18.12.2024: Die Türkei hat parallel zu dem Ende November in Idlib gestarteten Vormarsch der dschihadistischen Tahrir al-Sham (HTS) mithilfe ihrer Söldnermiliz SNA Tel Rifat und Manbidsch/Minbic besetzt und bedroht aktuell die symbolträchtige Stadt Kobanê und weitere Gebiete der Demokratischen Selbstverwaltung Nord- und Ostsyriens (DAANES) östlich des Euphrat. ++ Die Türkei will ein zentraler Akteur in der Zukunft Syriens sein ++ Flagge mit den drei Sternen über Rojava und ein Brief an Donald Trump
Kobanê war 2014 zu einem Symbol des Kampfes gegen den IS geworden, nachdem kurdische Verteidigungseinheiten mit Unterstützung der internationalen Anti-IS-Koalition die islamistische Terrormiliz erstmals zurückdrängen konnten. Kobanê wurde Anfang 2015 für befreit erklärt.
Nach dem Sturz Assads in Syrien schweigen in großen Teilen des Landes die Waffen. Im Norden greift jedoch die Syrische Nationale Armee (SNA) gezielt kurdische Gebiete an. Die SNA ist ein Konglomerat aus dschihadistischen Söldnern und protürkischen Rechtsextremisten, die von der Türkei unter anderem aus den Überresten des IS rekrutiert wurden. Sie werden von Ankara als Hilfstruppen in den türkisch besetzten Gebieten Nordsyriens eingesetzt.
Die Türkei verfolgt dabei mehrere zentrale Ziele: die Schwächung der ideologisch verwandten kurdischen PKK im eigenen Land und die Zerschlagung autonomer kurdischer Strukturen in der Region als Voraussetzung, um eine hegmoniale Rolle im Mittelern Osten zu erringen - in Konkurrenz zu Iran und Israel.
Nachdem sich die kurdisch geführten Syrisch Demokratischen Kräfte SDF vergangene Woche aus Manbidsch, einer mehrheitlich arabischen Stadt auf der Westseite des Euphrat, zurückzogen, brachte ein von den USA vermittelter Waffenstillstand die islamistischen Milizionäre wieder in Sichtweite von Kobanê.
Für Erdogans Türkei, die seit Jahren auf einem "Sicherheitsstreifen" besteht, um innerhalb der syrischen Grenze gegen "PKK-Terroristen" vorgehen zu können, war dies eine einmalige Gelegenheit: Die SNA brach den Waffenstillstand, und die Türkei begannen mit dem Abbau der Mauer an der Grenze zu Kobane und brachte Soldaten, Panzer und Artillerie in Stellung.
Ziel ist es, die kurdische Selbstverwaltung östlich des Euphrat auszulöschen und die Gebiete entlang der Grenze einzunehmen. Die Türkei erklärt sich bereit, die Anti-IS-Kampagne in Syrien zu übernehmen, und zieht alle Fäden, die sie in der Region hält, einschließlich der traditionalistischen kurdischen Gruppierungen und politischen Clans, die die autonome Region im Nordirak regieren: die sogenannten "guten Kurden", die von Ankara geschützt werden.
Die Türkei will ein zentraler Akteur in der Zukunft Syriens sein
Nach Ansicht des türkischen Präsidenten ist die Machtübernahme durch dschihadistischen Banden in Syrien ein "ehrenvoller Sieg des Volkes", und seine Regierung werde das syrische Volk weiterhin unterstützen.
Mit der Wiedereröffnung der türkischen Botschaft in Damaskus nach einer zwölfjährigen diplomatischen Unterbrechung wird eine neue Phase eingeläutet, in der Ankara eine Schlüsselrolle in Syrien spielen wird. "Die Türkei will ein zentraler Akteur in der Zukunft Syriens sein. Deshalb unterstützt sie die dschihadistischen Formationen und setzt alles daran, dass diese die politische Szene in Syrien dominieren. Heute fungiert Ankara auf internationaler Ebene als Garant für das neue Regime", heißt es von politischen Analysten.
Nach den Plänen der türkischen Regierung wird die neue syrische Regierung, die von Ankara unterstützt wird, das Hauptinstrument zur Bekämpfung von Rojava sein.
"Wir haben der neuen syrischen Regierung deutlich gemacht, dass wir in der Zukunft Syriens eine klare Haltung gegenüber terroristischen Organisationen erwarten".
Hakan Fidan, Außenminister der Türkei
Die erste konkrete Geste war ein Besuch des türkischen Geheimdienstchefs Ibrahim Kalin in Damaskus, wo er sich mit dem Tahrir al-Sham-Führer Al-Julani und dem Ministerpräsidenten der Übergangsregierung, Al-Bashir, traf.
Einige Tage später kündigte der türkische Außenminister Hakan Fidan, einer der Architekten der türkischen Strategien in Syrien, die Zukunftspläne Ankaras an, die auf die Zerstörung des demokratischen Konföderalismus abzielen: "Die YPG und die YPJ müssen sich auflösen oder sie werden aufgelöst. Die ausländischen Mitglieder müssen das Land verlassen, die Anführer müssen Syrien verlassen, und die Kämpfer müssen ihre Waffen niederlegen, um sich in die neue syrische Gesellschaft zu integrieren, die von Damaskus in Zusammenarbeit mit der internationalen Autorität verwaltet wird".
Die jüngsten Äußerungen von Al-Julani bestätigen die Worte von Fidan: "Die Kurden werden Teil des neuen Syriens sein, aber die PKK ist eine separate Einheit. Wir werden niemandem erlauben, Waffen für terroristische Projekte zu verwenden".
Flagge mit den drei Sternen über Rojava und ein Brief an Donald Trump
In diesem Moment der Kräfteveränderungen und möglicher Verhandlungen sind zwei Erklärungen von Bedeutung.
Die erste stammt vom türkischen Verteidigungsminister Yasar Guler, der die militärische Bereitschaft seiner Regierung ankündigte: "Wenn Damaskus darum bittet, sind wir bereit, Soldaten zur Unterstützung zu schicken".
Die zweite stammt vom Generalkommandeur der Demokratischen Kräfte Syriens, Mazlum Abdi: "Wir verhandeln mit Tahrir al-Scham und der Türkei über die Verbündeten über einen dauerhaften Waffenstillstand".
Mazlum Abdi äußerte sich im Kurznachrichtendienst X zu den Bemühungen um einen Waffenstillstand in Syrien und sprach die die Möglichkeit einer Entmilitarisierung der von der Türkei bedrohten Stadt Kobanê an. In der am Dienstagabend (17.12.2024) veröffentlichten Nachricht heißt es:
"Um unser unerschütterliches Engagement für einen umfassenden Waffenstillstand in ganz Syrien zu bekräftigen, kündigen wir unsere Bereitschaft an, die Einrichtung einer entmilitarisierten Zone in Kobanê vorzuschlagen, mit der Umverteilung der Sicherheitskräfte unter der Aufsicht und Anwesenheit der USA. Diese Initiative soll die Sicherheitsbedenken der Türkei berücksichtigen und dauerhafte Stabilität in der Region gewährleisten."
In der Zwischenzeit wurde im kurdischen Rojava die Drei-Sterne-Trikolore gehisst, die von Dschihadisten und Gegnern von Bashar Assad geschwenkt wurde. "Wir sind Teil des vereinten Syriens und des syrischen Volkes", erklärten die Syrischen Demokratischen Kräfte (SDF) am 12. Dezember. "Die Regionen der Demokratische Selbstverwaltung von Nord- und Ostsyrien (DAANES)", so die SDF weiter, "sind ein integraler Bestandteil der syrischen Geographie und die Bewohner dieser Regionen gehören zu den authentischen Bestandteilen des syrischen Volkes. Daher hat der Rat der Demokratischen Selbstverwaltung beschlossen, die syrische Flagge auf den Räten, Institutionen, Verwaltungen und Strukturen der Autonomieverwaltung in allen Provinzen der Region zu hissen".
Mit der Flagge mit den drei Sternen über Rojava und der Proklamation als "Teil Syriens", hofft die Selbstverwaltung, dass die Türkei eingedämmt und davon abgehalten werden kann, neue blutige Militäroperationen gegen die kurdischen Gebiete zu starten.
Zudem hat die Selbstverwaltung DAANES am Montag einen Zehn-Punkte-Plan für einen politischen Dialog in Syrien vorgelegt und dazu aufgerufen, die Einheit und Souveränität des syrischen Staates zu erhalten und das Land vor Angriffen des türkischen Staates sowie seiner Unterstützer zu schützen.
10-Punkte-Plan der DAANES für politischen Dialog in Syrien"(…) In diesem Sinne möchten wir alle syrischen Akteur:innen dazu einladen, gemeinsam an der Verwirklichung dieser Schritte zu arbeiten, die wir in dieser Phase als entscheidend erachten:
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Gestern hat das Wall Street Journal über ein Schreiben der Ko-Vorsitzenden des Exekutivrates der Demokratische Selbstverwaltung, Ilham Ahmed, an den designierten US-Präsidenten Donald Trump berichtet. In dem Dokument, das am Montag, den 16. Dezember, verschickt wurde, weist Ahmed darauf hin, dass es das Ziel der Türkei sei, "die De-facto-Kontrolle über unser Territorium zu erlangen", bevor Trump am 20. Januar sein Amt im Weißen Haus antritt, um die neue US-Regierung zu zwingen, mit der Türkei "als den Regierenden über unser Territorium umzugehen".
"Auf der anderen Seite der Grenze sehen wir bereits, wie sich türkische Streitkräfte sammeln und unsere Zivilisten in ständiger Angst vor drohendem Tod und Zerstörung leben", schrieb Ahmed und schloss: "Wenn die Türkei mit der Invasion fortfährt, werden die Folgen katastrophal sein."
Den Berichten zufolge hat Ilham Ahmed Trump gebeten, bei Erdogan zu intervenieren, um den türkischen Präsidenten davon zu überzeugen, die Truppen um Kobanê zurückzuziehen. Eine türkische Invasion würde allein in Kobanê mehr als zweihunderttausend Menschen in die Flucht treiben. Ein US-Beamter sagte dem Wall Street Journal, dass die USA "sich auf das Geschehen konzentrieren und auf Zurückhaltung drängen".
Heute teilte das US-Außenministeriums mit, dass die Gespräche mit der Türkei und den SDF über eine Deeskalation in Nordsyrien fortgesetzt werden. Wie der Sprecher des US-Außenministeriums, Matthew Miller, sagte, ist die Waffenruhe, die am Montag für gescheitert erklärt wurde, bis zum Ende der Woche verlängert worden.
"Bundesregierung und EU müssen Erdoğan von Angriff abhalten"
Die Gesellschaft für bedrohte Völker ruft die deutsche Bundesregierung und die Europäische Union dazu auf, den türkischen Machthaber Recep Tayyip Erdoğan davon abzuhalten, einen Großangriff auf Kobanê und Raqqa zu starten.
"#Kobanê ist Symbol für den mutigen Kampf der Kurd*innen gegen den IS. Weiteres Blutvergießen ist das Letzte, was die Menschen nach 14 Kriegsjahren erfahren sollten. Auch die #Türkei steht in Verantwortung, Syriens territoriale Integrität & die Hoffnung auf #Frieden zu erhalten."
Annalena Baerbock auf X
Die deutsche Außenministerin Annalena Baerbock würdigte Kobane und Rojava und forderte Erdogan auf, die syrische Souveränität zu respektieren. Doch es bleibt bei Worten. Deutschland liefert die Waffen für den Angriff der Türkei auf Syrien.
Deutscher Bundestag, 19.12.2024: "Jemand mag ein Schurke sein, entscheidend ist, er ist unser Schurke" - das ist das Motto der Syrienpolitik von Union, SPD, FDP und Grünen. Nach der Machtübernahme der islamistischen Terrororganisationen HTS und SNA ist Syrien auf dem Weg in eine islamistische Diktatur. ... Die Außenministerin würdigt Kobane und Rokjava als Symbol für den mutigen Kampf der Kurden und liefert aber gleichzeitig der Türkei die Waffen mit denen die Kurden niedergemacht werden." https://youtu.be/AKpqKk-DPPs |
Jahrelang wurden Rüstungslieferungen an die Türkei kaum noch genehmigt. Das hat sich in den letzten Monaten deutlich geändert. Sie sind auf dem höchstem Stand seit 2006.
Bereits Ende September hatte das Wirtschaftsministerium des Grünen-Politikers Robert Habeck mitgeteilt, dass wieder Torpedos, Lenkflugkörper und Bauteile für U-Boote in größerem Umfang für die Türkei genehmigt wurden.
Am 19. Oktober besuchte Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) den türkischen Präsidenten Recep Tayyip Erdogan in Istanbul. Dort sagte Scholz, dass es "selbstverständlich" sei, dass der Nato-Partner Türkei deutsche Waffen erhält und zeigte sich sogar offen für die Lieferung von Eurofighter-Kampfjets.
Die Bundesregierung hat in diesem Jahr bereits Rüstungsexporte in die Türkei für 230,8 Millionen Euro genehmigt – so viel wie seit 2006 nicht mehr. Darunter waren Kriegswaffen für 79,7 Millionen und sonstige Rüstungsgüter für 151,1 Millionen Euro. Zum angestrebten Kauf der Türkei von 40 Eurofighter-Kampfjets hatte Scholz im Oktober in Istanbul darauf verweisen, dass die Verhandlungen "vorangetrieben" werden.
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