09.02.2010: Nun ist es amtlich: Die seit 2005 geltenden Hartz-IV-Regelsätze für Erwachsene und Kinder sind verfassungswidrig. Das entschied am Dienstag das Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. In der Begründung hieß es, dass die Berechnung der Regelsätze nicht korrekt ermittelt worden seien. Daher genügen die gesetzlichen Vorschriften nicht dem Grundrecht auf Gewährleistung eines menschenwürdigen Existenzminimums. Die Berechnung müsse nun in einem transparenten und sachgerechten Verfahren nach dem tatsächlichen Bedarf neu erfolgen.
In ersten Stellungnahmen begrüßten Gewerkschaften, Sozial- und Erwerbslosenverbände die Entscheidung des Gerichtes. „Es ist schon lange klar, dass die gültigen Regelsätze für Kinder im Sozialgeldbezug den wirklichen Bedarf nicht decken. Ein etwa achtjähriges Kind kann von 251 Euro im Monat nicht vernünftig ernährt und gekleidet werden, geschweige denn am normalen Leben seiner Altersgruppe teilnehmen. Soziale Ausgrenzung, schlechtere Bildungschancen und gesundheitliche Defizite sind die Folgen“, erklärte der AWO-Bundesvorsitzende Wolfgang Stadler. „Wenn jetzt zur bürokratischen Ermittlung komplizierter Regelsätze ein weiterer Streit um Centbeträge in unübersichtlichen Warenkörben anhebt, wird das wirkliche Problem weiter verdeckt“, unterstreicht GEW-Vorsitzender Ulrich Thöne. Bereits vor Jahren habe das Bundesverfassungsgericht das sächliche Existenzminimum von Kindern mit 322 Euro im Monat beziffert. Hinzu kam der Bedarf für Bildung, Betreuung und Erziehung von 180 Euro im Monat.
Der Hartz-IV-Regelsatz für Erwachsene liegt bisher bei 359 Euro monatlich, bei Inkrafttreten des Gesetzes Anfang 2005 waren es noch 345 Euro. Bei Kindern und Jugendlichen sind die Leistungen gestaffelt, und zwar ausgehend vom Regelsatz: Unter sechs Jahren gibt es 60 Prozent (215 Euro), unter 14 Jahren 70 Prozent (251 Euro), darüber 80 Prozent (287 Euro).
Mit diesem Urteil wird ein Aspekt der Verteilungsfrage des gesellschaftlichen Reichtums in unserem Land neu aufgeworfen, die natürlich mit einer Machtfrage verbunden ist. So forderte die FDP-Bundestagsfraktionschefin Birgit Homburger ein „Hartz-IV-System aus einem Guss“, Ziel ihrer Partei sei ein Bürgergeldmodell. Nicht nur Bundesfinanzminister Wolfgang Schäuble (CDU) wies in einer ersten Erklärung darauf hin, dass die Verfassungsrichter keinesfalls mehr Geld für die Hilfebedürftigen verlangt hätten. In der Koalition wurde sogar der Ruf nach einer Kürzung des Regelsatzes von 359 Euro laut.
"Das Bundesverfassungsgericht hat nicht gesagt, dass die Hartz IV-Sätze zu niedrig sind", sagt Peter Weiß, Vorsitzender der Arbeitnehmergruppe in der Unions-Bundestagsfraktion sagte gegenüber der Frankfurter Rundschau. "Das Bundesverfassungsgericht hat nicht gesagt, dass die Hartz IV-Sätze zu niedrig sind. Eine Reform sollte aus meiner Sicht zu niedrigeren Regelsätzen führen“. Einzelne FDP-Abgeordnete sprachen sich ebenfalls für eine Kürzung der regelleistungeen, auch ohne Ausglweich durch höhere Einzelfallleistungen aus.
Die bisherigen Regelungen dürfen bis zum Jahresende weiter gelten, zum 1. Januar 2011 hat die Bundesregierung die Berechnungsgrundlage neu zu regeln. Hier sind die Gewerkschaften, die Sozial- und Erwerbslosenverbände und die Parteien gefordert Druck zu entwickeln.
Der DKP-Vorsitzende Heinz Stehr sieht durch das Urteil die Kritik seiner Partei an der ALG-II-Praxis bestätigt: „Jetzt ist es an der Zeit, Alternativen zu dem Hartz-IV-Unrecht aufzuzeigen. Tragen wir die Forderungen nach Arbeitszeitverkürzung bei vollem Lohn und Personalausgleich, nach existenzsichernden Mindestlöhnen und nach einer unbegrenzten Zahlung des Arbeitslosengeldes I in die öffentliche Debatte und auf die Straße.“
Text: Werner Sarbok (Vorabdruck aus UZ vom 12. Febr. 2010)
Bundesverfassungsgericht: Eine schallende Ohrfeige, die nicht besonders weh tut
Analyse von Wolfgang Lieb (Nachdenkseiten)
siehe auch: Eine Reparatur des Schamtuches der Bourgeoisie (Kommentar von Jörg Miehe)
Ver.di : Das Grundsatzurteil des Bundesverfassungsgerichtes zu Hartz IV - eine juristische Einschätzung
"Die Entscheidung des Gerichts empfinde ich als "süß-säuerlich", so Peter Schmitz, Sozialrechtler bei der Vereinten Dienstleistungsgewerkschaft (ver.di). Er vertrat die Klage einer Familie aus Bayern beim Bundesverfassungsgericht in Karlsruhe. Die ver.di-Internetredaktion fragte ihn, wie er das Grundsatzurteil vom 9. Februar 2010 einschätzt und ob die Betroffenen mit konkreten Verbesserungen rechnen können.
Hartz-IV-Ratschlags der UZ-Redaktion
„Regelsätze verfassungswidrig – wie weiter gegen Hartz IV?“ ist eines der Themen des zweiten Hartz-IV-Ratschlags der UZ-Redaktion.
Er findet statt am 30. März ab 19.00 Uhr in der Geschäftsstelle der DKP, Hoffungstrasse 18 in Essen.