10.05.2022: Während im Zentrum der politischen und öffentlichen Aufmerksamkeit die Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine stehen, geht das Sterben im Mittelmeer ungebrochen weiter. ++ Im Jahr 2021 starben im Mittelmeer und auf dem Atlantik doppelt so viele Flüchtende wie im Vorjahr. ++ Noch mehr Vertriebene und Flüchtende durch Kriege und Klimawandel
Während im Zentrum der politischen und öffentlichen Aufmerksamkeit die Kriegsflüchtlinge aus der Ukraine stehen, geht das Sterben im Mittelmeer ungebrochen weiter.
Mehr als 3.000 Menschen die im vergangenen Jahr versuchten, das Mittelmeer oder den Atlantik in der Hoffnung überquerten, Europa zu erreichen, starben oder werden vermisst, teilte das UN-Flüchtlingshilfswerk UNHCR Ende April mit. 1.924 Menschen starben oder verschwanden auf der Flucht über das Mittelmeer, weitere 1.153 Flüchtende kamen auf der nordwestafrikanischen Seeroute zu den Kanarischen Inseln ums Leben, heißt es in dem Bericht des UNHCR. [1]
Damit hat sich die Zahl der Todesopfer auf den Fluchtrouten über das Mittelmeer und den Atlantik im Vergleich zum Vorjahr nahezu verdoppelt. 2020 wurden 1.776 Asylsuchende als tot oder vermisst gemeldet.
"Die meisten Überfahrten über das Meer fanden in überfüllten, nicht seetüchtigen Schlauchbooten statt - viele von ihnen kenterten oder sanken", erklärte UNHCR-Sprecherin Shabia Mantoo bei der Vorstellung des Berichts.
Da die nordafrikanischen Mittelmeerländer von der EU bezahlt und ausgerüstet werden, um Flüchtlinge bereits vor den Mauern der Festung Europa abzufangen, weichen immer mehr Flüchtende auf die noch gefährlichere Atlantikroute aus. Die Seereise von westafrikanischen Küstenstaaten wie Senegal und Mauretanien zu den Kanarischen Inseln ist lang und gefährlich und kann bis zu 10 Tage dauern. "Viele Boote sind in diesen Gewässern vom Kurs abgekommen oder auf andere Weise spurlos verschwunden", sagte Shabia Manto.
Doch nicht nur das Mittelmeer ist zu einem Massengrab für Flüchtende geworden. In dem Bericht wird darauf verwiesen, dass eine noch größere Zahl von Menschen auf der Reise durch die Sahara und abgelegene Grenzgebiete, in Haftanstalten oder in der Gewalt von Schmugglern oder Menschenhändlern gestorben ist. Außergerichtliche Tötungen, willkürliche Verhaftungen, sexuelle und geschlechtsspezifische Gewalt sowie Zwangsarbeit und Zwangsheirat sind nur einige der Missstände, die in dem Bericht aufgeführt werden.
Ein eritreischer Flüchtling wird zitiert: "Die meisten wissen nicht, was auf der Reise passiert, niemand in Eritrea kennt die Hindernisse auf dem Weg. Ich dachte, alle Unfälle passieren auf dem Meer und ein kenterndes Schiff ist das einzige Problem, dem man auf einer solchen Reise begegnen kann. Die Katastrophen passieren in der Sahara. Dort findet man Knochen und Schädel von toten Menschen. Die Sahara ist voll von eritreischen Leichen."
Er berichtet, wie er mit zusammen mit 403 anderen Flüchtenden - Kindern, Mädchen, kranken und behinderten Menschen – von Menschenhändlern inhaftiert wurde, und dass "wir jeweils 2.500 US-Dollar zahlen müssten, um die Reise über das Meer anzutreten. Sie folterten uns acht Monate lang. Einige starben. Sie haben sie nicht begraben."
"Anhaltende politische Instabilität und Konflikte, sich verschlechternde sozioökonomische Bedingungen sowie die Auswirkungen des Klimawandels werden die Vertreibung und Migration verstärken", warnte Mantoo. Die Menschen werden sich auf der Suche nach einem besseren Leben auf diese gefährlichen Fluchtrouten begeben, in der Hoffnung, anderswo Arbeit oder Bildungsmöglichkeiten zu finden, da es keine ausreichenden saisonalen oder längerfristigen legalen Wege für eine sichere und geordnete Migration gibt.
Das UNHCR fordert mehr humanitäre Hilfe, Unterstützung für Menschen, die internationalen Schutz benötigen, und für Überlebende schwerer Menschenrechtsverletzungen. Sowohl die Herkunftsländer wie die Transit- und Zielländer der Migrant*innen müssten sinnvolle Alternativen zu diesen gefährlichen Reisen bieten und verhindern, dass Menschen Opfer von Menschenhändlern werden. Die Staaten werden aufgefordert, ihre humanitären, entwicklungspolitischen und friedenspolitischen Maßnahmen zu verstärken, um glaubwürdige Alternativen zur gefährlichen Flucht nach Europa zu entwickeln.
"Die Staaten müssen den ungehinderten humanitären Zugang für die Erbringung grundlegender Leistungen für Menschen sicherstellen, die unterwegs sind oder auf dem Weg gestrandet sind, auf See abgefangen oder in Haftanstalten festgehalten werden, und sie müssen feststellen, ob sie internationalen Schutz benötigen", sagte die UNHCR-Sprecherin.
Die UNHCR benötigt für das Jahr 2022 Spenden in Höhe von 163,5 Millionen Dollar für die Unterstützung und den Schutz von Tausenden von Flüchtlingen und Asylbewerber*innen im nordafrikanischen und Mittelmeerraum. Ein lächerliche Summe im Vergleich zu den gigantischen Rüstungs- und Kriegsausgaben. Und trotzdem wird es für das UNHCR schwierig werden, diese Gelder zu bekommen.
Anmerkungen
[1] UNHCR, April 2022: "Protection, saving lives, & solutions for refugees in dangerous Journeys"
https://reporting.unhcr.org/document/2247
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