25.01.2013: Ein Gespräch mit Arsene Schmitt, Präsident des Comité de Défense des Travailleurs Frontaliers de la Moselle, der Grenzgänger-Vereinigung in Lothringen. Nach Schätzungen von INSEE, der französischen Behörde für Statistik, gibt es ca. 99.000 Grenzgänger in Lothringen. Täglich überqueren sie die Grenze. Nicht umsonst nennt man sie die „Eltern der europäischen Politik“, Sommer wie Winter fahren sie zur Arbeit „ins benachbarte Ausland“: 19.100 pendeln nach Deutschland: ins Saarland 6.500 Deutsche, die in der Lothringer Grenzregion wohnen, und 12.600 Französinnen und Franzosen, davon 5.000 Mini-Jobber. Nach Rheinland-Pfalz arbeitstäglich 1.000 Deutsche und 3.800 französische Staatsbürger. Seit 2008 ist die Zahl der Lothringer, die in Deutschland arbeiten, um etwa 10 % gesunken. Der Großteil der Pendler- etwa 71.000 - arbeitet in Luxemburg, und etwa 3000 in Belgien.
Frage: Arsene, wie feiert Ihr von den Transfrontaliers den 50. Jahrestag des Deutsch-Französischen Vertrags?
Arsene: Wie könnten wir feiern, wenn zu unseren „permanences“, unseren Sprechstunden, die wir in mehreren Städten der Region regelmäßig abhalten, die Schlange wartender Ratsuchender bis auf die Straße reicht? Krankheit, Arbeitslosigkeit, Rente – die Tücken bürokratischer Vorschriften sind in beiden Sprachen schwer zu umschiffen. Dazu arbeiten wir mit der Arbeitskammer des Saarlandes, der AOK und den Gewerkschaften eng und solidarisch zusammen.
Wie könnten wir feiern, wenn allein 3.000 von unseren 10.500 Mitgliedern Klagen wegen doppelter Versteuerung ihrer Renten bei deutschen Gerichten anhängig haben. Hier,bitte, ein Beispiel von vielen, ein Pfändungsbeschluss über 483 € Steuernachzahlung rückwirkend seit 2005.
Frage: Das heißt, Euer Kampf gegen Diskriminierung auf beiden Seiten der Grenze, positiv ausgedrückt, Euer Bemühen, Ungleichbehandlungen abzubauen, wurde nicht leichter?
Arsene: Nun, unabhängig davon, dass durch das »Europa von Ob en, das großkapitalistische Europa“ soziale Rechte mehr und mehr abgebaut werden, haben wir natürlich im Laufe der letzten Jahrzehnte erreicht, eine Reihe von Ungerechtigkeiten ausräumen zu helfen. Wir haben, wenn ich eine große Schlacht herausgreife, die damalige Regierungunter Präsident Mitterand durch zahlreiche Aktionen, Demonstrationen bis zum Aufruf (und Organisierung) eines Steuerboykotts „veranlasst“, die 1993 in Frankreich eingeführte Sondersteuer CSG und CRDS zugunsten der Krankenversicherung bis zur Entscheidung des Europäischen Gerichtshofs einzufrieren und nach der Entscheidung am 15.2.2000 für die Grenzgänger abzuschaffen. Denn die Grenzgänger sind alle im „Zielland“, in dem sie arbeiten, krankenversichert und nicht im „Herkunftsland“. Das war ein großer Erfolg für unsere kleine Organisation - immerhin 8 % des monatlichen Lohns bzw. Gehalts gerettet. Eine ähnliche Ungerechtigkeit existiert heute mit der deutschen Pflegeversicherung, die man zahlt ohne Anspruch auf Leistungen zu haben, weil man ja in Frankreich wohnt.
Frage: Du hast gerade von doppelter Versteuerung der Renten gesprochen. Ist das nicht durch das Doppelbesteuerungs-Abkommen zwischen Deutschland und Frankreich ausgeschlossen?
Arsene: Nein, deutsche Renten werden seit 2005 in Deutschland zur Einkommenssteuer herangezogen, rückwirkend – was für viele Rentner eine Katastrophe bedeutet. Das Finanzamt Neubrandenburg hat einfach 80 % der Rentner als beschränkt steuerpflichtig veranlagt und zur Steuernachzahlung verdonnert, daher die vielen Klagen.In den jährlichen Informationen der Deutschen Rentenversicherung war zwar auf de Rückseite was zur Versteuerung vermerkt, aber weil die Beschäftigten ihre Einkommenssteuer in Frankreich bezahlten, gingen sie davon aus, dass diese Information nicht für sie gelte – abgesehen davon, dass das Beamten-Kauderwelsch selbst für Deutsche kaum verständlich ist. Oder kennst Du den Unterschied zwischen „beschränkt und unbeschränkt steuerpflichtig“?
Frage: Nein, aber …
Arsene: Wir haben durch unsere Aktionen Druck gemacht - unterstützt von den Gewerkschaften, IG Metall und DGB Saar möchte ich besonders erwähnen –u.a. durch eine Groß-Demonstration 2011 vor dem Europäischen Parlament, durch Gespräche mit Abgeordneten, u.a. mit Celeste Lett (UMP) und (dem nunmehrigen Umweltminister) PeterAltmeier (CDU), die sich für uns einsetzten. Finanzminister Schäuble hat mir letztes Jahr am Telefon persönlich versichert, dass er sich aufgeschlossen zeige. Und nach dem Gespräch im Bundesfinanzministerium in Berlin letzten Monat scheint der Bann gebrochen. Allerdings müsste Paris der deutschen Seite einen Ausgleich für die entgangene Steuer bieten, was aber noch zu verhandeln ist.
Frage: Der 50. Jahrestag des Elysee-Vertrags wäre eine gute Gelegenheit für die Regierungen auf beiden Seiten, guten Willen zu zeigen ?
Arsene: Ja. Wir haben hochgerechnet, dass die deutsche Seite nicht von 80 % Steuerpflichtigen ausgehen könne. Der Ausgleich müsste etwa der Höhe des „credit impot“, des französischen Steuernachlasses, entsprechen - an acht bis neun Millionen Euro Ausgleichszahlung sollte dies nicht scheitern, jetzt ist die Regierung Ayrault gefordert. Und wir bleiben am Ball…
Außerdem: Die deutsche Seite könnte auch in einem anderen Fall „guten Willen zeigen“, was wir schon vor zehn Jahren zum 40. Jahrestag angemahnt hatten, nämlich, dass endlich die Gutachten des medizinischen Dienstes der französischen Rentenversicherung von deutscher Seite anerkannt werden (wie umgekehrt) zum Beispiel wie die Abiturzeugnisse oder Hochschuldiplome. Es darf nicht weiter angehen, dass Beziehern einer (oftmals geringen) französischen Invalidenrente der deutsche (oftmals größere) Rentenanteil vorenthalten wird, weil der deutsche Vertrauensarzt ihn oder sie trotz anerkannter Gebrechen dennoch arbeitsfähig schreibt, z.B. „einige Stunden an einer Kinokasse zu sitzen“ und so in die Armut stürzt, wie wir aus unseren Sprechstunden wissen.
Frage: Das ist ja schier unglaublich, solch einen Skandal prangert Ihr über 10 Jahre an?
Arsene: Nicht wahr – es wird höchste Zeit. Und eine solche Bezeugung „guten Willens“ würde wenigstens die schlimmsten Auswüchse einer jahrzehntelangen Benachteiligung der Grenzgänger beenden. Dass so etwas möglich ist, zeigt das Beispiel der Europäischen Kommission, die nach langem Bohren (Demonstrationen eingeschlossen) eine Regelung gefunden hat, die „Aussteuerung“ von über 18 Monate Krankgeschriebenen über die Arbeitslosenversicherung abzufedern.
Georges Hallermayer: Vielen Dank für das Gespräch und weiterhin viel Erfolg!
Interview/Foto: Georges Hallermayer