10.12.2021: Bei der Videokonferenz am Dienstag warnte der US-Präsident Moskau vor einer Invasion in der Ukraine, während der russische Präsident erneut die Einhaltung der Minsker Vereinbarungen und einen Stopp der NATO-Mitgliedschaft Kiews forderte. ++ "Wir nähern uns einem offenen Konflikt. Wir schlittern in den Krieg", befürchtet Andrey Sushentsov vom Moskauer Institut für Internationale Beziehungen ++ Biden schlägt Treffen zwischen der NATO und Russland vor, um Moskaus Bedenken zu erörtern
Nach wochenlangen offiziellen und informellen Gesprächen zwischen den Außenministerien der USA und Russlands fand am Dienstag (7.12.) ein zweistündiger Videogipfel zwischen dem russischen Präsidenten Wladimir Putin und seinem amerikanischen Amtskollegen Joe Biden statt.
Der Ton zwischen den beiden Seiten war von Tag zu Tag rauer geworden. Die Beziehungen zwischen Russland und der NATO haben in den letzten Monaten einen neuen Tiefpunkt nach dem Kalten Krieg erreicht. Der russische Außenminister Sergej Lawrow sagte, die Beziehungen zwischen Russland und dem westlichen Block könnten nicht einmal als "katastrophal" bezeichnet werden, denn "um katastrophal zu sein, muss man überhaupt erst einmal [Beziehungen] haben".
In jüngster Zeit sind die Spannungen zwischen der NATO und Russland noch einmal dramatisch eskaliert. US-amerikanische Geheimdienste warnen vor der Gefahr einer militärischen Invasion Russlands in der Ukraine, die "voraussichtlich Anfang 2022" beginnen und knapp 200.000 Soldaten umfassen werde. Als Beweis werden bislang einige Satellitenfotos angeführt, die russische Truppen einige hundert Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt zeigen.
Russische Stellen weisen diese Behauptungen als "Fake News" zurück und beschuldigen die NATO und westliche Medien, ein falsches Narrativ von einer "russischen Bedrohung" inmitten möglicher Vorbereitungen der pro-westlichen Regierung in Kiew für einen Angriff auf die Donbass-Republiken Donezk und Lugansk in der Ostukraine aufzubauen. Russland wirft der Ukraine vor, mehr als 120.000 Soldaten an die Linie zu den Donbass-Republiken verlegt zu haben.
In Bezug auf Methode, Zeitpunkt und Qualität haben diese Dokumente viel mit dem Trend zu "äußerst glaubwürdigen", aber leider nicht überprüfbaren Informationen gemeinsam, die die Sicherheitsdebatte in den NATO-Ländern seit Jahren anheizen, angefangen bei den Beweisen für Saddam Husseins irakische Chemiewaffenarsenale bis hin zu den Dossier über die Einmischung des Kremls in die US-Wahlen 2016.
Während die russischen Wintermanöver an der ukrainischen Grenze und auf der Krim von der westlichen Staatengemeinschaft als Bedrohung wahrgenommen werden, werden die offensiven NATO-Militärübungen in der Nähe der russischen Grenzen und im Schwarzen Meer als "rein defensiv und gegen niemand gerichtet" bezeichnet. So fand zum Beispiel zwischen März und Juni dieses Jahres das NATO-Großmanöver "Defender-Europe 2021" in Estland, im Kosovo und in in der Region des Schwarzen Meeres in Bulgarien und Rumänien statt.
"Rote Linie" NATO-Beitritt der Ukraine
Es wäre jedoch ein Fehler, die Hypothese einer russischen Intervention von vornherein und grundsätzlich auszuschließen, wenn sie auch sehr unwahrscheinlich ist. Wladimir Putin selbst hat wiederholt erklärt, dass er nicht tatenlos zusehen wird, wenn gegen die seiner Meinung nach "roten Linien" verstoßen wird.
Russlands geht es darum, eine feindliche militärische Organisation wie die NATO in sicherer Entfernung von Rostow am Don, St. Petersburg und Moskau zu halten. Diese Entfernung hat sich seit dem Fall der Berliner Mauer durch den Beitritt aller europäischen Länder des Warschauer Paktes zur NATO rasch verringert, mit zwei Ausnahmen: Belarus und die Ukraine. Ein NATO-Beitritt der Ukraine würde aller Wahrscheinlichkeit nach eine Reaktion des Kremls hervorrufen, die weit über die normalen diplomatischen Regeln hinausgeht.
"Wir nähern uns einem offenen Konflikt. Wir schlittern in den Krieg"
Andrey Sushentsov, Moskauer Institut für Internationale Beziehungen
Wie Putin am 18. November vor den führenden Diplomaten des russischen Außenministeriums erklärte, verlangt Russland eine vertragliche Vereinbarung mit den USA, dass die NATO sich nicht nicht noch näher bzw. direkt an die Grenzen Russlands ausdehnt. Putin sagte, dass die Erweiterung der NATO nach Polen und Rumänien erfolgt sei, obwohl Russland bereits damals seine Sorgen geäußert habe. Damals habe allerdings noch ein partnerschaftliches Klima zwischen dem Westen und Russland geherrscht. Dies sei heute anders, weshalb Russland auf klare vertragliche Vereinbarungen mit dem Westen bestehen müsse, um eine militärische Konfrontation zu vermeiden.
Eine solche "rote Linie" gestehen die USA und die NATO bislang der Russischen Föderation nicht zu.
Andrey Sushentsov, Dekan des Moskauer Staatlichen Instituts für Internationale Beziehungen, forderte im Vorfeld des Gipfeltreffens, dass Verhandlungen über die neuen NATO-Erweiterungspläne aufgenommen werden. "Es ist keine Lösung für die NATO zu sagen, dass wir keine roten Linien aus Russland akzeptieren. Wir nähern uns einem offenen Konflikt. Wir schlittern in den Krieg. Russland will diesen Krieg nicht. Die USA unterschätzen, wie ernst Russland die Situation nimmt", sagte Sushentsov in einem Interview. Die Aktivitäten von NATO und US-Truppen in der Ukraine seien, "als würde die russische Flotte eine Präsenz in der Nähe von Großbritannien aufbauen". Sushentsov: "Dies können wir nicht akzeptieren." Wenn es nicht zu einem vertraglichen Vereinbarung kommen, "besteht die Gefahr, dass wir aus Versehen in eine militärische Konfrontation geraten".
Keine Annäherung im Ukraine-Konflikt beim Videogipfel
Der virtuelle Gipfel zwischen Joe Biden und Wladimir Putin am Dienstag scheint wenig an der angespannten Lage zwischen Washington und Moskau in der Ukraine-Affäre geändert zu haben,
Das zweistündigen Gespräch wurde vom Thema Ukraine dominiert, berührte aber auch andere wichtige Fragen, die die Beziehungen zwischen Washington und Moskau belasten. Es ging auch um Cybersicherheit und um die anhaltende Krise in den diplomatischen Beziehungen zwischen den USA und Russland.
Weniger auffällig, aber nicht weniger wichtig war der Teil des Treffens, der der strategischen Stabilität gewidmet war, dem Dialog über die Verringerung des Atomkriegsrisikos und die Kontrolle der Atomwaffenarsenale, ein Thema, das bestätigt, dass die USA jenseits von allem und aller Propaganda in Russland, wie in der Zeit des Kalten Krieges mit der UdSSR, eine nukleare Supermachtfähigkeit anerkennen, die keine andere Nation besitzt und mit der man immer rechnen muss.
Ein weiteres Thema waren die Versuche, das Atomabkommen mit dem Iran wieder in Gang zu bringen, das Bidens Vorgänger Donald Trump 2018 aufgekündigt hatte, wobei auch hier implizit eingeräumt wurde, dass die USA und der Westen in Bezug auf regionale Krisen nicht umhin kommen, sich mit dem Kreml abzustimmen.
Biden sprach über Russlands "Invasion" in der Ukraine
Biden äußerte die Besorgnis der USA über den angeblichen russischen Plan, im Januar in die Ukraine "einzumarschieren", eine Anschuldigung amerikanischer Spionagebehörden, die Moskau als "Fake News" bezeichnet hat. Der US-Präsident drohte Putin im Falle einer russischen Invasion der Ukraine erneut mit "starken Wirtschaftsmaßnahmen" der USA und ihrer europäischen Verbündeten, wie Bidens Nationaler Sicherheitsberater Jake Sullivan im Anschluss sagte. Biden habe für den Fall einer russischen Invasion außerdem angekündigt, die Ukraine noch weiter aufzurüsten und die NATO-Partner an der Ostflanke zu stärken. Konkrete Sanktionen und Maßnahmen, mit denen die USA Russland gedroht haben, wollte Sullivan nicht nennen, sagte aber, dass "Dinge, die wir 2014 nicht getan haben, wir jetzt bereit sind zu tun".
Allerdings, so beschwichtigte Sullivan nach dem Gipfelgespräch, glaubten die USA nicht, dass der russische Präsident Wladimir Putin eine Entscheidung getroffen hat, in die Ukraine "einzumarschieren".
Präsident Biden betonte am Mittwoch vor Reportern im Weißen Haus, dass die Vereinigten Staaten nicht einseitig Gewalt gegen Russland anwenden würden, und wies darauf hin, dass Washington nicht in Erwägung ziehe, Truppen zu entsenden, Zu seinem Gespräch mit dem russischen Präsidenten sagte Biden, er habe Putin klargemacht, dass es im Falle einer "russischen Invasion in der Ukraine" schwerwiegende wirtschaftliche Konsequenzen geben werde, und fügte hinzu, er sei "absolut zuversichtlich", dass sein Amtskollege die Botschaft verstanden habe.
In früheren Medienberichten war zu lesen, dass die "starken Wirtschaftsmaßnahmen" neue Beschränkungen für den Kauf russischer Staatsanleihen und den Ausschluss Russlands aus dem SWIFT-System für internationale Banktransaktionen umfassen könnten.
Teil der US-Drohkulisse ist auch das Pipelineprojekt Nord Stream 2, mit dem russisches Erdgas unter Umgehung von Polen und der Ukraine nach Deutschland transportiert werden soll - für die europäische Seite der NATO, die bereits mit einer schweren Energiekrise zu kämpfen hat, ein riskantes Spiel, das ihre wirtschaftlichen und strategischen Interessen gefährdet,
Putin fordert Garantien von der NATO
Putin entgegnete, dass es die NATO sei, die aggressive Schritte gegen Russland, auch in der Ukraine, unternehme. Russland sehe sich vom Vorrücken der Nato bedroht. Die wahre Bedrohung der Stabilität sei nicht Russland, sondern die "gefährlichen Versuche der NATO, ukrainisches Territorium zu übernehmen". Dies sei für Russland eine "rote Linie".
Putin sagte, Moskau sei daran interessiert, feste rechtliche Garantien zu erhalten, dass die von den USA geführte Allianz nicht weiter nach Osten expandieren oder offensive Waffensysteme in den an Russland angrenzenden Ländern, zu denen auch die Ukraine gehört, einsetzen werde.
Er prangerte auch die "destruktive" Politik der Regierung in Kiew an, die darauf abziele, die Friedensabkommen in der Ostukraine zu demontieren.
Der russische Staatschef schlug vor, alle in den letzten sieben Jahren im Rahmen der "Auge-um-Auge-Sanktionen" verhängten Einschränkungen für den Betrieb von Botschaften und Konsulaten aufzuheben und so die diplomatischen Aktivitäten zu normalisieren. Die USA hatten den Konflikt mit der Ausweisung russischer Diplomaten Ende 2016 ausgelöst; die wechselseitigen Kürzungen haben seitdem zur Schließung mehrerer Konsulate und zur Unfähigkeit der Botschaften in beiden Ländern geführt, mit voller Kapazität zu arbeiten.
Biden kündigt ein Treffen zwischen der NATO und Russland an, um Moskaus Bedenken zu erörtern
Einen Tag nach dem Gespräch mit Wladimir Putin hat US-Präsident Joe Biden angekündigt, dass er ein Treffen zwischen Vertretern Russlands und der NATO-Mitgliedsstaaten anberaumen will, um Moskaus Bedenken zu erörtern, einschließlich der Osterweiterung des NATO-Bündnisses.
An dem Treffen sollen "mindestens vier unserer wichtigsten NATO-Verbündeten und Russland" teilnehmen. Es gehe darum, "die Zukunft der russischen Bedenken gegenüber der NATO im Allgemeinen" zu erörtern und "die Temperatur an der Ostfront zu senken".
US-Kongress streicht Sanktionen gegen Nord Stream 2
Zur gleichen Zeit, zu der US-Präsident Joe Biden das Videotelefonat mit dem russischen Präsidenten Wladimir Putin führte, strich der US-Kongress ursprünglich vorgeschlagene Sanktionsmaßnahmen gegen Russland aus dem Entwurf für den Verteidigungshaushalt.
Der neue Text des zwischen dem US-Repräsentantenhaus und dem Senat abgestimmten Gesetzentwurfs zur Finanzierung des Pentagons enthält weder Sanktionen gegen die Nord Stream 2-Pipeline noch ein Verbot für US-Bürger*innen, russische Anleihen zu kaufen. Frühere Entwürfe des National Defense Authorization Act (NDAA) für das Jahr 2022 enthielten diese Maßnahmen.
Während die Nord Stream 2-Bestimmung gestrichen wurde, verurteilte die gemeinsame Erklärung des Kongresses "die bösartigen Aktivitäten der Russischen Föderation, einschließlich aller Bemühungen, Gaslieferungen als Waffe einzusetzen, um ihre geopolitische Agenda voranzutreiben und europäische Verbündete und Partner negativ zu beeinflussen".
Verhandlungen sind der einzige Weg, um Konflikte zu lösen
Es scheint, dass die US-Regierung bereit ist, sich zumindest auf Gespräche einzulassen. Zwar wiederholt sie noch hartnäckig das Mantra, dass Kiew in der Lage sein muss, sich nach Belieben Bündnissen anzuschließen. Doch gleichzeitig erklären Biden und sein Sicherheitsberater Sullivan, der Westen sei bereit, Moskaus "strategische Bedenken" zu diskutieren. Endlich über die Haltung hinauszugehen, dass Russland kein "Veto" oder "Mitspracherecht" hat, und anzuerkennen, dass es legitime Sicherheitsinteressen hat und die Macht, diese auch durchzusetzen, ist eine wichtige Voraussetzung für die Lösung oder zumindest die Eindämmung dieser Krise. Es ist Zeit für eine Rückkehr zu Verhandlungen und Diplomatie - das ist der einzige Weg, um Konflikte zu lösen.
"Die Zeit ist reif, einen Paradigmenwechsel in der Sicherheitspolitik mit Russland einzuleiten. Deutschland und weitere NATO-Staaten in der EU sollten sich in der Allianz dafür stark machen, das Konzept der 'Gemeinsamen Sicherheit' von Olof Palme wieder aufzugreifen“, erklärt die Vorsitzende der ärztliche Friedensorganisation IPPNW, Dr. Angelika Claußen. Dazu solle im Dialog mit Russland erörtert werden, wie dieses Konzept in Zeiten der fortschreitenden Klimakrise erneuert werden könne. Die IPPNW fordert in diesem Zusammenhang eine neue globale Abrüstungsinitiative für das Klima. Die westliche Staatengemeinschaft sollte zudem anerkennen, dass die NATO-Osterweiterung russische Sicherheitsinteressen auf massive Weise berührt.