26.07.2022: In diesen Tagen organisieren lokale Sektionen der antifaschistischen Associazione Nazionale Partigiani d'Italia (ANPI) in über 100 italienischen Städten und Gemeinden auf öffentlichen Plätzen Nudelessen ++ verbreitet wird der Aufruf "Für einen Friedensvorschlag der Europäischen Union“
Am 79. Jahrestag des Sturzes des Faschismus werden auch in diesem Jahr in ganz Italien Initiativen zum Gedenken an die Pastasciutta stattfinden, die den Einwohnern von Campegine am 25. Juli 1943 von der Familie Cervi zur Feier des Ereignisses angeboten wurde.
Der historische Hintergrund dieser Tradition ist so einfach wie beeindruckend.
Am 25. Juli 1943 wurde der faschistische Diktator Italiens, Benito Mussolini, nach einer Sitzung des Großen Rates des Faschismus entlassen und verhaftet. Nach 21 Jahren endete die Regierung der faschistischen Partei. Der König ernannte den Armeemarschall Pietro Badoglio zum neuen Regierungschef. Trotz des Sturzes des Faschismus ging der Krieg von Seiten der deutschen Besatzer weiter: In den Tagen nach der Verhaftung kommt es zu zahlreichen Volksaufständen; am 28. Juli schießen Soldaten in Reggio Emilia auf die Arbeiter der Officine Reggiane, wobei 9 Menschen sterben.
Als sich am 25. Juli 1943 die Nachricht vom Sturz des Faschismus durch die Absetzung und Verhaftung von Benito Mussolini verbreitete, hatte die Familie Cervi in der Reggio Emilia eine großartige Idee. Obwohl sie wussten, dass der Krieg nicht wirklich zu Ende war, beschlossen sie, das Ereignis trotzdem öffentlich zu feiern: Sie beschafften Mehl, nahmen Butter und Käse auf Kredit und bereiteten kiloweise Nudeln zu. Als das Essen fertig war, beluden sie eine Pferdekarre und brachte die Pasta auf den Platz in Campegine, um das Essen an die Dorfbewohner zu verteilen. Sogar ein Junge in einem schwarzen Hemd (vielleicht war es das letzte, das noch übrig war?) wurde von Aldo Cervi eingeladen, mitzumachen und seinen Teller mit Nudeln zu essen. Das sei "die schönste Beerdigung des Faschismus" gewesen, wie Alcide "Papa“ Cervi erklärte.
Die Familie Cervi, die in Gattatico einen gepachteten Hof bewirtschaftete, hatte sieben Söhne, die sich alle in unterschiedlicher Form gegen den Faschismus engagierten. Aldo Cervi verbüßte wegen Befehlsverweigerung im Militär drei Jahre Haft im Gefängnis. Sein Bruder Gerlindo Cervi wurde wegen illegaler Arbeit mehrfach verhaftet. 1943 verübten Ferdinando und Massimo Cervi ihre erste Sabotageaktion, sie unterbrachen eine für die Faschisten wichtige Stromversorgung.
Nach dem Sturz Mussolinis wurde der Hof der Cervis Anlaufstelle für die vielen Flüchtlinge. Italienische Soldaten ebenso wie politische Gefangene und italienische Kriegsgefangene, die nach dem Sturz Mussolinis aus den Gefängnissen fliehen konnten. Hier erhielten sie ein Versteck, bekamen Nahrung, Kleidung und Informationen um unterzutauchen.
Nach der Besatzung Italiens am 8. September 1943 durch die Deutschen organisierten die Cervis den bewaffneten Widerstand. Anfang Oktober gingen die sieben Cervi-Brüder mit anderen in die Berge. Ende Oktober überfielen sie eine Polizeistation, um an Waffen zu gelangen. Danach zogen sie sich wieder in die Berge zurück. Unterstützung erhielten sie von dem Priester Don Pasquino Borghi, der den Partisanen Unterschlupf gewährte.
Der Versuch, einen hohen faschistischen Funktionär aus Reggio Emilia zu entführen und zu liquidieren, misslang, sorgt aber für Aufsehen und Sympathie in der Bevölkerung.
Am 25. November 1943 erfolgte der Gegenschlag der Besatzer. Das Haus der Cervis wurde vom faschistischen Militär umstellt, alle Männer verhaftet, die Frauen und Kinder auf die Straße getrieben und das Haus angezündet. Alcide "Papa“ Cervi, die sieben Brüder und einer ihrer Genossen wurden in das Zuchthaus "Servi“ für politische Gefangene nach Reggio Emilia gebracht. Während Alcide wieder entlassen wurde, blieben die sieben Brüder in Haft.
Als im Dezember 1943 andere Partisanen zwei hohe faschistische Militärs töteten, wurde von den faschistischen Machthabern von Reggio Emilia ein Exempel statuiert. Die sieben Brüder werden am 28. Dezember 1943 um 6.30 Uhr mit ihrem Genossen erschossen. Kurz nach ihnen wurde auch Don Pasquino Borghi hingerichtet.
Alcide Cervi: |
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Adelmo Cervi:
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Die Erinnerung an die "Fratelli Cervi“ ist bis heute in Italien präsent. Sie ist verbunden mit dem Wissen um die antifaschistische Tradition des Landes.
In dieser Tradition organisieren am letzten Wochenende im Juli lokale ANPI-Sektionen in über 100 italienischen Städten und Gemeinden auf öffentlichen Plätzen Nudelessen.
ANPI hat in diesem Jahr dazu aufgerufen, mit der Geschichte und der Erinnerung an die Cervis das Thema des Friedenskampfes zu verbinden. Dazu wird der Aufruf an die Europäische Union "Für einen Friedensvorschlag der Europäischen Union“, der von ANPI, Gewerkschaften, Friedensinitiativen und anderen gesellschaftlichen Kräften unterstützt wird, verbreitet.
In diesem Aufruf (Auszug in deutscher Sprache hier) wird die EU aufgefordert, "eine konkrete Friedensinitiative zu fördern" und "ein zuverlässiger Vermittler" für eine Lösung des Krieges in und um die Ukraine zu werden "und nicht nur Entscheidungen, die in erster Linie Europa betreffen, an die Vereinigten Staaten von Amerika und die NATO zu delegieren". Die Vereinten Nationen, "aber vor allem die Europäische Union" werden aufgefordert, "unverzüglich die Verantwortung für einen Vermittler zu übernehmen, der so schnell wie möglich einen Waffenstillstand in der Ukraine ermöglicht und um jeden Preis eine Ausweitung und Eskalation des Konflikts in anderen Regionen Europas verhindert".
FÜR EINEN FRIEDENSVORSCHLAG DER EUROPÄISCHEN UNION
Auszug
"… Wir stehen an der Seite des vom Krieg gebeutelten ukrainischen Volkes, das Opfer der russischen Aggression ist. Die Ukraine leistet in vielerlei Hinsicht Widerstand, militärisch und zivil, aber ein Krieg ist immer eine Niederlage, für alle Beteiligten, für die Diplomatie und für die Politik. In den letzten Tagen wächst die Besorgnis über die dramatische Verschärfung eines schrecklichen Konflikts, der zu einem tragischen Weltkrieg führen könnte und der bereits jetzt eine Nahrungsmittelkrise auslöst, die von so vielen Menschen und insbesondere in einigen der ärmsten Länder der Welt bezahlt wird.
Es liegt in der Verantwortung der Europäischen Union, eine konkrete Friedensinitiative zu fördern. … Die EU muss sofort mit einer Stimme sprechen, mit dem gemeinsamen Vorstoß des Europäischen Parlaments und der Kommission, um ein zuverlässiger Vermittler zu werden und nicht nur Entscheidungen, die in erster Linie Europa betreffen, an die Vereinigten Staaten von Amerika und die NATO zu delegieren.
Wir müssen darauf hinarbeiten, dass in Europa ein neues Klima der Eintracht entsteht und, wie Präsident Mattarella in Straßburg sagte, "ein Dialog, kein Kräftemessen zwischen Großmächten, die sich bewusst werden müssen, dass sie es immer weniger sind.
Die Verhandlungen über ein endgültiges Friedensabkommen müssen sofort aufgenommen werden!
Russland muss seine Militäroperationen sofort einstellen, und wir fordern alle beteiligten Parteien auf, Friedensgespräche aufzunehmen, und wir fordern gleichzeitig den sofortigen Abzug der russischen Truppen.
Wir fordern alle internationalen Organisationen, in erster Linie die Vereinten Nationen, aber vor allem die Europäische Union, auf, unverzüglich die Verantwortung für einen Vermittler zu übernehmen, der so schnell wie möglich einen Waffenstillstand in der Ukraine ermöglicht und um jeden Preis eine Ausweitung und Eskalation des Konflikts in anderen Regionen Europas verhindert.
Wir fordern, dass die Europäische Union und unsere Regierung im Rahmen der Generalversammlung der Vereinten Nationen entschlossen gegenüber dem Sicherheitsrat tätig werden, um Friedenstruppen unter der Flagge der Vereinten Nationen zu entsenden, die die Einhaltung des Waffenstillstands sicherstellen und den Schutz der Zivilbevölkerung zu ihrer Priorität machen. Die humanitären Maßnahmen müssen in der Ukraine und an ihren Grenzen intensiviert werden. Den Vereinten Nationen muss ein sicherer und ungehinderter Zugang zu allen Konfliktgebieten garantiert werden.
Wir fordern die sofortige Einrichtung eines sicheren humanitären Korridors für Flüchtlinge und Vertriebene sowie die Durchleitung lebensrettender medizinischer Hilfsgüter und medizinischen Personals.
…
Wir fordern die Europäische Union auf, ein gemeinsames und interdependentes europäisches Sicherheitssystem zu aktivieren, eine echte Verteidigungs- und Sicherheitsunion mit zwei "Armen", einem nicht-aggressiven militärischen und einem gewaltfreien zivilen, deren Ziele explizit gemacht und geklärt werden sollten, die ausschließlich auf die interne Verteidigung des Territoriums der Union und ihrer Mitgliedsstaaten und extern nur auf die Friedenssicherung und strikt als friedenserhaltende Kräfte ausgerichtet sein sollten, während gleichzeitig unbewaffnete zivile Verteidigungsnetze und gemeinsame Politiken der internationalen Zusammenarbeit für nachhaltige Entwicklung strukturiert werden.
Wir fordern, dass die EU die Regeln für die Aufnahme von Flüchtlingen und Einwanderern und all jenen, die vor Krieg, Gewalt und Elend fliehen, neu festlegt. Die Aufnahme der ukrainischen Flüchtlinge hat gezeigt, dass die Europäische Union schnell und wirksam handeln kann, indem sie das Instrument des vorübergehenden Schutzes einsetzt und die Reform der Dublin-Verordnung abschließt.
Wir fordern die Europäische Union auf, im Rahmen der OSZE und der Vereinten Nationen und ausgehend von den bestehenden internationalen Vereinbarungen (Helsinki-Abkommen von 1975) einen Vertrag zwischen allen am Konflikt beteiligten Akteuren zu fördern, der alle bisher von einzelnen europäischen Ländern nach dem Zufallsprinzip durchgeführten Aktivitäten überwindet. Nur eine internationale Konferenz kann die Frage der multilateralen, stabilen und gemeinsamen Abrüstung angehen, die für das Überleben der Menschheit in einer Zeit, in der Massenvernichtungswaffen zunehmend von künstlicher Intelligenz gesteuert werden, und für den weltweiten sozialen und wirtschaftlichen Fortschritt von vorrangiger Bedeutung ist.
Die Europäische Union, eine Gemeinschaft von Völkern und ein großartiges Laboratorium für die friedliche Integration von Staaten, kann den Aufbau eines Systems des multilateralen geopolitischen Gleichgewichts unter Wahrung unterschiedlicher politischer und wirtschaftlicher Regime fördern und der Entwicklung einer gemeinsamen Weltordnungspolitik Impulse verleihen.
Aus diesem Grund müssen dringend tiefgreifende Reformen der internationalen Institutionen in Angriff genommen werden, angefangen bei der UNO, ihren Strategien und den mit ihr verbundenen multilateralen Gremien.
Associazione Nazionale Partigiani d'Italia (ANPI)
Associazione Ricreativa Culturale Italiana (ARCI)
Movimento europeo
Rete italiana pace e disarmo
Marco Tarquinio (Direktor der katholischen Zeitschrift dell'Avvenire)
Rom, 20. Juni 2022
(eigene Übersetzung aus dem italienischen)
Quellen:
FIR Newsletter 2022-29
Museo Cervi, https://www.istitutocervi.it: L’origine della Pastasciutta Antifascista
ANPI, https://www.anpi.it
Aufruf: https://www.anpi.it/articoli/2699/per-una-proposta-di-pace-dellunione-europea
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