02.07.2021: Nur zehn Minuten brauchten die Staats- und Regierungschefs der EU bei ihrem Treffen am 24. und 25. Juni, um sich auf den die Einwanderung betreffenden Teile der gemeinsamen Erklärung zu einigen. Alle sind sich einig, in den Herkunfts- und Transitländern für Migration zu intervenieren, um die Europäische Union vom Elend der Welt und den Flüchtenden abzuschotten. Das "Türkei-Modell" gilt dabei als Muster.
Wenige Tage vor dem EU-Gipfel hatte Filippo Grandi, Hoher Kommissar der Vereinten Nationen für Flüchtlinge (UNHCR), in Genf berichtet, dass ungeachtet der Corona-Pandemie im vergangenen Jahr weltweit so viele Menschen auf der Flucht gewesen sind wie nie zuvor. Ende 2020 waren praktisch so viele Menschen wegen Konflikten, Verfolgung und Gewalt aus ihrer Heimat vertrieben wie Deutschland Einwohner hat: 82,4 Millionen. Das waren vier Prozent mehr als 2019 und doppelt so viele wie vor zehn Jahren. Auch der Klimawandel treibe immer mehr Menschen in die Flucht, weil sie in ihrer Heimat nicht mehr überleben können, berichtete das UN-Flüchtlingshilfswerk.
Die, die ins Ausland flohen, blieben vor allem in den Nachbarländern. 86 Prozent wurden von Entwicklungsländern aufgenommen. Mit 6,7 Millionen ins Ausland geflohenen Bürger*innen ist Syrien absoluter Spitzenreiter. Und mit jedem Angriff dschihadistischer und türkischer Truppen auf kurdische Gebiete im Irak und Syrien steigt die Anzahl der Flüchtenden und Vertriebenen. Doch die EU drückt beide Augen zu. 3,7 Millionen Geflüchtete - vor allem aus Syrien - leben in der Türkei.
Im März 2016 hat die EU den Flüchtlingspakt mit der Türkei geschlossen. Erdoğan verpflichtete sich, die Flüchtenden aufzuhalten, bevor sei an die Grenzen der EU kommen und "irregulär" auf die griechischen Ägäis-Inseln gelangte Flüchtlinge zurückzunehmen. Die EU zahlte im Gegenzug rund sechs Milliarden an die Türkei.
Das Abkommen gibt dem türkischen Diktator Erdoğan nicht nur die Rolle des Türstehers der EU, sondern auch die Möglichkeit in die Hand, seine Eroberungspolitik zu eskalieren und die EU durch Erpressung mit der Drohung der Öffnung der Grenzen zum Stillhalten zu bewegen. Ob völkerrechtswidrige Kriege und Besetzung, ethnische Säuberungen, Einsatz verbotener chemischer Waffen gegen die kurdischen Kräfte, Einsatz von Wasser als Waffe gegen die selbstverwalteten Gebiete in Nord- und Ostsyrien, Verhaftungen und Folter von Oppositionellen oder das laufende Verbotsverfahren gegen die linke HDP - die EU schweigt.
Bundesaußenminister Heiko Maas (SPD), eine enger "Freund" des türkischen Außenministers Mevlüt Çavusoglu (siehe: Bewaffneter Anschlag auf HDP-Zentrale in Izmir: Eine Tote), forderte vor dem EU-Gipfel ein neues Flüchtlingsabkommen zwischen der Europäischen Union und der Türkei. "Wir brauchen ein Update der Migrationszusammenarbeit mit der Türkei“, sagte der SPD-Politiker der Tageszeitung "Die Welt". Die EU habe ein großes Interesse daran, dass das Migrationsabkommen mit Ankara weiterentwickelt und fortgeschrieben werde. Im Rahmen eines neuen Abkommens müssten der Türkei auch weitere Gelder von der EU zur Verfügung gestellt werden, so Maas.
"Türkei-Modell" als Muster
Die EU-Regierungschefs beschlossen, das "Türkei-Modell" als Muster für andere Länder zu nehmen. Der Europäischen Kommission wurde das Mandat erteilt, einen Plan für finanzielle Interventionen zu entwickeln, der bis zum nächsten November vorgelegt werden soll. Das ist das grüne Licht für das, was Brüssel die externe Dimension der Einwanderung nennt.
Brüssel will Partnerschaften und Kooperationen intensivieren: "Der Ansatz wird pragmatisch, flexibel und maßgeschneidert sein", heißt es in dem von Kommiussions-Präsident Charles Michel ausgearbeiteten Dokument. Aus diesem Grund fordern die Regierungschefs die Kommission auf, mindestens 10 % des NDICI-Fonds, des Instruments für Nachbarschaft, Entwicklungszusammenarbeit und internationale Kooperation, "bestmöglich zu nutzen". Das sind 8 Milliarden Euro, die unter den Ländern verteilt werden sollen, die am meisten gegen den Durchzug der Flüchtenden unternehmen können. Schließlich verurteilte und lehnte der Rat "jeden Versuch von Drittländern ab, Migranten für politische Zwecke auszunutzen".
Dies ist ein Hinweis, der in erster Linie an die Türkei gerichtet ist, aber es ist klar, dass Brüssel nach den Spannungen der letzten Monate den Dialog mit Ankara wieder aufnehmen will, um zu einer Neuauflage des 2016 unterzeichneten Abkommens zu kommen (offizielle Zahlen gibt es noch nicht, aber es stehen 3,5 Milliarden Euro bereit).
Die Zeit drängt. Denn der Abzug der NATO- und US-Truppen aus Afghanistan und die damit verbundene Rückeroberung des Landes durch die Taliban wird wahrscheinlich neue Fluchtbewegungen verstärken, die sich ohne die Kooperation der Türkei auf die Balkanroute ergießen würden, um das Herz Europas zu erreichen. Zudem sorgt Erdoğan mit seinen Kriegen und Eroberungen für immer wieder selbst für neue Flüchtende und Vertriebene.
Für Jordanien und Libanon, zwei der Länder, die die meisten syrischen Flüchtlinge aufnehmen, wurden bereits Mittel in Höhe von 2,2 Milliarden Euro bereitgestellt.
Ein Problem hat die EU mit Libyen. Die Möglichkeit, mit Tripolis ein ähnliches Abkommen wie mit Ankara zu erreichen, wird durch die Unzuverlässigkeit der derzeitigen Regierung und die Anwesenheit ausländischer Soldaten und Söldner im Land erschwert, wenn nicht gar unmöglich gemacht. Die Hoffnung ist, dass die für Dezember angesetzten Wahlen die Situation zugunsten einer größeren Stabilisierung des nordafrikanischen Landes verändern können und Libyen zu einem stabileren Partner in der Flüchtlingsabwehr wird. In der Zwischenzeit wird Italien - wie bisher - die sogenannten libyschen Küstenwache finanzieren.