11.07.2022: Generalbundesanwalt Peter Frank auf Einladung des türkischen Generalstaatsanwalts in der Türkei ++ Türkei übergibt Bundesregierung neue Namensliste mit 129 "Terroristen" ++ kurdischer Politiker mit Asyl in der Schweiz auf Durchreise in der Nähe von München festgenommen. Türkei verlangt Auslieferung ++ Gesinnungsjustiz: massive Freiheitseinschränkungen, weil "kein Abrücken von seiner politischen Haltung erkennbar" ist ++ Auslieferungsrekord an türkische Diktatur
Finnland und Schweden können Mitglied der NATO werden, nachdem sie den Forderungen der Türkei zugestimmt haben, ihre Gesetze zu ändern, um stärker gegen die verbotene Arbeiterpartei Kurdistans (PKK) vorzugehen, mit der Türkei bei der Auslieferung von Personen, die auf der türkischen Fahndungsliste stehen, zusammenzuarbeiten, die Zusammenarbeit mit dem Folter-Geheimdienst der Erdoğan-Diktatur zu intensivieren und das Waffenembargo gegen Ankara aufzuheben.
Gysi: Der Preis für die NATO-Erweiterung ist zu hochAm Freitag (8.7.) hat der Bundestag mit großer Mehrheit für den NATO-Beitritt Schwedens und Finnlands gestimmt. Gregor Gysi, außenpolitischer Sprecher der Linksfraktion, begründet deren Ablehnung: |
Alles Maßnahmen, die in Deutschland schon lang voll im Gange sind, aber jetzt noch einmal verschärft werden, nachdem der türkische Diktator ein schärferes Vorgehen gegen Exilstrukturen der Arbeiterpartei Kurdistans PKK und der linken DHKP-C als Bedingung für die Zustimmung zum NATO-Beitritt Schwedens und Finnlands verlangt hat.
"Erdoğans willige Helfer"
So wurde vorletzte Woche der in der Schweiz lebende Kurde Yaser Örnek auf Veranlassung der türkischen Regierung in der Nähe von München festgenommen und inhaftiert. Der 27-Jährige befand sich mit einem Bekannten auf der Durchreise in den Urlaub, als sein Fahrzeug von Polizisten in Zivil nahe Bernau am Chiemsee aus dem Verkehr der Autobahn A8 herausgefischt und gestoppt wurde. Über Stunden wurden die beiden jungen Männer mit auf dem Rücken fixierten Händen festgehalten, Angaben über den Grund der "Maßnahme" seien zunächst nicht gemacht worden, äußerte Örneks Begleiter Durmaz Yahişi. Seitdem befindet sich Yaser Örnek in Haft. Die Türkei verlangt seine Auslieferung.
Yaser Örnek ist aus der Türkei in die Schweiz geflohen, nachdem er im Zusammenhang mit seinen legalen politischen Aktivitäten für die linke Demokratische Partei der Völker HDP wegen "Mitgliedschaft in einer Terrororganisation" angeklagt wurde. In der Schweiz erhielt er im Juni 2018 politisches Asyl.
In der Türkei ist Yaser Örnek inzwischen zu einer mehrjährigen Haftstrafe verurteilt worden, außerdem laufen derzeit noch drei weitere Gerichtsverfahren gegen ihn. Das diktatorische Erdoğan-Regime hat ihn bei der europäischen Polizeibehörde Europol zur Fahndung ausgeschrieben. Die deutsche Polizei und Justiz folgt diesem Festnahmeersuchen aus Ankara in Komplizenschaft mit dem AKP-Regime und dessen Geheimdienst bereitwillig.
Der Münchner Kommunikationswissenschaftler und Menschenrechtler Kerem Schamberger spricht von einem ungeheuerlichen Vorgang. "Die deutschen Behörden haben in Komplizenschaft mit dem AKP-Regime gehandelt", kommentierte Schamberger die Festnahme Örneks in Bayern im Kurznachrichtendienst Twitter. Damit drohe ihm eine Auslieferung an das AKP-Regime. "Das müssen wir alle gemeinsam verhindern."
Gesinnungsjustiz
"kein Abrücken von seiner politischen Haltung erkennbar"
31 Monate saß der kurdische Aktivist Mustaga Celik in Deutschland im Gefängnis. Am 5. August soll er endlich entlassen werden. Aber das bedeutet nicht Freiheit für ihn. Der Staat will ihm mit drakonischen Auflagen das Leben unerträglich machen, weil bei ihm "kein Abrücken von seiner politischen Haltung erkennbar" sei.
Darf an keinen Versammlungen teilnehmen, "die im Zusammenhang mit den Belangen des kurdischen Volkes stehen"
Eine Zusammenfassung der gegen ihn nach "Freilassung" verhängten Auflagen
Nach seiner Entlassung darf er für fünf Jahre:
- den Stadtstaat Bremen nicht verlassen
- keine kurdischen Vereine in Bremen aufsuchen
- an keinen Versammlungen teilnehmen, keine solche organisieren oder anmelden, "die im Zusammenhang mit der PKK, (...) oder im Zusammenhang mit den Belangen des kurdischen Volkes stehen"
Er muss zudem:
- ein ständig betriebsbereites nicht-Internetfähiges Mobiltelefon bei sich tragen
- Fußfesseln tragen
- "die Aufstellung der so genannten Home-Unit in seiner Wohnung dulden" (Hauskontrolle)
- sich "alle 2 Wochen bei der örtlich zuständigen […] Polizeidienststelle […] melden"
- "jeden Wechsel des Wohnortes und der Arbeitsstelle der zuständigen Führungsaufsichtsstelle melden"
Die perfide Begründung für diese drakonischen Freiheitseinschränkungen lautet, dass mit den vorstehenden Weisungen das "Ziel der Prävention" verfolgt werde, damit Mustafa C. "überhaupt keine Straftat mehr" begehe. Zwar sei sein Verhalten in der JVA "nicht zu beanstanden" gewesen, doch sei bei ihm "kein Abrücken von seiner politischen Haltung erkennbar". Er halte an "seiner Werteorientierung fest".
Auch sei er nicht bereit anzuerkennen, dass seine bisherigen politischen Aktivitäten für die PKK strafbar sind. Außerdem habe er sich "kaum integriert" und verfüge "nur über eingeschränkte Kenntnisse der deutschen Sprache". Vermutlich werde er sich nach seiner Haftentlassung wieder für die PKK betätigen. Deshalb müsse der Entlassene engmaschig kontrolliert und seine Aktivitäten "schneller bemerkt" werden. Wegen der "von ihm ausgehenden Gefährdung" seien die Weisungen "keine unzumutbaren Anforderungen an die Lebensführung".
"Mustafa Celik soll gedemütigt, seiner politischen Identität beraubt und seine Gesinnung zerstört werden. Er soll denk- und mundtot gemacht werden. Doch das wird nicht gelingen, weil wir solidarisch an seiner Seite stehen", heißt es von Aktivist*innen, die Mustafa Celik solidarisch zur Seite stehen.
Eine politisch motivierte Gesinnungsjustiz tritt alle rechtsstaatlichen Maßstäbe, um sich als "Erdoğans willige Helfer" zu beweisen. Für die außenpolitischen Interessen der deutschen Regierung und der NATO wird die "unantastbare Würde" des Menschen mit Füssen getreten.
Haft wegen Aktivitäten im kurdischen Verein
Seit mehr als einem Jahr sitzt Mirza Bilen in Bayern im Gefängnis. Der kurdische Politiker wurde am 7. Mai 2021 im Zuge einer Razzia in Nürnberg festgenommen, weil er im Medya-Volkshaus, also im kurdischen Verein, aktiv war.
Sein Prozess hat erst am 2. Mai 2022, ein Jahr nach seiner Inhaftierung, vor dem Staatsschutzsenat des Oberlandesgerichts München begonnen. Dem 36-Jährigen wird die Mitgliedschaft in einer "terroristischen Vereinigung im Ausland" gem. §§ 129a/b StGB vorgeworfen. Er soll seit Juni 2020 das "PKK-Gebiet" Nürnberg verantwortlich geleitet haben und als Regionalleiter im Gebiet Bayern tätig gewesen sein. Individuelle Straftaten werden ihm nicht zur Last gelegt.
Azadî: "Schreiendes Unrecht"Der Rechtshilfefonds Azadî e.V. teilt anlässlich der Prozesse wegen angeblicher PKK-Aktivitäten mit: Weil alle Angeklagten in gleichgelagerten Verfahren für sämtliche Aktivitäten der kurdischen Guerilla HPG mitverantwortlich gemacht werden, auch wenn sie sich in Deutschland eigentlich legal politisch betätigen, geht es in den Verfahren immer um die zentrale Frage, ob den Kurdinnen und Kurden ein Recht auf Selbstverteidigung zusteht. Wird dies aktuell den Menschen in der Ukraine zugestanden, auch mit tatkräftiger militärischer Unterstützung der BRD, wird es den Kurd:innen generell abgesprochen. Und das angesichts eines bitteren, seit Jahrzehnten schwelenden Konfliktes, in dem die jeweiligen Regime in der Türkei das "Kurdenproblem" mit militärischen Mitteln und einem brutalen Unterdrückungssystem glauben, lösen zu können. Aktuell führt das NATO-Land wieder völkerrechtswidrige Angriffskriege auf kurdische Gebiete im Nordirak und in Nordsyrien und scheut nicht davor zurück, auch verbotene chemische Kampfstoffe einzusetzen. Und behaupte niemand, die seit Mitte April andauernden schweren Bombardierungen seien "nur" gegen Stellungen der kurdischen Volksverteidigungskräfte HPG gerichtet; in allen Kriegssituationen sind Zivilist:innen auch Opfer. Es ist deshalb ein schreiendes Unrecht, dass die Verantwortlichen in Politik und Justiz ausgerechnet jene Menschen hier als "Terroristen" kriminalisieren und verfolgen, die sich trotz häufig eigener schlimmer Erfahrungen auch im Exil für eine friedliche Konfliktlösung einsetzen. Dass es auch eine andere Sichtweise gibt, hat das rechtskräftige Urteil des Kassationshofes in Belgien vom Januar 2020 in einem Verfahren gegen kurdische Politiker und Aktivisten gezeigt. Das höchste Gericht des Landes stellte klar, dass es sich bei der PKK nicht um eine terroristische Organisation handelt, sondern um eine bewaffnete Konfliktpartei gemäß dem internationalen Völkerrecht, weshalb die Antiterrorgesetzgebung nicht anwendbar sei. Diese Diskussion muss wieder aufgegriffen werden, auch und gerade, weil die deutschen Gerichte – gestützt von der Politik - konträr zur Auffassung des Kassationshofes stehen und damit dem autoritären Regime in Ankara den Rücken stärken. Stärken wir die angeklagten kurdischen Aktivisten. Sie brauchen unsere Unterstützung und Solidarität. |
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Quelle: https://civaka-azad.org/ |
Auslieferung in Folter und Tod
Trotz Diktatur, Folter und Mord: die Bundesregierung hat von Januar bis Mai 2022 so viele Menschen an die türkische Diktatur ausgeliefert wie seit Jahren nicht mehr. 204 Menschen wurden an Erdoğans Gefängnisse und Folter-Geheimdienst ausgeliefert. Dies hat eine aktuelle Anfrage von Clara Bünger von der Fraktion DIE LINKE. im Bundestag zu Tage gebracht.
Die meisten Menschen wurden aus Nordrhein-Westfalen, Bayern und Baden-Württemberg abgeschoben.
Setzt sich diese Abschiebepraxis fort, würde Deutschland bis Ende 2022 knapp 500 Menschen an die Türkei ausliefern.
Zum Vergleich:
- 2021 waren es 361 Menschen
- 2020 waren es 318 Menschen
- 2019 (vor Corona) waren es 429 Menschen.
"Unter den Abgeschobenen sind Menschen, die wir kennen, mit denen wir gemeinsam politisch aktiv sind. Vielen weiteren, die noch hier sind und denen in der Türkei Haft und Verfolgung droht, haben ebenfalls Abschiebeanordnungen erhalten", klagt der linke Aktivist Kerem Schamberger an.
Datenübermittlung kurdischer Vereine an Geheimdienste ohne Rechtsgrundlage
Ein von der Bundestagsabgeordneten Gökay Akbulut (DIE LINKE) in Auftrag gegebenes Gutachten der Wissenschaftlichen Dienste des Bundestages (WD) bestätigt, dass die kurdische Diaspora in Deutschland einer Kriminalisierung und Entrechtung ausgesetzt ist, die über das Maß dessen hinausgeht, was rechtsstaatlich möglich ist. Dabei geht es um die anlasslose, standardisierte Übermittlung der Daten kurdischen Vereine an das Bundeskriminalamt und den Inlandsgeheimdienst Verfassungsschutz.
Akbulut kommentiert: "Besonders gravierend ist die Situation für Mitglieder kurdischer Vereine. Deren Daten werden vom BfV offenbar an den türkischen Geheimdienst weitergereicht. Bei Einreisen in die Türkei müssen die Betroffenen dann mit Verhaftungen, Ausreisesperren oder anderen Schikanen rechnen. Die Bundesregierung muss daher sofort offenlegen, welche Vereine von dieser Praxis betroffen sind, damit deren Mitglieder vor einer möglichen Reise in die Türkei gewarnt sind. Dass die Bundesregierung überhaupt als willige Helferin an der menschenrechtswidrigen Politik des Erdogan-Regimes mitwirkt, finde ich skandalös. Diese Kooperation mit der Türkei muss umgehend gestoppt werden." [1]
Musiker als Terrorist verhaftet
Die Verfolgungswut deutscher Sicherheitsbehörden im Auftrag Erdoğans richtet sich nicht nur gegen kurdische Aktivist*innen, sondern gegen jegliche Opposition gegen das Erdoğan-Regime.
Im Mai 2022 wurde der als politischer Flüchtling im deutschen Exil lebende Ihsan Cibelik vor seiner Wohnung in Bochum aufgrund eines Haftbefehls der Bundesanwaltschaft unter Terrorismusanschuldigung festgenommen. Die Bundesanwaltschaft beschuldigt Cibelik, auf dessen Ergreifung das türkische Innenministerium ein Kopfgeld von 300.000 Türkischen Lira ausgesetzt hat, seit 2015 für die in der Türkei und in Deutschland verbotene Revolutionäre Volksbefreiungspartei-Front DHKP-C aktiv zu sein.
Cibelik ist einer der ältesten Mitglieder der bekannten Musikgruppe "Grup Yorum", eine Formation, die über 20 Alben produziert hat und zu deren Konzerten in Istanbul vor ihrem Verbot Hunderttausende Fans kamen.
Am gleichen Tag wurde Özgül Emre, ein weiteres Mitglied von "Grup Yorum" festgenommen. Ihr wird unter anderem die Organisation eines Grup-Yorum-Konzertes im Juni 2014 in Oberhausen vorgeworfen.
"Die Vorgehensweise der deutschen Behörden gegen die Musikgruppe ist nicht hinnehmbar, da sie Erdogans Erzählung von 'Grup Yorum' als Bestandteil einer Organisation, die unter Terrorverdacht steht, unkritisch übernehmen", kritisiert die Europaabgeordnete Oezlem Demirel (DIE LINKE)
(zu "Grup Yorum" siehe auch kommunisten.de: "Ibrahim & Sultan")
Generalbundesanwalt besucht Türkei: Welche Zugeständnisse hat er Erdogan gemacht?
Die Frankfurter Rundschau berichtet, dass sich der deutsche Generalbundesanwalt Peter Frank auf Einladung des türkischen Generalstaatsanwalts Bekir Şahin vom 5. bis 7. Juli in der Türkei aufgehalten hat. [2] Der türkische Generalstaatsanwalt Bekir Sahin ist bekannt für seine erbarmungslose Verfolgung kurdischer und linker Aktivitäten. Sahin hat im vergangenen Jahr beim türkischen Verfassungsgericht das Verbot der linken, pro-kurdischen Oppositionspartei HDP beantragt.
Neben seinem türkischen Amtskollegen traf sich Frank auch mit Diktator Erdoğan. Über den Inhalt der Gespräche wurde nichts bekannt gegeben. Auf Anfrage der Frankfurter Rundschau gab eine Sprecherin der Bundesanwaltschaft lediglich an: "Gesprächsthemen mit den Vertretern der türkischen Justiz waren unter anderem die Aufgaben und Arbeit der jeweiligen Strafjustiz." Fragen über die Inhalte der dreitägigen Gespräche, Kooperationen und Informationsaustausch zwischen beiden Ländern wollte die Generalbundesanwaltschaft nicht beantworten. Auch bekam die FR-Redaktion keine Informationen darüber, ob neue Auslieferungsanträge an die deutschen Behörden übergeben wurden.
Kamal Sido, Nahostreferent bei der Gesellschaft für bedrohte Völker (GfbV), ist empört. "Die Zivilgesellschaft hätte von dem Besuch des deutschen Generalbundesanwalts in der Türkei informiert werden müssen", so Sido gegenüber der FR. "Der deutsche Generalbundesanwalt war auf Einladung des obersten türkischen Staatsanwalts in die Türkei gereist und es hat auch ein Treffen mit Erdogan gegeben. Wir fordern von der Bundesregierung Informationen, ob und welche Zugeständnisse an die Türkei gemacht wurden", so Sido. Kamal Sido forderte daher einen Untersuchungsausschuss des Bundestages.
Türkei übergibt Bundesregierung neue Namensliste mit 129 "Terroristen"
Die Frankfurter Rundschau verweist auf die regierungsnahe islamistisch-nationalistische "Yeni Safak", die berichtet, dass die türkische Regierung von EU-Staaten die Auslieferung von 406 Personen verlangt. 129 Auslieferungsanträge sollen alleine an die Bundesregierung gestellt worden sein.
Anmerkungen
[1] ANF News, 4.7.2022: "Datenübermittlung kurdischer Vereine entbehrt Rechtsgrundlage"
https://anfdeutsch.com/rojava-syrien/datenubermittlung-kurdischer-vereine-entbehrt-rechtsgrundlage-32935
[2] Frankfurter Rundschau, 8.7.2022: Generalbundesanwalt besucht Türkei: Welche Zugeständnisse hat er Erdogan gemacht?
https://www.fr.de/politik/generalbundesanwalt-peter-frank-tuerkei-besuch-recep-tayyip-erdogan-news-91656249.html
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