18.01.2011: Das Statistische Bundesamt und die Bundesregierung haben 2010 mit einem Wachstum des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von 3,6 % pflichtschuldigst als Jahr des "rasanten Aufschwungs nach der Krise" gefeiert. Doch erstens ist der Aufschwung eher weniger rasant. Im Vorjahr betrug das BIP-Minus 4,7% und Deutschland liegt Ende 2010 auf dem Niveau des Jahres 2007. Und zweitens baut der Aufschwung auf Sand, nämlich ganz überwiegend auf den Exporterfolgen und die werden 2011 wegen der Wachstumsschwäche der Weltmärkte erheblich zurück gehen.
Wahrheitswidrig behauptet das Statistische Bundesamt, es sei "bemerkenswert, dass die Wachstumsimpulse nicht nur vom Außenhandel, sondern auch aus dem Inland kamen". Wahr hingegen ist, dass die Exporte, die in Deutschland 48% des BIP ausmachen, mit einem Wachstum von 14,2 % der entscheidende Treiber der Wirtschaftsentwicklung waren. Demgegenüber fiel die Steigerung des privaten Konsums - der angeblich ein wesentlicher Wachstumsfaktor sei - mit 0,5 % ausgesprochen mickrig aus. Die Zunahme der Investitionen um 9,4 % ist in erster Linie eine vom Export abgeleitete Größe. Die Industrien und Gewerbe, die sich Chancen auf den auswärtigen Märkten ausrechnen, investieren, die binnenorientierten lassen es bleiben.
Das Wachstum 2010 zeigte das übliche kapitalistische Gesicht: Die einen, die Arbeiter und Angestellten, erarbeiten die Werte, die anderen, die Unternehmer und Vermögensbesitzer, streichen den Reichtum ein. Das preisbereinigte BIP je Erwerbstätigem ist im Vergleich zum Vorjahr um 3,1 % gestiegen, doch hat sich das Arbeitnehmerentgelt nur um 2,6 % erhöht, blieb also unter dem Wert der zusätzlich hergestellten Produkte. Dementsprechend sind die Unternehmens- und Vermögenseinkommen nach oben geschossen: um satte 13,2 %. 2010 war ein Jubeljahr für Reiche und Unternehmer.
Die Aussichten für 2011 und danach fallen selbst in den Analysen der Kapital-Propagandisten düsterer aus. So wird das Feld der Wachstumsimpulse, also die auswärtigen Märkte, immer enger und karger. Das Weltwachstum wird im kommenden Jahr schrumpfen. Die internationalen Prognosen sehen noch die Hälfte des 2010-Wachstums vor, was auch für die Schwellenländer - China, Indien, Brasilien - wie für die USA gilt. Hier liegen wesentliche Exportmärkte der von Deutschland aus operierenden Unternehmen. Deren Geschäftsvolumen wird zusammenschnurren.
Der Hauptteil der deutschen Exporte aber liegt in der EU bzw. der Eurozone. Hier realisieren die "deutschen" Unternehmen zwei Drittel ihrer Exporte. Die deutschen Exporterfolge, die Leistungsbilanzüberschüsse, führten im Gegenzug bei den Euro-Partnern zu Defiziten, die wiederum nur mit Schulden auszugleichen waren. Nun steht die Verschuldungsfähigkeit der "Partner" zur Debatte. Nur mit größten Mühen können sich die Schuldnerstaaten noch über die Finanzmärkte finanzieren. Würden die EU-Institutionen - zusammen mit dem Internationalen Währungsfonds - nicht ständig neue Kredite und Garantien in Aussicht stellen, wären Griechenland, Irland, Spanien, Portugal und auch wohl Italien und Frankreich kaum mehr lebensfähig, was heißt, die Zinsen der neu aufzunehmenden Kredite würden die Zahlungsfähigkeit der Länder weit übersteigen, Staatsbankrotte wären die Regel. Griechenland zum Beispiel muss in diesem Jahr noch 20 Milliarden Euro aufnehmen, um seine Schulden zurück zu zahlen. Bei einem Zinssatz von 7 % sind das 1,4 Milliarden Euro mehr pro Jahr für ein Land, das schon jetzt den Schuldendienst nur abwickeln kann, indem es sich immer weiter neu verschuldet.
Nicht viel besser sieht es übrigens für Deutschland selbst aus. 2010 nahm Deutschland netto 44 Milliarden Euro Kredite auf, 3,5 % des BIP, also klar über der EU-Vorschrift zur Neuverschuldung. Ein neuer Verschuldungsrekord der Bundesrepublik, Herr Schäuble hat Herrn Waigel als Rekordschuldenmacher abgelöst. Die öffentlichen Hände Deutschlands weisen heute eine Verschuldung von 1,8 Billionen Euro auf, mehr als dreimal soviel wie 1990. Bund, Länder und Gemeinden müssen heute weit über 60 Milliarden Euro allein für Zinsen ausgeben, weswegen natürlich bei den Sozialausgaben weiter gekürzt werden muss.
Welche Optionen sieht die deutsche Politik in Vertretung der Interessen des hier ansässigen Kapitals? Sie verfolgt eine Doppelstrategie. Zum einen will sie über den "Stabilitäts- und Wachstumspakt" der EU eine effektive Kontrolle über die Haushalts- und Finanzpolitik der Mitgliedsländer erwirken. Ein wesentliches Hilfsmittel dafür sind die von der EU bewilligten Kredite, für die Kreditnehmer im Gegenzug ihre Autonomie in diesen für einen Staat wesentlichen Bereichen aufgeben sollen. Damit könnte die deutsche Regierung zusammen mit der EU-Kommission und dem Internationalen Währungsfonds dafür sorgen, dass diese Länder dem Zugriff der überlegenen Wirtschaftsmacht noch schutzloser ausgeliefert sind und ihre inneren Gesetze dem Prinzip einer "nationalen Wettbewerbsgesellschaft" möglichst perfekt entsprechen.
Zum andern bereitet die Bundesregierung, allen Dementis zum Trotz, die Vergrößerung der EU-Rettungsschirme vor. Es geht letzten Endes darum, was schon im Zentrum der Maßnahmen gegen die Finanzkrise stand: eventuelle Kosten sind von der Allgemeinheit zu übernehmen. Die deutsche Regierung hat eine klare Strategie: Unsere Exporterfolge sind zu bezahlen von den per Sparprogrammen geduckten Bevölkerungen unserer "Partnerländer", wenn das nicht ausreicht, greifen Rettungspakete, die von den Bevölkerungen der EU-Länder bezahlt werden.
txt: Conrad Schuhler (Nachdruck mit freundlicher Genehmigung des Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung München isw )
foto: Mathias Wodrich