er Jahre teilweise praktiziert wurde. Damals ging es oft darum, „wir im Westen“ zeigen uns mit euch im globalen Süden solidarisch und ihr könnt von uns lernen. Jetzt können wir als Linke in Europa von Rojava lernen, wie man gesellschaftliche Emanzipationsprojekte organisieren und am Leben erhalten kann und dabei auch die Grenzen des Nationalstaats überwunden werden können. Das ist ja das besondere an der kurdischen Freiheitsbewegung, dass sie eben nicht mit dem Ziel eines wie auch immer gearteten kurdischen Nationalstaats antritt, sondern sagt, wir müssen den Nationalstaat als Produkt in der Entwicklung des Kapitalismus im 19. Jahrhundert auffassen. Die nationalstaatliche Entwicklung im Nahen und Mittleren Osten, aber auch in Europa, ist immer auch mit Genozid, mit massiver Bevölkerungsvertreibung und Zwangsassimilation einhergegangen. Die Entstehungsgeschichte der Türkei ist dafür ein gutes Beispiel. Dort wurden Armenier*innen, Griech*innen und Kurd*innen vertrieben und ermordet.

Der neue Internationalismus basiert nicht mehr auf der Solidarität mit irgendwelchen Nationalstaaten, sondern mit den Basisbewegungen, die von unten versuchen, die Gesellschaft zu verändern. Das sieht man auch daran, dass sich in Rojava nicht nur Kurd*innen und Araber*innen aufhalten, sondern viele Internationalist*innen aus der ganzen Welt. Das sind Menschen aus Lateinamerika, aus Europa, aus asiatischen Ländern, die sich politisch oder auch militärisch an dem Aufbau und der Verteidigung der Revolution dort beteiligen. Manche haben das mit dem Spanischen Bürgerkrieg und den Interbrigaden von 1936 bis 1939 verglichen. Damals sind tausende Menschen dorthin gegangen, um die spanische Republik zu verteidigen und jetzt gehen Menschen nach Rojava, nicht um einen Nationalstaat oder eine Regierung zu verteidigen, sondern eine Basisbewegung von unten beim Aufbau zu unterstützen. Das größte Opfer, das dabei gebracht werden kann, ist es, dafür sein Leben zu geben. Mehrere Dutzend Internationalist*innen in den Reihen der kurdischen Selbstverteidigungseinheiten sind im Kampf gegen den IS und die türkische Invasion ums Leben gekommen.

Frage: Welche Verantwortung tragen wir in Europa, um Rojava zu unterstützen? Wie müsste eine solidarische europäische Perspektive auf Rojava aussehen?

Kerem: Wir tragen eine große Verantwortung, Rojava zu unterstützen – aber im Sinne eines neuen Internationalismus. Nicht indem wir von außen kommen und fragen, was können wir ihnen mitgeben und sie dafür zu kritisieren, dass sie nicht die Reinheit der Lehre vertreten, sondern indem wir von den Freund*innen vor Ort lernen, wie dort ein emanzipatorischer Gesellschaftsaufbau organisiert wird und was wir daraus in unsere Kämpfe in Europa übertragen können. Wenn wir dafür sorgen, dass es in Europa progressive Linksregierungen gibt, die den engen Kuschelkurs mit der türkischen Autokratie beenden oder einschränken, dann würde das Rojava Luft geben, sich weiter zu entwickeln und nicht einer beständigen Bedrohung ausgesetzt zu sein.

Die Verantwortung, die wir in Europa tragen, ist auch deshalb so groß, weil die Türkei den Krieg vor Ort mit europäischen Waffen führt. Ein konkreter erster Schritt, der auch von Parteien wie der SPD angegangen werden könnte, ist ein absoluter Waffenexportstop für die Türkei und erweiterte Sanktionen, die die Führungselite des AKP-Regimes und nicht die Bevölkerung betreffen. Solche Punkte könnten auch in der jetzigen Situation schon angegangen werden.

Frage: Auch gegen Dich ermittelte bereits die deutsche Justiz wegen deiner Solidarität mit der kurdischen Bewegung. Was können wir der Kriminalisierung der Solidaritätsbewegung entgegenstellen?

Kerem: In den letzten fünf Jahren seit dem IS-Angriff auf Kobane ist die Solidaritätbewegung weltweit immens gewachsen; zehntausende Menschen sind gegen den türkischen Angriffskrieg auf die Straße gegangen. Was wir der Kriminalisierung entgegenstellen können, ist, dass wir uns massenhaft solidarisch zeigen, so wie bei den Protesten gegen den G20-Gipfel in Hamburg, als fünftausend Wimpel mit YPG/YPJ-Logo verteilt wurden. Die Polizei war nicht in der Lage, fünftausend Anzeigen zu schreiben. Das Gleiche erleben wir auch im Internet, wenn tausende Menschen das Logo der Volks- oder Frauenverteidigungseinheit in den sozialen Netzwerken teilen. Das macht deutlich, dass viele Menschen solidarisch hinter denen stehen, die den IS unter größten Opfern besiegt haben und eine neue demokratische Gesellschaft aufbauen. Das ist auch ein kollektiver Akt des zivilen Ungehorsams, von dem wir in den gesellschaftlichen Kämpfen hierzulande noch viel mehr brauchen.

Was wir erleben, sind breite gesellschaftliche Solidaritätsbündnisse, die von sozialen Bewegungen und Initiativen von unten getragen werden und bisher, so auch in Deutschland, keinen Ausdruck innerhalb von Parteien finden. Viele Sozialdemokrat*innen, viele Grüne stehen solidarisch an der Seite der Entwicklung in Nordsyrien, aber die Parteien äußern sich nicht dazu, weil sie Angst haben, unter dem Damoklesschwert des Terrorvorwurfes oder des Vorwurfs der Sympathie mit Terrororganisationen zu stehen. Hier muss innerhalb der Parteien noch einmal ein Umdenken stattfinden, wer denn die wirklichen Partner im Nahen und Mittleren Osten sind. Sind dies Regime wie Saudi-Arabien oder wie die türkische Regierung in Ankara oder ist es eine Bewegung, die für Demokratie, Feminismus und Ökologie einsteht?

Dieser Artikel ist in der ISM-Broschüre "Die Politik der Vielen" erschienen.
https://www.solidarische-moderne.de/de/article/585.die-politik-der-vielen.html

 

zur Person:
Kerem Schamberger ist Kommunikationswissenschaftler und politischer Aktivist im Verein marxistische linke und im Vorstand des Institut Solidarische Moderne ISM. Außerdem ist er im Vorstand des Instituts für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung (isw). Sein Forschungsschwerpunkt ist Kurdistan, Türkei und der Nahe Osten.

 

Farkha Festival Komitee ruft zu Spenden für die Solidaritätsarbeit in Gaza auf

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zum Text hier
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