11.02.2022: Bundesverwaltungsgericht stellt fest, dass Münchner Stadtratsbeschluss gegen BDS-Kampagne das Grundrecht auf Meinungsfreiheit verletzt ++ nach vier Jahren können in München wieder Vorträge und Veranstaltungen über die Auswirkungen der israelischen Besatzung und Siedlungspolitik stattfinden ++ EineWeltHaus ist erleichtert: "Durch die Klarstellung der Rechtslage sind deshalb Debatten zum Nahostkonflikt in unserem Haus wieder möglich."
Am 13.12.2017 brandmarkte der Stadtrat München die gegen die israelische Besatzungspolitik gerichtete Kampagne "Boykott, Desinvestitionen und Sanktionen" (BDS) [1] als antisemitisch und ordente an, keine städtischen Räume mehr für Veranstaltungen zur Verfügung zu stellen, die sich mit Inhalten, Themen und Zielen der BDS-Bewegung befassen.
Gestützt auf diesen Beschluss verweigerte die Stadt München im Frühjahr 2018 einen Saal für eine Podiumsdiskussion mit dem Thema "Wie sehr schränkt München die Meinungsfreiheit ein? – Der Stadtratsbeschluss vom 13.12.2017 und seine Folgen“. Der Münchner Bürger Klaus Ried konnte sich nicht vorstellen, dass über einen Stadtratsbeschluss nicht in einem städtischen Saal diskutiert werden dürfe, deshalb rief er, von einer kleinen Gruppe von Freund*innen unterstützt, das Münchner Verwaltungsgericht an, um sein Recht durchzusetzen. Zur Überraschung vieler urteilte das Gericht am 12.12.2018 jedoch, die Stadt sei zu der Verweigerung berechtigt.
Klaus Ried wollte sich mit diesem Urteil nicht abfinden und legte beim Bayerischen Verwaltungsgerichtshof Beschwerde ein. Dieser entschied am 17. November 2020, dass der Beschluss des Münchner Stadtrats eine Verletzung des Grundrechtsartikels 5 (Meinungsfreiheit) darstellt und verpflichtete die Stadt zur Bereitstellung eines städtischen Saals.
Interview mit Klaus Ried Bayerischer Verwaltungsgerichtshof: Stadt darf Diskussionen über die BDS-Kampagne nicht verhindern |
Die Präsidentin der israelischen Kultusgemeinde München, Charlotte Knobloch, die als eine der treibenden Kräfte hinter dem Stadtratsbeschluss von 2017 gilt, bezeichnete das Urteil des Bayerischen Verwaltungsgerichtshofes als "verheerendes Signal". Die Stadtratsmehrheit beschloss gegen die Stimmen der Linken und der ÖDP beim Bundesverwaltungsgericht in die Revision zu gehen.
Bundesverwaltungsgericht: Themenbezogene Widmungsbeschränkung verletzt Meinungsfreiheit
Doch auch beim Bundesverwaltungsgericht in Leipzig scheiterte die bayerische Landeshauptstadt mit ihrem Anliegen. Am 20. Januar bekräftigten die Leipziger Richter letztinstanzlich, dass der Stadtratsbeschluss vom Dezember 2017 in den Schutzbereich der Meinungsfreiheit eingreift, weil er, so heißt es in der Pressemitteilung des Gerichts [2], "eine nachteilige Rechtslage – den Ausschluss von der Benutzung öffentlicher Einrichtungen – an die zu erwartende Kundgabe von Meinungen zur BDS-Kampagne oder zu deren Inhalten, Zielen und Themen knüpft. Die darin liegende Beschränkung der Meinungsfreiheit ist verfassungsrechtlich nicht gerechtfertigt.“
Eingriffe in die Meinungsfreiheit seien laut Grundgesetz nur durch und auf Grundlage von "allgemeinen Gesetzen“ möglich, sagte die Vorsitzende Richterin Ulla Held-Daab. Diese Anforderung verfehle das Münchener Raumverbot jedoch gleich dreifach, so das BVerwG. Erstens sei ein Stadtratsbeschluss kein Gesetz. Zweitens sei der Münchener Beschluss nicht meinungsneutral. Und drittens sei er auch nicht zum Schutz allgemeiner Rechtsgüter erforderlich. Dies wäre vor allem dann der Fall, so Held-Daab, wenn mit Straftaten zu rechnen ist und wenn das Feld der friedlichen Auseinandersetzung verlassen wird. Dass auf Rieds Diskussionsveranstaltung mit Straftaten zu rechnen wäre, hatte bereits der VGH verneint. An diese Feststellung war das BVerwG in der Revision gebunden.
Das Urteil des Bundesverwaltungsgerichts ist bundesweit wirksam. Zukünftig dürfen Städte also nur dann kommunale Räume für BDS-Veranstaltungen verweigern, wenn eine ernsthafte Gefahr von Straftaten droht, etwa Volksverhetzung und Beleidigungen.
Während das Urteil einerseits mit großer Erleichterung aufgenommen wurde, stieß es auch auf starke Kritik. Münchens Oberbürgermeister Dieter Reiter (SPD) bezeichnete die Entscheidung des Gerichts als einen "Rückschlag“. Er appelliert wie auch der Zentralrat der Juden in Deutschland an die Landesregierung und an den Bund, unverzüglich zu prüfen, ob eine "gesetzliche Grundlage geschaffen werden kann", um Veranstaltungen zu BDS künftig verbieten zu können.
"Durch die Klarstellung der Rechtslage sind deshalb Debatten zum Nahostkonflikt in unserem Haus wieder möglich."
Münchner EineWeltHaus
Der nunmehr aufgehobene Stadtratsbeschluss hatte über vier Jahre zur Folge, dass in München keine Vorträge und Veranstaltungen mehr über die Auswirkungen der israelischen Besatzung und Siedlungspolitik stattfinden konnten. Auch nicht-städtische Organisationen wie die Caritas waren unter Druck gesetzt worden, ihre Räumlichkeiten nicht für Veranstaltungen mit dem Thema BDS zur Verfügung zu stellen.
Erleichtert reagiert der Vorstand des EineWeltHauses (EWH) auf das Leipziger Gerichtsurteil. Das EineWeltHaus, ein Zentrum für Veranstaltungen von Initiativen und Nichtregierungsorganisationen, musste, wie auch in anderen städtischen Kultureinrichtungen, eine rigide inhaltliche Programmkontrollen durchführen und Veranstaltungen mit regierungskritischen Perspektiven auf die israelische Staatsführung bzgl. des israelisch-palästinensischen Konflikts untersagen.
Jetzt heißt es in einer Presserklärung: "Der Vorstand des EineWeltHaus ist erleichtert, dass durch das Leipziger Gerichtsurteil dem Stadtratsbeschluss die juristische Grundlage entzogen wurde, um eine kritische Auseinandersetzung mit der BDS-Bewegung zu verbieten. Durch die Klarstellung der Rechtslage sind deshalb Debatten zum Nahostkonflikt in unserem Haus wieder möglich." (zur Presserklärung hier)
Pressemitteilung des Vorstandes des EineWeltHauses München:
Debatten zum Nahostkonflikt im EineWeltHaus wieder möglich!
Der Vorstand des Trägerkreis EineWeltHaus München e.V. begrüßt das BDS-Urteil des Bundesverwaltungsgerichts in Leipzig vom 20.01.2022
München, 08.02.2022
Am 13.12.2017 beschloss der Stadtrat München, keine städtischen Räume mehr für Veranstaltungen zur Verfügung zu stellen, die sich mit Inhalten, Themen und Zielen der BDS-Bewegung befassen. Dies hatte im EineWeltHaus, wie auch in anderen städtischen Kultureinrichtungen, zur Folge, dass rigide inhaltliche Programmkontrollen durchgeführt werden mussten und Veranstaltungen mit regierungskritischen Perspektiven auf die israelische Staatsführung bzgl. des israelisch-palästinensischen Konflikts untersagt wurden. Dieser Beschluss ist nun vom Leipziger Bundesverwaltungsgericht gekippt worden.
Der Stadtrat München beschloss am 13.12.2017, keine städtischen Räume mehr für Veranstaltungen zur Verfügung zu stellen, welche in Zusammenhang mit dem Nahostkonflikt die gegenüber Israel regierungskritische BDS-Bewegung (Boycott, Divest, Sanctions) thematisierten.
Im Frühjahr 2018 hatte Klaus Ried, ein Münchner Bürger, daraufhin zu einer Veranstaltung mit dem Thema „Wie sehr schränkt München die Meinungsfreiheit ein? – Der Stadtratsbeschluss vom 13.12.2017 und seine Folgen“ im Stadtmuseum München eingeladen. Das Stadtmuseum musste auf Betreiben des Stadtrats die Veranstaltung absagen. Klaus Ried klagte daraufhin gegen die Stadt. Diese bekam in erster Instanz (Verwaltungsgericht München) recht, in zweiter Instanz wurde das Urteil jedoch vom bayerischen Verwaltungsgericht gekippt. Der Stadtrat legte daraufhin Revision ein.
Am 20.01.2022 entschied nun das Bundesverwaltungsgericht in Leipzig, der Revision des Münchner Stadtrats auf die Entscheidung des Landesverwaltungsgerichts nicht stattzugeben. Das Urteil bedeutet in seiner Konsequenz, dass die Stadt München die Nutzung eines städtischen Veranstaltungssaals nicht in Hinblick auf Veranstaltungen über die BDS-Kampagne einschränken darf.
Der EineWeltHaus-Vorstand begrüßt das deutliche Urteil des Bundesverwaltungsgerichts. „Die Entscheidung stellt juristisch endgültig klar, dass der Münchner Stadtratsbeschluss von 2017 in diesem speziellen Fall das in Artikel 5, Absatz 1 des Grundgesetzes verankerte Recht zur freien Meinungsäußerung nicht berücksichtigt hat“, so Ralf Schauer vom Vorstand.
In den letzten Jahren ist das EineWeltHaus wie andere Kulturbetriebe vom Stadtratsbeschluss in besonderer Weise betroffen gewesen und war damit konfrontiert, eine rigide inhaltliche Programmkontrolle durchzuführen. Geschäftsführer Stephan Kowalski erläutert, dass Veranstaltungen, welche die desolate Situation von Palästinenser*innen in den israelisch besetzten Gebieten und in diesem Kontext regierungskritische Perspektiven auf die israelische Staatsführung beleuchten sollten, nicht zugelassen waren.
Das EineWeltHaus positioniert sich gegen jegliche Form von Rassismus und verurteilt den in Deutschland zunehmenden Antisemitismus. „Wir behalten uns jedoch eine heterogene regierungs- und gesellschaftskritische Haltung gegenüber allen Systemen vor, wenn Menschenrechte verletzen werden“, bestärkt Vorständin Modupe Laja.
Der Vorstand des EineWeltHaus ist erleichtert, dass durch das Leipziger Gerichtsurteil dem Stadtratsbeschluss die juristische Grundlage entzogen wurde, um eine kritische Auseinandersetzung mit der BDS-Bewegung zu verbieten. Durch die Klarstellung der Rechtslage sind deshalb Debatten zum Nahostkonflikt in unserem Haus wieder möglich.
Pressekontakt:
Caren Biersack
Trägerkreis EineWeltHaus München e.V.
Schwanthalerstr. 80, 80336 München
Tel.: 089-85 63 75 44
www.einewelthaus.de
Anmerkungen:
[1] "Boycott, Divestment and Sanctions" (BDS) ist eine durch die Bewegung gegen die Apartheid in Südafrika inspirierte, transnationale politische Kampagne, die darauf abzielt, Israel gewaltfrei zur Einhaltung des Völkerrechts zu drängen. Gefordert werden ein Ende der Besatzung, Kolonisierung oder Blockade von Ostjerusalem, der Westbank, Gaza und der Golanhöhen, rechtliche Gleichheit für die arabisch-palästinensischen und jüdischen Bürger Israels sowie die Durchsetzung des in der UN-Resolution 194 garantierten Rückkehrrechts der Nachfahren der bei Staatsgründung 1948 vertriebenen palästinensischen Flüchtlinge. Der Bundestag hat die BDS-Kampagne 2019 als antisemitisch eingestuft. So wird der Aufruf zum Boykott israelischer Produkte demagogisch mit der Forderung der Nazis, nicht bei Juden zu kaufen, gleichgesetzt und BDS-Unterstützern unterstellt, das Existenzrecht Israels zu leugnen.
siehe z.B. kommunisten.de, 27.9.2019: "Innenminister wollen BDS-Bewegung als verfassungsfeindlich verbieten"
https://kommunisten.de/rubriken/deutschland-100/7656-innenminister-wollen-bds-bewegung-als-verfassungsfeindlich-verbieten
[2] Bundesverwaltungsgericht, Pressemitteilung Nr. 6/2022 vom 20.01.2022: "Themenbezogene Widmungsbeschränkung verletzt Meinungsfreiheit"
https://www.bverwg.de/de/pm/2022/6
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