30.11.2011: Über eine Bilanz zum bundesweiten Bildungsstreik 2011 sprach die UZ mit Paula Klattenhoff. Sie war Schülervertreterin in Essen. Zur Zeit arbeitet sie in Berlin und ist dort in der SchülerInneninitiative „Bildungsblockaden einreißen“ aktiv.
UZ: Die aktuelle Bertelsmann-Studie zum Bildungsgefälle in der Bundesrepublik und der Bildungsstreik – wie passt das zusammen?
Paula: Die Studie ist nicht im luftleeren Raum angesetzt worden. Bildungspolitik und Bertelsmann sind zwei Seiten einer Medaille. Und wer ist Besitzer dieser Medaille? Der größte Medienkonzern in der Bundesrepublik, der zugleich zu den größten weltweit gehört. Wenn es nach diesem Konzern ginge, dann sollen wir auf die Denke dieses Konzens abgerichtet werden, ausgerichtet vornehmlich auf die kurzfristige Herstellung und Verwendung von „Humankapital“. Schüler und Studierende als betriebswirtschaftliche Größen bei der Profitmaximierung. Da haben die Bertelsmänner natürlich viele Defizite entdeckt, die da größer waren, wo der Konzern einen geringeren politischen, ökonomischen und ideologischen Einfluss in der Weite des Landes nehmen konnte. Das funktioniert ja auch nicht immer, jedenfalls nicht so reibungslos, wie Bertelsmann und Co. sich das vorstellen. Denn wir sind der Sand im Getriebe. Ein „Körnchen“ im Getriebe ist der Bildungsstreik.
UZ: Wie bewertest Du die Vorbereitung auf den Bildungsstreik?
Paula: Die Vorbereitungen sind insgesamt gut gelaufen. Es fanden eine bundesweite SchülerInnenkonferenz in Köln und im September eine große Konferenz in Berlin statt. Sie gaben den Anstoß für den Termin. Anschließend haben sich in über 40 Städten Bündnisse gegründet oder wiederbelebt, die für den 17. November Bildungsproteste organisiert haben. Von vorneherein war allen bewusst, dass wir nicht wie im Juli 2009 mit 270 000 Protestierenden rechnen können, dass jedoch ein qualitativer Unterschied eintreten sollte. Dies ist dann glücklicherweise auch geschehen. In den meisten Städten haben sich SchülerInnen, Gewerkschaften, LehrerInnen und Studierendenvertretungen gemeinsam an den Vorbereitungen beteiligt, um zu zeigen, dass wir alle von der Bildungsmisere betroffen sind und es dabei nicht um ein paar faule Kinder geht, die mal einen Tag blau machen wollen.
UZ: Wie war die Beteiligung am Bildungsstreik?
Paula: Selbstverständlich können wir nicht leugnen, dass sich mit einer Zahl von 30 000 weniger Menschen an den Demonstrationen beteiligt haben als zuvor. Das sehen wir jedoch nicht als Rückschritt, da wir nach dem Sinken der Beteiligung seit dem Höhepunkt 2009 und dem Ausfall des Streiks im Sommer dieses Jahres den 17. November als Startschuss für neue Proteste gesehen haben. Dies hat an vielen Stellen auch geklappt. Vielen ist bewusst geworden, dass es jetzt, in einer Situation, in der das Geld vor unseren Augen in Banken, Konzerne und Kriegseinsätze statt in das marode Bildungssystem gepumpt wird, wichtiger ist denn je, auf die Straße zu gehen. Darüber hinaus ist es definitiv auch als Erfolg zu sehen, dass es deutlich mehr Schülerinnen und Schüler als Studierende gab. Die SchülerInnen sind an ihren eigenen Schulen aktiv geworden, haben „Streikkomitees“ oder „Politik-AGs“ gegründet und in Berlin sogar eigenständig Vorab-Demos organisiert.
In vielen Bundesländern wurden als Reaktion auf die Bildungsstreiks die Studiengebühren abgeschafft. Manche Studierende mögen gedacht haben „Gut, das war’s für mich. Es ist schwieriger geworden eine zentrale, mobilisierende Forderung voranzustellen, die jeden Studierenden betrifft und ihn motiviert, aktiv zu werden. Ebenso auf Seite der SchülerInnen. In NRW zum Beispiel wurden die „Kopfnoten“ abgeschafft und die Drittelparität in der Schulkonferenz wurde wieder eingeführt. Das waren zwei zentrale Forderungen der letzten Jahre. Auch der „Schulkonsens“ wurde von einigen als Erfolg im Bereich der Bestrebungen zu „einer Schule für alle“ gewertet. Dies und vor allem die massiven Repressionen von Seiten der Politik bzw. Schulleitungen und LehrerInnen, die auch diesmal im Vorfeld geäußert wurden, werden wohl Grund für mangelnde Beteiligung gewesen sein.
Aber es gab „Ersatz“ für die Ausfälle: In Dortmund beteiligten sich Auszubildende von First Mail, einem Tochterunternehmen der Deutschen Post. Besonders perfide: Nach dem Streik wurde definitiv klar, dass die Post das Unternehmen zum Jahresende „abwickelt“. 910 Auszubildende sollen aber von der Post übernommen werden. Diese Übernahmen hätten wir gerne auf der Erfolgsseite unseres Streiks verbucht.
UZ: Was war neu bei den Demonstrationen und Kundgebungen?
Paula: Die Forderungen waren viel politischer. Beim letzten Bildungsstreik ging es z. B. in NRW „nur“ um die Abschaffung der Kopfnoten und die Wiedereinführung der Drittelparität. Überall wurde gegen Anwesenheitspflicht und Studiengebühren demonstriert. Das haben wir durchgesetzt. Da waren wir in vielen Bundesländern erfolgreich.
Jetzt ging es in allen Städten um die zentrale Forderung „Mehr Geld für die Bildung!“. Vielfach wurde gefordert, das Abitur nach acht Jahren (G8) wieder durch das G9 zu ersetzen. Die alte Forderung „Geld für Bildung statt für Bomben“ wurde wieder ins Bewusstsein gerückt. Ebenso der Einfluss der Konzerne durch Hochschulräte auf die Universitäten oder durch Public-Private-Partnership an den Schulen. Die Unterstützung war breit: In allen Städten beteiligten sich mehr SchülerInnenvertretungen und Gewerkschaften, die AktivistInnen von „occupy“ schlossen sich an und in Berlin brachten sich MigrantInnenorganisationen wie DIDF und KOMICIWAN viel stärker ein.
UZ: Es ist durchgesickert, dass es Probleme gab...
Paula: In der Tat! Wir haben erfahren, dass mal wieder Schultüren abgeschlossen wurden, um zu verhindern, dass sich Schülerinnen und Schüler am Bildungsstreik beteiligen. Darüber hinaus, wurden Besetzungen von Universitäten meist binnen Stunden brutal vor der Polizei geräumt.
UZ: Was wird beim nächsten Bildungsstreik anders sein?
Paula: Ob es einen nächsten Bildungsstreik geben wird, ist in vielen Städten noch in Diskussion. Viele AktivistInnen sind jedoch der Meinung, dass sich die halbjährigen Bildungsstreiks etablieren sollten und solange durchgezogen werden müssen, bis sich wirklich mal was ändert. Die Mehrheit der Beteiligten ist sich jedoch einig, dass die Zeit zwischen den „Streikevents“ besser genutzt werden sollte. Durch intensivere inhaltliche Arbeit an den Schulen, die Stärkung der Schülervertretungen und sogenannter „Streikkomitees“ und das Ausfechten kleiner politischer Kämpfe an der eigenen Schule, in der Universität oder im Betrieb.
Es wird auch darum gehen, die zu erwartenden Repressionen schon im Vorfeld zu verhindern. Viele Schüler wurden wegen des Streiks als „unentschuldigt fehlend“ ins Klassenbuch eingetragen. Man muss mit Ablehnung bei Bewerbungen für Ausbildungsplätze rechnen, wenn man sich traut, ein Zeugnis mit unentschuldigten Stunden vorzulegen.
Beim nächsten Bildungsstreik werden wir den Lehrern und Schulleitern deutlicher sagen, dass sie sich mit uns solidarisieren sollen – statt uns in die Pfanne zu hauen. Schließlich holen wir auch für sie die Kastanien aus dem Feuer.
Vorabdruck aus der UZ vom 02.11.11 Foto: LandesschülerInnenvertretung NRW