04.11.2011: Am Dienstag dieser Woche (1.11.) ordnete Venezuelas Staatspräsident Hugo Chavez die umgehende Verstaatlichung des landwirtschaftlichen Großunternehmens AGROFLORA an. Die AGROFLORA ist eine Tochtergesellschaft der britischen Vestey-Gruppe, deren unternehmerische Aufgabe in der kommerziellen Produktion von Rindfleisch liegt.
In einer Direktübertragung des staatlichen Fernsehkanals 5 aus dem Bundesstaat Aragua kündigte Venezuelas Präsident an, dass die 290.000 ha landwirtschaftlicher Nutzfläche der AGROFLORA zwangsweise verstaatlicht und der direkten "operationalen und administrativen Kontrolle" des Staates gemäß dem 'Gesetz zur Sicherung der souveränen Nahrungsversorgung Venezuelas' unterstellt würden. Das genannte Gesetzeswerk ermächtigt die Regierung Venezuelas zu zwangsweisen Enteignungen unter "ausserordentlichen Umständen", falls die Sicherung der nationalen Nahrungsmittelversorgung und das diesbezügliche öffentliche Wohl betroffen sind.
Chavez wies bei der Fernsehübertragung aus Aragua darauf hin: "Die landwirtschaftlichen Nutzflächen der AGROFLORA sind Eigentum von hoher sozialer Bedeutung. Es darf nicht - so wie sie es versucht haben - in Eigentum zum Nutzen einiger Weniger verwandelt werden, indem Letztere sich bereichern und gleichzeitig Wasserstraßen und Flüsse verschmutzen."
Laut Aussagen des Staatspräsidenten Venezuelas' fiel die Entscheidung zur präsidialen Anordnung der Verstaatlichung des AGROFLORA-Unternehmens nach dem Abbruch von Verhandlungen zwischen der Regierung und der VESTEY-Gruppe über Entschädigungen hinsichtlich einer einvernehmlichen Übernahme des Landbesitzes der AGROFLORA. Auslöser war die kompromisslose Forderung der britischen Unternehmensgruppe, dass die Entschädigungen für die betroffenen landwirtschaftlichen Böden in US-Dollar gezahlt werden sollten.
Hugo Chavez sagte dazu in der Fernsehübertragung: "Weil sie nicht mit uns verhandeln wollten und von uns US-Dollar als Bezahlung forderten, haben wir uns für die angeordnete Enteignung als zulässiger Option entschieden." Er hob hervor, dass die VESTEY-Gruppe natürlich Entschädigungen von der Regierung Venezuelas erhalten würde, "allerdings nur in der Währung Venezuelas". "Wir werden eine gerechte, ehrliche Bewertung vornehmen und dann werden wir dementsprechend zahlen."
Die venezolanische 'Vereinigung der Viehzüchter' kritisierte umgehend die Entscheidung von Staatspräsident Chavez als "neuerlichen Angriff auf Produktion und Privateigentum" in Venezuela und behauptete, dass der britische Großkonzern sich durchaus um "freundliche Beziehungen" zur Regierung bemüht habe.
Die in dieser Woche von Hugo Chavez angeordneten Enteignungen sind allerdings ein neuerlicher Schritt bei der Umsetzung der Regierungspolitik einer vehementen Förderung der Eigenversorgung Venezuelas mit Nahrungsmitteln und zur Ankurbelung der heimischen landwirtschaftlichen Produktion. Dabei geht es nicht nur vordergründig allein um eine Änderung der Eigentumsverhältnisse, sondern es wird auch über eine Änderung der Bodennutzung zur Verbesserung der Versorgung des Volkes nachgedacht.
So ist etwa das Land der 11 Betriebe, die AGROFLORA zur Rinderzucht betreibt, als höchst fruchtbares Ackerland der Stufe A1 klassifiziert. Solches Land ist bestens für die Produktion von Grundnahrungsmitteln, wie Kaffee und Gemüse geeignet. "Extensive Viehzucht von Kühen und Büffeln sollte eigentlich auf einem anderen Bodentyp betrieben werden, wo die Tiere ebenfalls auf guten Weiden grasen können. Aber das muss kein Boden vom Typ A1 sein, der anderen Arten der landwirtschaftlichen Nutzung und Produktion vorbehalten sein muss", kommentierte Braulio Alvarez, Abgeordneter der PSUV in der Nationalversammlung und ehemaliger Leiter der 'Bauernfront Ezequiel Zamora' die Entscheidung und Anordnung des Staatspräsidenten.
Nach den Einschätzungen der venezolanischen Regierung werden durch die neuen Verstaatlichungen (es sind auch andere Flächen betroffen) die nationale Produktion und der Konsum von Rindfleisch erheblich ansteigen. In diesem Zusammenhang erwartet man, dass umfangreich neue Möglichkeiten der Beschäftigung in diesem Wirtschaftsbereich geschaffen werden. Über 500.000 Arbeiter in der Viehproduktion werden demnach direkten Nutzen aus den Verstaatlichungen ziehen können.
Mit der angeordneten Enteignung von AGROFLORA gab Venezuelas Staatspräsident ferner die Gründung eines 'Unternehmens der sozialen Produktion' (USP) in Tacariqua an der Grenze der Bundesstaaten Aragua und Carabobo bekannt. In dieser Region sollen 13.000 ha, die gegenwärtig privatwirtschaftlich kommerziell genutzt werden, ebenfalls enteignet und zur Basis des USP werden. Das neue Agro-Unternehmen wird zudem den Status eines staatlich geförderten Industrieunternehmens erhalten.
Hugo Chavez erklärte, dass das für die Bildung des USP zu enteignende Land in den Händen der Bourgeoisie Venezuelas gelegen habe. Diese habe jedoch die Böden nicht effektiv genutzt und zudem die Umwelt und die Wasserwege der Region geschädigt und verschmutzt. "In Aragua werden 8.566 ha enteignet und in Carabobo 5.190 ha. Darauf werden dann 10 Betriebe für Nahrungsmittelproduktion gebildet. Wir müssen in all diese Täler gehen, gegen den Großgrundbesitz und für die Nutzung der besten Böden im Tal von Tacarigua kämpfen", führte er weiter aus. Der Staatspräsident kündigte die Zuteilung von Geldern für landwirtschaftliche Projekte im Quibor-Tal an und gab die Enteignung von Schweinezucht- und Schweinemastbetrieben am massiv verschmutzten Aragua-Fluss bekannt.
Die hinter diesen Plänen stehende Politik der Regierung Venezuelas zielt darauf ab, den historisch bedingten schwachen landwirtschaftlichen Sektor des Landes erheblich zu stärken - und damit langfristig die einseitige Abhängigkeit vom profitablen Ölreichtum des Landes zu beseitigen. Während des gesamten 20. Jahrhunderts gab es durch die Entdeckung und Förderung des Öls in Venezuela einen großen Einfluss fremder Währungen auf die eigene Wirtschaftsentwicklung. In dieser Abhängigkeit verfiel die einheimische landwirtschaftliche Produktion, der wachsende Lebens- und Nahrungsmittelbedarf wurde durch Importe gedeckt. Als Hugo Chavez 1999 sein Amt übernahm, war Venezuela hinsichtlich der Deckung des Bedarfs von Lebens- und Nahrungsmitteln bereits vollständig von Importen abhängig.
Seither hat die Regierung der bolivarischen Bewegung eine Reihe von Initiativen mit dem Ziel ergriffen, die inländische landwirtschaftliche Produktion voran zu bringen und die Abhängigkeit Venezuelas von teuren landwirtschaftlichen Importen aus den Ländern der westlichen Großmächte zu beseitigen. Dazu gehören Projekte wie etwa Agro-Patria oder Mission Agro-Venezuela, die kleinen landwirtschaftlichen Produzenten helfen und die Produktion von Getreide des Grundbedarfs und die Erzeugnisse stadtnaher Landwirtschaft erhöhen sollen. Die Regierung hat zudem den Süd-Süd-Handel gefördert, so dass der landwirtschaftliche Handel gegenwärtig einen der großen Handelsbereiche zwischen den Ländern der ALBA-Gruppe bildet.
In seiner Fernsehinformation über die neuerlichen Verstaatlichungen ergänzte Hugo Chavez, dass es aus seiner Sicht bei den Enteignungen nicht nur um die Erhöhung der wirtschaftlichen Produktion ging, sondern vielmehr um einen weiteren Schritt zur Bildung einer sozialistischen Gesellschaft. "Che (Guevara) hatte recht. Es geht nicht nur um Hausbau, Produktion von Zementblöcken, von Sonnenblumen oder Kleidung. Es geht darum, etwas jenseits dieser Dinge zu schaffen: einen neuen Typus von Männern, einen neuen Typus von Frauen - eine neue Gesellschaft."
Text: hth / Quelle: Venezuelanalysis / Foto: MattHamm