15.11.2012: Die UZ sprach mit Songül Turhal vom Kurdischen Frauenbüro für Frieden e. V. (Cenî)
UZ: In der Türkei befinden sich 10 000 kurdische politische und Kriegsgefangene im Hungerstreik, einige Dutzend seit dem 12. September, dem Jahrestag des Militärputsches 1980. Worum geht es ihnen, was hat der Streik mit dem Putsch zu tun?
Songül Turhal: Am 12. September traten 63 Gefangene aus der PKK und der PAJK in den Hungerstreik. Sie fordern die Aufhebung der Isolationshaft gegen Abdullah Öcalan, die Gewährleistung seiner Gesundheit sowie die Anerkennung der kurdischen Sprache – einschließlich des Rechts auf Bildung in der Muttersprache – und die Aufhebung der Assimilationspolitik gegen KurdInnen. Das sind Schlüsselfragen für die politische Lösung der kurdischen Frage sowie einen Demokratisierungsprozess in der Türkei.
Der Putsch von 1980 steht in der Türkei für die faschistische Verfassung, den Ausnahmezustand, willkürliche Verhaftungen, Hinrichtungen und Folter. Die AKP war mit anderen Versprechungen angetreten, aber sie hat in ihrer 10-jährigen Regierungszeit an der Verleugnungs- und Vernichtungspolitik gegen die KurdInnen und progressive Kräfte festgehalten. Wie zu Zeiten des Militärputschs finden Razzien, Massenverhaftungen und Massaker statt. Die Gefängnisse sind überbelegt. Jedoch geht es den Gefangenen nicht um Hafterleichterungen. Sie erheben politische Forderungen, die sie auch draußen vertreten haben und aufgrund derer sie inhaftiert wurden.
UZ: Der Hungerstreik ist die letzte Waffe der Gefangenen. Er zielt auf eine Lösung im kurdischen Befreiungskampf. Wie bewertet ihr das?
Songül Turhal: Die Aufhebung der Totalisolation gegen Abdullah Öcalan, die seit dem 28. Juli 2011 (!) verschärft praktiziert wird, wäre ein wichtiges Signal. Jedoch lautet die eigentliche Forderung des Hungerstreiks „Freiheit für Öcalan!“
Mit dieser Forderung stehen die Gefangenen nicht allein. Seit Beginn 2012 haben KurdInnen in allen Teilen Kurdistans und in der Diaspora unter der Losung „Freiheit für Öcalan“ Mobilisierungen durchgeführt. Denn ohne Freiheit für Öcalan ist eine politische Lösung der kurdischen Frage nicht möglich.
Millionen KurdInnen vertrauen Öcalan als ihrem legitimen Repräsentanten. Obwohl eine Delegation des Staates mit Öcalan den Dialog suchte und im Juli 2011 notwendige Schritte für einen Friedensprozess erstellt wurden, brach die AKP-Regierung den Dialog ab und antwortete mit neuen Repressionen und Militäroperationen. Es müssen Bedingungen geschaffen werden, die den Weg zum Dialog und zu einer politischen Lösung öffnen.
UZ: Wie ist der Gesundheitszustand der Gefangenen, droht ihnen Zwangsernährung?
Songül Turhal: Die erste Gruppe ist seit über 60 Tagen im Hungerstreik. Spätestens mit dem 50. Tag beginnen irreparable gesundheitliche Schäden. Angehörige und Menschenrechtsorganisationen berichten, dass viele körperlich sehr geschwächt sind.
Zu Zwangsernährung kam es bislang nicht, jedoch sind die Hungerstreikenden mit Schikanen, psychischer und physischer Folter konfrontiert. Hungerstreikende wurden in Isolationszellen gesteckt, misshandelt und entwürdigt.
UZ: Es gibt bittere Erfahrungen in der Türkei. Bei dem sogenannten Todesfasten politischer Gefangener vor einem Jahrzehnt starben über 130 Gefangene. Es wurde nur eine geringfügige Verbesserung der Haftbedingungen durchgesetzt. Warum sollte der türkische Staat heute anders reagieren?
Songül Turhal: Die Hungerstreikenden haben sich zu dieser Form des Widerstands entschlossen, obwohl sie die menschenverachtende Haltung der AKP-Regierung kennen.
Äußerungen türkischer Regierungspolitiker waren: „Wir warten bis die Gefangenen bewusstlos sind, dann greifen wir ein.“ Über die Medien wurden Falschinformationen gestreut. Es hieß, der Hungerstreik sei abgebrochen und Erdogan erklärte gegenüber Merkel, „Bei uns hungert niemand“, während zugleich der Justizminister seiner deutschen Amtskollegin gegenüber zugeben musste, dass sich 683 Gefangene in 66 Gefängnissen im Hungerstreik befinden.
Deshalb ist es wichtig, dass andere Akteure die türkische Regierung zu einer Änderung ihrer Politik bewegen. Der Gefangenensprecher Deniz Kaya hat am 5. November den Hungerstreik als einen „Appell an das Gewissen“ bezeichnet.
Er sagte: „Als inhaftierte FreiheitskämpferInnen wollen wir erreichen, dass durch unseren Hungerstreik unsere Forderungen nach den grundlegendsten Menschenrechten sowie unsere legitimen Forderungen nach sozialen und politischen Rechten in der ganzen Welt gehört werden.“ Außerdem ist es wichtig, den politischen Kontext, innerhalb dessen dieser Kampf stattfindet, zu beleuchten. Die weltweite Systemkrise und die Situation im Nahen Osten, insbesondere in Syrien, verdeutlichen, dass wir uns in einer Umbruchphase befinden.
Der Gefängniswiderstand findet in einer Zeit statt, in der in vielen Städten Westkurdistans (auf syrischem Territorium) de facto eine Selbstverwaltung der Bevölkerung als Alternative zum Staat in Kraft getreten ist. In Nordkurdistan hat der Aufbau von Selbstverwaltungsstrukturen bereits 2005 begonnen.
Die kurdischen Volksverteidigungskräfte haben im letzten Jahr erfolgreiche Aktionen gegen Militärstationen und Ziele wie Ölpipelines durchgeführt und kontrollieren weite Gebiete. Das heißt, es wurde mit der Entkolonialisierung des Landes begonnen, während zugleich neue Strukturen für eine demokratische, ökologische und geschlechterbefreite Gesellschaft aufgebaut werden.
UZ: Sind es nur kurdische politische Gefangene oder streiken aus Solidarität auch andere Gefangene? Gibt es Solidarität außerhalb der Gefängnisse?
Songül Turhal: Der Hungerstreik wurde zunächst von Gefangenen aus der PAJK und der PKK begonnen. Später schlossen sich andere kurdische Gefangene an. Politische Gefangene aus der türkischen Linken haben den Hungerstreik bislang mit befristeten Solidaritätshungerstreiks unterstützt. Am 12. November schlossen sich vier Gefangene der MLKP dem unbefristeten Hungerstreik an.
Jeden Tag gibt es in Dutzenden von Städten Kundgebungen und Demonstrationen. Trotz Verboten, brutalen Angriffen der Polizei und über 600 Festnahmen geht die Mobilisierung weiter. Neben der BDP, Angehörigen-, Frauen- und Menschenrechtsorganisationen beteiligen sich Gewerkschaften und demokratische und linke Organisationen. Am 60. Tag schlossen sich sieben Parlamentsabgeordnete der BDP, der Bürgermeister von Diyarbakir und 14 Ratsmitglieder des Demokratischen Gesellschaftskongresses dem Hungerstreik an. Intellektuelle und Künstler wie Zülfü Livaneli, Sezen Aksu und Yasar Kemal appellierten an die Regierung, den Forderungen Gehör zu schenken.
UZ: Wie kann der Hungerstreik von hier aus unterstützt werden?
Songül Turhal: Zu den Instanzen, die auf die Türkei Einfluss nehmen können, gehören der Europarat, die OSZE, UNO und Regierungen. Deshalb ist es wichtig, diese Institutionen dazu zu bewegen, auf die Forderungen der Hungerstreikenden einzugehen.
Das ist nicht einfach! In der BRD und in anderen Ländern haben linke Parteien, Gruppen und PolitikerInnen ihre Solidarität mit den Hungerstreikenden und ihren Forderungen erklärt und sich an Demonstrationen und Aktionen beteiligt. Diese Form der Solidarität ist wichtig. Jedoch wird der Hungerstreik noch zu wenig wahrgenommen.
Auch wenn es ein paar Berichte in deutschen Medien gegeben hat, so reicht das noch nicht aus. Neben Öffentlichkeitsaktionen und LeserInnenbriefen sind Online-Petitionen und Protestbriefe an den türkischen Ministerpräsidenten, Innenminister und Justizminister ein Mittel, die türkische Regierung spüren zu lassen: Die Hungerstreikenden sind nicht allein!
Ihre Situation und die Legitimität ihrer Forderungen müssen in einer breiten Öffentlichkeit thematisiert und auf die Tagesordnung der Politik gesetzt werden. Hierzu kann auch die Unterschriftenkampagne „Freiheit für Öcalan“ einen wichtigen Beitrag leisten.
Mehr Informationen dazu gibt es auf der Homepage http://www.freeocalan.org/
Siehe auch: Hungerstreikende KurdInnen kurz vor dem Tod
im Anhang : Informationsdossier- 10 000 kurdische politische Gefangene im Hungerstreik