Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW) auf der Suche nach einem neuen Denker und Lenker
24.09.2021: Nach nur dreißig Monaten verlässt Gabriel Felbermayr das Kieler "Institut für Weltwirtschaft" (IfW) in Richtung Wien, um am dortigen "Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung" den Chefsessel einzunehmen ++ Das Kieler Institut gilt als ein Hort des Ordoliberalismus. Das war nicht immer so: Anfang der 1920er Jahre kam die Mitarbeiterschaft des Instituts zu einem Großteil aus Linken aus dem gesamten politischen Spektrum und machten das Kieler Institut für einige Jahre zum Impulsgeber für linke wirtschafts- und gesellschaftspolitische Konzepte ++ Günther Stamer zur aktuellen Ausrichtung des IfW, seiner Geschichte und Zukunft.
Das war ein kurzes Gastspiel. Vienna Calling! Nach nur dreißig Monaten verlässt Gabriel Felbermayr das Institut für Weltwirtschaft (IfW) Richtung Wien, um am dortigen "Österreichischen Institut für Wirtschaftsforschung" den Chefsessel einzunehmen. Seine Kieler Instituts-Mitarbeiter*innen bescheinigen ihm, dass er ein "umgänglicher Chef" gewesen sei, "obwohl sein Auftreten mehr an einen McKinsey-Mann erinnert als an einen Wissenschaftler." (Kieler Nachrichten 16.4.21). Kurz vor Dienstschluss (30.9.) durfte er in der Zeitung noch ein Resume seiner kurzen Repräsentanz ziehen. Auf die Frage, ob es Themen gebe, bei denen er passen müsse, gab er freimütig zu: "Ich bin Präsident eines Wirtschaftsinstituts, das breit aufgestellt ist. Deshalb bin ich zu sehr vielen Themen sprechfähig. Es gibt aber auch Themen, wo wir keine Expertise haben (…), zu sozialpolitischen Fragen kann ich zum Beispiel wenig sagen" (KN 14.9.21).
Berufen worden war Felbermayr vor allem, um das IfW wieder mehr auf einen strammen neoliberalen Kurs zu trimmen und dessen Expertise meinungs- und medienstark zu vermarkten. Dafür galt Felbermayr als Idealbesetzung: Als ehemaliger Leiter des Außenhandelsressort des Münchner Ifo-Instituts, der zuvor auch einige Jahre als Unternehmensberater für McKinsey gearbeitet hatte, der bestens vernetzt ist und zudem über die Fähigkeit verfügt, eloquent in der Öffentlichkeit für Freihandel und offene Märkte und gegen Protektionismus und staatliche Lenkung kommunizieren zu können.
An diesem Anforderungsprofil hatte es in den zurückliegenden Jahren am IfW ein wenig gemangelt. Unter Felbermayrs Vorgänger, Dennis Snower, der dem Institut von 2004 bis 2019 vorstand, war die ordo-liberale Linie, die den Markenkern des Kieler Instituts seit Mitte der 60er Jahre ausmachte, ein wenig aufgeweicht worden. Snower hatte versucht, den IfW-Kurs insofern zu modifizieren, als dass er dafür warb und Wirtschaft und Politik ausdrücklich in die Pflicht zu nehmen, sich für "nachhaltigen und inklusivem Wohlstand in der globalisierten Welt" einzusetzen und den ökonomischen Blick über eine EU-zentrierte Standortlogik hinaus zu weiten.
Diese vorsichtige Kurskorrektur in der ökonomischen Sichtweise wurde schnell abgestraft. Das IfW flog aus dem "Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung", umgangssprachlich die "fünf Wirtschaftsweisen" genannt. Dieses Gremium berät die Bundesregierung seit 1963 mit einer wissenschaftlichen Expertise über die gesamtwirtschaftliche Entwicklung und hilft dieser bei der "Urteilsbildung" über grundsätzliche wirtschaftspolitische Maßnahmen. Snowers Vorgänger als IfW-Präsidenten, Herbert Giersch und Horst Sievert, waren seit Gründung dieses Gremiums bis 2003 tonangebende Mitglieder dieses erwählten Zirkels, der aus fünf Mitgliedern besteht, die auf Vorschlag der Bundesregierung berufen werden.
Diesen Verlust an wirtschaftspolitischer Reputation (verbunden mit finanziellen Einbußen seitens der Bundesregierung) versuchte das IfW unter Snower durch die Etablierung des "Global Economic Symposium" zu kompensieren, eine Art kleine Schwester des Davoser Weltwirtschaftsforums.
Felbermayr: "Aussetzen der Schuldenbremse ist ökonomisch nicht zu begründen"
Zurück zum scheidenden Präsidenten Felbermayr. Er hat in seiner Kieler Zeit durchaus die in ihn gestellten Erwartungen erfüllt und sich immer wieder gegen staatliche Eingriffe in die sich angeblich "selbstregulierenden Märkte" ausgesprochen. Wirtschaftsliberale Freiheit ja – aber doch staatlich- militärisch gut geschützt. In einem Grundsatzartikel über die Zukunft der Europäische Union schreibt er: "Die EU muss sich viel stärker um die Sicherheitspolitik, breit definiert, kümmern. Es ist traurig, dass die Flüchtlingskrise von 2015 noch nicht zur Herausbildung eines gemeinsamen europäischen Grenzschutzes und zu einer gemeinsamen Asylpolitik geführt hat. Dies würde Transfers in die Randlagen Europs bringen, die nicht aus Wohltätigkeit erfolgen, sondern einer strengen Mehrwertlogik folgen." (FAZ 22.2.19).
Aktuell übt er Kritik an den staatlichen Corona-Hilfen und entwickelte zusammen mit dem IfW-Konjunktur-Chef Stefan Kooths ein Alternativmodell, das zielgerichteter das Eigenkapital der Unternehmen stärken sollte statt pauschal Hilfsprogramme an Umsatz und Fixkosten auszurichten.
Und das IfW fordert ein zügiges Zurück zur "Schwarzen Null": "Mit der durch zunehmendem Impfschutz erfolgten Erholung der Binnenwirtschaft entfällt zugleich jede Grundlage für Staatsausgaben auf Pump im großen Stil. Ein abermaliges Aussetzen der Schuldenbremse ist ökonomisch nicht zu begründen. Das strukturelle Defizit des Staates fällt im kommenden Jahr um 40 Milliarden Euro zu hoch aus. Die nächste Bundesregierung steht somit von Beginn an unter Konsolidierungsdruck, zumal von Jahr zu Jahr steigende Belastungen durch die demografische Alterung hinzukommen. Hierauf ist das Land unzureichend vorbereitet, die Verteilungskonflikte dürften sich daher in der nächsten Legislaturperiode erheblich verschärfen."[1]
"Die alten Fragen müssen neu gedacht werden für das 21. Jahrhundert", hatte Felbermayr zu Beginn seiner Tätigkeit am IfW als seine Maxime formuliert (FAZ 15.5.2018). Wenn die Erkenntnisse des IfW unter Felbermayr das Neue sein sollen, so wurde wohl eine Zeitmaschine bestiegen, um das Neue im Alten zu suchen, deren Fahrt in die Vergangenheit, ins alte Fahrwasser des IfW führt, als das Institut ein Hort des Ordoliberalismus war.
Ins alte Fahrwasser? Stimmt auch nicht ganz. Blickt man nämlich noch weiter zurück, wird man feststellen, dass es auch Zeiten gab, in denen das Motto, alte Fragen neu zu durchdenken und neue ökonomische Pfade zu beschreiten, zu wissenschaftlicher Produktivität geführt hatten, die man dem gegenwärtigen IfW gar nicht zutraut.
Das war nach der Novemberrevolution und in den 20er Jahren unter Bernhard Harms der Fall und auch in den 50er Jahre unter Fritz Baade.
Bernhard Harms und sein mosaik-linker und multifakultitativer Mitarbeiterstab
Das IfW wurde 1914 als ″Königliches Institut für Seeverkehr und Weltwirtschaft″ von Bernhard Harms gegründet als eine Institution, die sich in einem sehr weit verstandenen Sinne mit wirtschaftlichen und sozialen Fragen der Weltwirtschaft (heute würde man sagen mit der Globalisierung) befasste – und zwar sehr faktenbasiert. So zitiert Lenin z.B. an mehreren Stellen in seiner Schrift "Der Imperialismus als höchstes Stadium des Kapitalismus" (im Original: ″Der Imperialismus als jüngste Etappe des Kapitalismus″) aus Harms‘ Hauptwerk "Volkswirtschaft und Weltwirtschaft. Versuch der Begründung einer Weltwirtschaftslehre".
In den Umbruchzeiten (1918 - Mitte der 20er Jahre) hatte sich um Harms und Ferdinand Tönnies, dem Begründer der Soziologie in Deutschland, ein "Think Tank" von jungen Wissenschaftlern zusammen gefunden, die nach neuen wirtschaftspolitischen und gesellschaftlichen Konzepten forschten und politisch mit den Bestrebungen der Arbeiterklasse sympathisierten und zum großen Teil auch aktiv politisch wirkten. Damit war das Kieler Institut für einige Jahre Impulsgeber für linke wirtschafts- und gesellschaftspolitische Konzepte. Das war in erster Linie dem Institutsleiter Bernhard Harms zu verdanken, "dem neben einem großem organisatorischen Talent, die Begeisterung für einen großen multifakultitativen Mitarbeiterstab und ein gewisses subversives Element gegenüber dem wissenschaftlichen Objektivitätsideal der Volkswirtschaftslehre" zu eigen war.[2]
Neben Harms und Tönnies gehörten zu diesen am IfW forschenden Wissenschaftlern u.a.: Kurt Albert Gerlach, später Gründungsdirektor des Frankfurter Instituts für Sozialforschung und sein Assistent in Kiel und in Frankfurt, Richard Sorge (der spätere Top-Kundschafter der UdSSR in Japan) und Rudolf Heberle, Spezialist für soziale Bewegungen.
Besonders hervorzuheben ist auch Alfred Meusel: Am 19.5.1896 in Kiel geboren, mit einer Arbeit über das Erkenntnisobjekt bei Marx an der Kieler Uni promoviert, war er ab 1946 Professor für Neuere Geschichte an der Humboldt-Universität Berlin und wurde 1952 zum ersten Direktor des Museums für Deutsche Geschichte berufen.
Politisch setzte sich die Mitarbeiterschaft des Instituts zu einem Großteil aus Linken aus dem gesamten politischen Spektrum von SPD (der Bernhard Harms angehörte) über USPD, Spartakisten, Unabhängige und den Rätekommunisten (KAPD) zusammen.
Einen wesentlichen wirtschaftstheoretischen Impuls erhielt das Institut durch die Gründung der Abteilung für Statistische Weltwirtschaftskunde und internationale Konjunkturforschung (Astwik-Abteilung) im Jahre 1926, deren Leiter Adolph Lowe gemeinsam mit Mitarbeitern wie Wassily Leontief international beachtete Forschungsergebnisse veröffentlichte.
Ansätze für eine institutionelle Zusammenarbeit von IfW und staatlichen Stellen waren die "Sozialisierungskommission" (1918) und der sog. "Enquete- Ausschuss" (1926), in der die Lage einzelner Industriezweige wissenschaftlich begutachtet werden sollte. Der Ausschuss publizierte über 100 Gutachten – echten Einfluss auf politische Entscheidungen hatte er aber nicht. Bernhard Harms spielte in diesem Ausschuss als Präsidiumsmitglied eine maßgebliche Rolle und betreute eine Vielzahl der Studien.[3]
IfW als Teil der NS - Kriegsführung
Nach der Machtübertragung an die Faschisten kämpfte Institutsgründer Harms noch vergeblich für einige Wochen gegen die Entlassung jüdischer Mitarbeiter, bis auch er seines Amtes enthoben wurde. Von 1933 bis 1945 war das IfW dann fester Bestandsteil der NS-Kriegsführung, das Gutachten für Wehrmacht, Ministerien, Großbanken und Industrieunternehmen erstellte - einschließlich längerfristiger Pläne für eine "Großraumwirtschaft" in den noch zu erobernden Gebieten.
In der Nachkriegszeit gab es praktisch keine Selbstkritik über das Wirken des Instituts während des Faschismus. Erst 2019 hat der Historiker Gunnar Take in seiner Dissertation umfänglich die Geschichte des IfW im Faschismus aufgearbeitet. Er zeigt darin auf, woran die Wissenschaftler arbeiteten, wie sie dem NS-Regime bei der Durchführung seiner wirtschaftspolitischen und militärischen Vorhaben halfen und untersucht die Prägungen und Handlungsspielräume der Verantwortlichen.[4]
Der Neubeginn: Fritz Baade
1948 – als die rein SPD-besetzten Kabinette Schleswig- Holstein regierten – nahm Fritz Baade (1893–1974) den Ruf der Universität Kiel auf einen Lehrstuhl für Wirtschaftliche Staatswissenschaften an, verbunden mit der Position des Direktors des IfW. Unter seiner Leitung (bis 1961) und dank seiner guten Kontakte in die USA und andere Länder konnte das IfW wieder an die internationale Forschungsgemeinschaft herangeführt werden und seine Rolle als ein bedeutendes Zentrum der Weltwirtschaftsforschung mit umfangreicher Bibliothek und einem Wirtschaftsarchiv ausbauen.
Fritz Baade war 1918/19 Vorsitzender des Arbeiter- und Soldatenrates und Stadtverordneter in Essen. Zunächst Mitglied der USPD, schloss sich bei deren Spaltung dem gemäßigten Flügel an, der sich 1922 mit der SPD vereinigte. Von 1925 bis 1929 leitete er zusammen mit Fritz Naphtali die dem Allgemeinen Deutschen Gewerkschaftsbund angehörige "Forschungsstelle für Wirtschaftspolitik". Diese Forschungsstelle formulierte ein Programm der Wirtschaftsdemokratie und entwickelte 1931 Vorstellungen für eine antizyklische Wirtschaftspolitik. Dieser WTB-Plan, nach seinen Autoren Wladimir Woytinsky, Fritz Tarnow und Fritz Baade benannt, sah die Schaffung von einer Million Arbeitsplätzen durch Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen vor. Dieser Plan fand in der SPD-Führung seinerzeit allerdings keine Mehrheit. Baade emigrierte 1935 in die Türkei und lebte von 1946 bis1948 als Publizist in den USA.
In die Bundesrepublik zurück gekehrt, war er von 1949 bis 1965 SPD-Bundestagsabgeordneter, zuletzt mit Direktmandat des Wahlkreises Kiel. In den 50er Jahren war Baade Gründungsmitglied der "Aktionsgemeinschaft gegen die atomare Aufrüstung der Bundesrepublik". 1965 schlug er westdeutsche Ausgleichszahlungen an die DDR vor, um den gesamtdeutschen Lebensstandard zu vereinheitlichen und der Wiedervereinigung näher zu kommen.
"Die verschwenderische Rüstung sollte beendet werden"
Nachhaltig in Erinnerung bleiben sollte Fritz Baade vor allem wegen eines Buches, das Anfang der 60er Jahre ein Sachbuch-Besteller war: "Der Wettlauf zum Jahre 2000. Unsere Zukunft: Ein Paradies oder die Selbstvernichtung der Menschheit"[5]. Das Buch brachte es bis 1968 auf zwanzig Auflagen – es traf es offenbar den Nerv des Zeitgeistes. Es wurde in zahlreiche Sprachen übersetzt und als Lizenzausgabe sogar in der DDR herausgebracht.
"Ein Paradies oder die Selbstvernichtung der Menschheit". Auf die Gefahren der zweiten Möglichkeit hinzuweisen war das Hauptanliegen von Baades Buch und spiegelte das seinerzeitige Erschrecken über das Wettrüsten wider. Der Autor war zu einer Kooperation mit dem Osten ausdrücklich bereit, um die nicht nur bedrohliche, sondern auch verschwenderische Rüstung umgehend zu beenden. Die Abrüstungsvorschläge Chruschtschows aus dem Jahr 1959 begrüßte der Ostermarschierer Baade daher ausdrücklich. Denn sie seien eine Chance, mit der verhängnisvollen Epoche des Kalten Krieges zu brechen und statt dessen in einen konstruktiven Wettbewerb der Systeme einzutreten.
Bei seinem Ausscheiden als Institutsdirektor in Kiel wurde 1961 eine Konferenz über "Die wirtschaftlichen Folgen der Abrüstung" veranstaltet, zu der u.a. auch der DDR-Wirtschaftswissenschaftler Jürgen Kuczynski anreiste.
Neben der Abrüstungsfrage setzte sich Baade auch mit den Entwicklungspotentialen von kapitalistischen und sozialistischen Wirtschaftssystemen auseinander: So prognostizierte in seinem Buch, dass im Jahr 2000 wahrscheinlich vier Fünftel der Weltbevölkerung unter sozialistischen Bedingungen leben würden. Diese Voraussage mag heute irritieren, sie signalisierte aber den unter dem "Sputnik-Schock" stehenden westlichen Industriegesellschaften die Notwendigkeit, sich umfassend zu modernisieren und sich den gestiegenen technischen Möglichkeiten strukturell anzupassen. Baade plädierte dafür, auf wissenschaftlicher Grundlage strategische Planungen für einen notwendigen Modernisierungsschub einzuleiten. Während in den sozialistischen Staaten die Pläne immer langfristiger angelegt würden, blieben sie im Westen dort, wo es sie gebe, lediglich folgenlose Denkmodelle. So würde der Westen den Wettlauf mit dem Osten verlieren.
Diesem Denkansatz folgend, wurde Baades Nachfolger als IfW-Präsident, Herbert Giersch, dann 1966 gemeinsam mit Karl Schiller (SPD) Geburtshelfer der "Konzertierten Aktion", dem Versuch einer planmäßigen Abstimmung von Geld-, Fiskal- und Lohnpolitik zwischen den "Sozialpartnern".
Die Snower-Jahre: "Global Economic Symposium"
Im Oktober 2004 übernahm Dennis Snower die Präsidentschaft des IfW. Aus Anlass des 100jährigen Bestehens des IfW erläuterte Snowden ganzseitig in der FAZ (14.2.2014) unter der blumigen Überschrift "Wirtschaft, Wissenschaft und Wohlbefinden" seine Philosophie: "Anfangs galt das Augenmerk der Nachfrage, dann dem Angebot, heute richtet sich der Blick auf die Verteilung von Wohlstand und Gerechtigkeitsfragen." Insbesondere letzteres treibe ihn um: So gebe es nach Snowden gesellschaftlich unakzeptables Marktversagen und problematische Ungleichheiten - die Kluft zwischen Armen und Reichen - "die weder private noch staatliche Entscheidungsträger von sich aus im notwendigen Umfang beseitigen. Dieses zweifache Versagen könnte uns die Hoffnung nehmen, die wichtigsten globalen Probleme jemals in den Griff zu bekommen." Diesem pessimistischen Umstand entgegen zu wirken gelte das Wirken des IfW.
"Wie in der Vergangenheit, so entwickelt sich das Institut für Weltwirtschaft auch heute im Einklang mit den neuesten Einsichten der Wirtschaftswissenschaften und verwandten Disziplinen. Wie ein Mediziner, der gesundheitsfördernde Verhaltensweisen empfiehlt, sieht es sich in der Pflicht, Gemeinwohl fördernde Empfehlungen an Regierungen, Wirtschaft und die Gesellschaft zu geben." Das IfW also als Arzt am Krankenbett des globalen Kapitalismus.
Zentrales Forum des politischen und wissenschaftlichen Austausches sollte das 2008 ins Leben gerufene "Global Economic Symposium (GES)" sein, das jährlich alternierend zwischen Deutschland und dem Ausland stattfand. Die Austragungsorte des GES waren neben Kiel, Plön, Istanbul, Rio de Janeiro und Kuala Lumpur. Dennis Snower hatte dabei keinen geringeren Anspruch, als eine internationale Elite aus Wirtschaft, Politik und Wissenschaft zusammenzubringen, um gemeinsam Lösungen zu finden für die großen Probleme der Welt.
Anfangs schien es, als würde die Reise in Richtung eines zweiten Davos gehen. Im Laufe der Zeit sank allerdings die Anziehungskraft das GES deutlich. Aus dem mehrtägigen Treffen von mehr als 400 renommierten Funktionsträgern, Experten und Führungskräften wurde beim letztmaligen GES 2019 eine eintägige Wirtschaftskonferenz mit 150 Teilnehmern, eingebunden in das Programm der Digitalen Woche Kiel.
"In zehn Jahren GES hat sich ein Graben aufgetan" schrieb die KN am 28.5.18: "Auf der einen Seite: das hochkarätig besetzte GES, dessen wissenschaftliche Strahlkraft und der Anspruch seiner Macher, auf höchstem wissenschaftlichen Niveau Lösungen für die Probleme dieser Welt zu entwickeln. Auf der anderen Seite: die Unternehmer vor Ort, die sich fragen, was Vorträge vom Kaliber "Financial Regulatory Frameworks: Current Reforms and Future Challenges" wohl mit ihren Alltag zu tun haben mögen."
Wer kommt? - Was soll der Markenkern des IfW sein?
Am IfW beginnt nun die Suche nach einem neuen Präsidenten. Zu Beginn der Pandemie schien es fast so, als hätte das Corona-Virus die Wirtschaftspolitik insofern verändert, als dass die haushaltspolitische Monstranz der "schwarzen Null" in Frage gestellt worden war. Stattdessen wurden milliardenschwere Investitions- und Hilfsprogramme beschlossen und praktisch unbegrenzt neue Kredite dafür aufgenommen. Plötzlich ging vieles, was vorher völlig undenkbar war. Doch steht zu erwarten, dass im kommenden Bundestagswahlkampf die Schuldentilgung und die Frage "Wer soll das bezahlen? Versinken wir und die zukünftige Generation in einem Meer von Schulden?" zu einer grundlegenden wirtschafts- und sozialpolitischen Debatte führen wird. Und da werden Wirtschaftsforscher sicher ein gewichtiges Wort einbringen wollen.
Das Münchener "Institut für sozial-ökologische Wirtschaftsforschung (isw)" hat dazu festgestellt: "Die ständige Behauptung, die Coronahilfen kämen ′uns’ irgendwann furchtbar teuer zu stehen und das ökonomische Hauptproblem unserer Zeit seien explodierende Schulden, ist meistens Propaganda von Leuten, die unbeirrbar längst widerlegten Geldtheorien anhängen, den Staat schwächen und die Länder Europas völlig den Kapitalmärkten unterwerfen wollen. Die Coronahilfen sind durch die EZB finanzierbar, die weitverbreitete Schuldenfurcht ist unangebracht. Die gegenwärtige Geld- und Finanzpolitik ist nicht problemfrei, sicher ist aber eins: Viel mehr als die Verschuldung selbst wäre eine Rückkehr zur Sparpolitik das eigentliche Problem – wenn also eine neoliberale Wirtschaftspolitik erneut den Abbau von Schulden erzwingen würde, die gar nicht abgebaut werden müssen und die auch nicht abgebaut werden dürfen, weil weder die Staaten noch die europäischen Volkswirtschaften neue Sparprogramme vertragen können."[6]
Diesem Ansatz diamentral entgegen steht die eingangs dieses Artikels erwähnte Aussage des IfW, wonach "ein abermaliges Aussetzen der Schuldenbremse ökonomisch nicht zu begründen ist. Die nächste Bundesregierung steht somit von Beginn an unter Konsolidierungsdruck."
Die zukünftige neue Leitung des IfW wird sich für eine dieser konträren Positionen entscheiden müssen. Ich befürchte, dass der Markenkern des Kieler Instituts weiterhin eher das "ordo-liberale" sein soll, selbst wenn die finanzielle Ausstattung des Instituts dann von einer rosarot-grün-gelben Bundesregierung erfolgt.
Anmerkungen
[1] IfW-Konjunkturprognose 18.3.21. https://www.ifw-kiel.de/de/publikationen/medieninformation
[2] Köster, Roman (2011): Die Wissenschaft der Außenseiter. Die Krise der Nationalökonomie in der Weimarer Republik. Göttingen, S. 46
[3] vgl. hierzu: Herrmann, Thomas (2014):100 Jahre Institut für Weltwirtschaft: Die fabelhaften Jahre. Gegenwind 305; Siegfried, Detlef (2004): Das radikale Milieu. Kieler Novemberrevolution. Sozialwissenschaft und Linksradikalismus 1917 - 1922. Wiesbaden).
[4] Take, Gunnar (2019): Forschen für den Wirtschaftskrieg. Das Kieler Institut für Weltwirtschaft im Nationalsozialismus.. Berlin/Boston, De Gruyter
[5] Baade, Fritz (1960): Der Wettlauf zum Jahre 2000. Unsere Zukunft: Ein Paradies oder die Selbstvernichtung der Menschheit, Hamburg
[6] Roland Charles Pauli, Corona-Hilfen – Wer soll das bezahlen?, isw 05.12.2020